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Fraktionale Statistiken und Topologie

In einer zweidimensionalen Welt gibt es Elementarteilchen mit exotischen Eigenschaften. Das Merkwürdige ist: Sie kommen in der Realität vor. Mit ihnen läßt sich der gebrochene Quanten-Hall-Effekt erklären, dessen Entdeckung mit dem Physiknobelpreis 1998 aus-gezeichnet wurde. Neuerdings ergeben sich interessante Verbindungen zur Topologie.


Den Elementarteilchen-Zoo unserer räumlichen Welt bevölkern nur zwei Großfamilien: die Bosonen und die Fermionen. In einem flächenhaften Universum wäre das anders: Unter den Partikeln in zwei Dimensionen tummeln sich viele weitere Teilchensorten. Sie zeigen sowohl bosonische als auch fermionische Eigenschaften; man nennt sie Anyonen ("Beliebigteilchen"). Natürlich existieren sie nicht wirklich, denn wir leben nicht in einer Fläche, sondern in drei Raumdimensionen. Aber manchmal verhalten sich physikalische Systeme so, als bestünden sie aus solchen Partikeln. Doch was sind Anyonen? Und warum gibt es in zwei Dimensionen mehr Teilchenarten als im dreidimensionalen Raum?

Die Natur verhält sich in mikroskopischen Größenordnungen anders, als wir es gewohnt sind. Sie gehorcht den Gesetzen der Quantenmechanik. Diese Theorie wurde Mitte der zwanziger Jahre entwickelt, um die Dynamik der Elementarteilchen zu erklären. Seither haben sich ihre Vorhersagen in zahlreichen Experimenten bestätigt. Zu den bekanntesten gehört der Doppelspalt-Versuch. Er belegt den Welle-Teilchen-Dualismus, ein typisch quantenmechanisches Phänomen: Obwohl Elektronen kleine Materiepartikel sind, zeigen sie in diesem Experiment Wellencharakter.

Zwischen einer Elektronenquelle und einem Leuchtschirm wird eine Blende mit zwei senkrechten Schlitzen aufgestellt. Als Teilchen müßten die Elektronen geradlinig von der Quelle durch einen der beiden Spalte zum Schirm fliegen und dort zwei helle Striche erzeugen. Statt dessen erscheint ein Muster aus Streifen verschiedener Helligkeit (Bild unten). Das ist nur zu erklären, wenn man die Elektronen als Wellen beschreibt, die sich überlagern und dabei gegenseitig verstärken oder auslöschen, wie Wasserwellen auf einem Teich. Verstärkung sorgt für helle, Auslöschung für dunkle Streifen auf dem Schirm.


Quantenmechanik nach Schrödinger und Feynman


Sind Elektronen nun Teilchen oder Wellen? Die Frage ist unauflösbar, weil jede Messung das beobachtete System beeinflußt. In der klassischen Physik kann man diesen Effekt meist vernachlässigen; in der Quantenmechanik dagegen spielt er eine zentrale Rolle. Probieren wir, beim Doppelspalt-Versuch der Flugbahn eines Elektrons zu folgen. Selbst wenn unsere Augen scharf genug wären, würden wir scheitern. Denn wir müssen das Elektron beleuchten, um es sehen zu können. Der Aufprall des Lichtstrahls wirft den Winzling jedoch sofort aus jener Bahn, die wir eigentlich beobachten wollten. Zu sagen, das Elektron sei entlang einer bestimmten Bahn geflogen, macht also in der Quantenmechanik keinen Sinn. Möglich sind allenfalls Aussagen wie "Achtzig Prozent der Elektronen nehmen diesen Weg." Oder korrekter formuliert: "Die Wahrscheinlichkeit dieser Flugbahn beträgt 0,8."

Nach der in den zwanziger Jahren entstandenen Quantenmechanik wird das Elektron durch eine Wellenfunktion beschrieben. Sie ordnet jedem Raumpunkt eine Wahrscheinlichkeitsamplitude zu, das heißt eine komplexe Zahl, deren Betragsquadrat die Wahrscheinlichkeit dafür angibt, das Elektron bei einer Ortsmessung an diesem Punkt nachzuweisen. (Eine komplexe Zahl besteht aus zwei reellen Zahlen, einem Real- und einem Imaginärteil. Die reellen Zahlen kann man als komplexe Zahlen mit Imaginärteil 0 auffassen.)

Die Bewegungsgleichungen der klassischen Mechanik beschreiben, wie sich die Aufenthaltsorte und Geschwindigkeiten der betrachteten Objekte mit der Zeit verändern. In der Quantenmechanik ist es die Wellenfunktion, die mit der Zeit variiert. Sie gehorcht der Schrödinger-Gleichung. Diese Grundgleichung der sogenannten Wellenmechanik wurde erstmals von Erwin Schrödinger (1887 bis 1961) aufgestellt.

Ein jüngeres Modell der Quantenmechanik geht auf den amerikanischen Physiker Richard Feynman (1918 bis 1988) zurück. Es steht nicht im Widerspruch zu den frühen Formulierungen der Quantenmechanik, liefert jedoch eine neue, weiterreichende Sichtweise.

Angenommen, die Blende im Doppelspalt-Experiment habe nicht zwei, sondern N Schlitze. Dann können die Elektronen auf N verschiedenen Wegen von der Quelle zu einem bestimmten Punkt auf dem Schirm fliegen. Feynman weist nun nicht, wie Schrödinger, jedem Ort, sondern jedem der denkbaren Wege eine Wahrscheinlichkeitsamplitude zu, einen sogenannten Gewichtungsfaktor. Um auszurechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Elektron an einem Punkt auf dem Schirm eintreffen wird, muß man in gewissem Sinne die Beiträge aller N Bahnen aufaddieren, die dort enden. Aus dem Betragsquadrat der Summe ergibt sich die gesuchte Auftreffwahrscheinlichkeit.

Wenn wir die Blende ganz herausnehmen, eröffnen sich dem Elektron unendlich viele Wege. Sie liegen dicht an dicht; mathematisch gesprochen bilden sie ein Kontinuum. Diese Situation ist typisch für die Feynmansche Quantenmechanik. Das Rechnen mit kontinuierlich vielen Bahnen ist aufwendiger als mit N Wegen. Zum Beispiel werden Summen zu Integralen. Trotzdem bleibt die Idee dieselbe. Aber wie werden die Gewichtungsfaktoren ermittelt?

Schon im 19. Jahrhundert erkannte der irische Physiker Sir William R. Hamilton (1805 bis 1865) das Prinzip der kleinsten Wirkung. Es bestimmt in der klassischen Mechanik die Flugbahn eines Teilchens. Die Wirkung hängt eng mit der Energie des Teilchens zusammen, genauer gesagt, mit der Differenz zwischen dessen kinetischer und potentieller Energie. Integriert man diese entlang einer Bahn (das bedeutet, man summiert ihre Werte auf mathematisch sinnvolle Weise), so erhält man eine Zahl: das Wirkungsintegral oder kürzer die Wirkung dieser Bahn. Nach dem Hamiltonschen Prinzip ist die tatsächliche Flugbahn diejenige mit der kleinsten Wirkung (Bild oben). Anschaulich gesprochen fliegt das Teilchen so, daß seine Energie sich möglichst gleichmäßig zwischen kinetischer und potentieller Energie verteilt. Und zwar nicht in jedem Augenblick, sondern im Durchschnitt – daher das Integral.

Feynman hat das klassische Prinzip der kleinsten Wirkung auf die Quantenmechanik übertragen. Die Gewichtungsfaktoren der Wege sind durch deren Wirkung festgelegt. Doch der Zusammenhang ist komplizierter. Die Flugbahn mit der kleinsten Wirkung ist nur noch die wahrscheinlichste, aber nicht mehr die einzig mögliche.





Der Elektronen-Spin


Eine wichtige Eigenschaft des Elektrons blieb in der Frühzeit der Quantenmechanik unberücksichtigt, denn sie wurde erst später entdeckt: der sogenannte Spin, der das Elektron für Magnetfelder empfindlich macht. Erste Hinweise auf seine Existenz gab ein Experiment, das die Physiker Otto Stern (1888 bis 1969) und Walther Gerlach (1889 bis 1979) im Jahre 1922 durchführten. Ein Strahl elektrisch neutraler Silberatome durchquert auf seinem Weg zu einem Leuchtschirm ein inhomogenes, also nicht überall gleich starkes, Magnetfeld. Dadurch teilt er sich in zwei Hälften, die jeweils einen hellen Fleck erzeugen.

Diese Aufspaltung konnte erst 1925 erklärt werden. Dazu nahmen die theoretischen Physiker George E. Uhlenbeck (1900 bis 1988) und Samuel A. Goudsmith (1902 bis 1978) an, das Elektron verfüge über einen inneren Drehimpuls – eben den Spin. Er ähnelt einem kleinen Stabmagneten mit Nord- und Südpol, gehorcht aber den Gesetzen der Quantenmechanik. In einem Magnetfeld bleiben ihm deshalb genau zwei Möglichkeiten: Er kann sich parallel oder antiparallel dazu ausrichten.

Atome bestehen aus einem Kern und einer bestimmten Anzahl von Elektronen, die vereinfacht gesagt in verschiedenen Abständen um den Kern kreisen. Für den Stern-Gerlach-Effekt ist das äußerste Elektron des Silberatoms verantwortlich. Je nachdem, wie sich sein Spin im Magnetfeld einstellt, erfährt das Atom eine Kraft nach oben oder unten. Deshalb teilt sich der Strahl in zwei Hälften.

Quantenmechanische Teilchen sind gleicher als gleich. Betrachten wir beispielsweise zwei Elektronen. Sie sind gleich schwer, gleich groß, tragen die gleiche Ladung und unterscheiden sich auch sonst durch keine meßbare Eigenschaft – genau wie zwei makellos weiße Billardkugeln. Aber letztere kann man unterschiedlich bemalen, um sie nicht zu verwechseln. Das ist bei Elektronen unmöglich. Wir können ja nicht einmal ihren Aufenthaltsort exakt bestimmen, denn das verbieten die Gesetze der Quantentheorie. Wie sollten wir sie da markieren? Die Physiker sprechen in einem solchen Fall von ununterscheidbaren oder identischen Teilchen. Ihre Ununterscheidbarkeit wirkt sich gravierend auf das Verhalten von Mehrteilchensystemen aus.

Nehmen wir an, eine gemeinsame Wellenfunktion beschreibe ein System aus zwei identischen Partikeln. Tauscht man die beiden gegeneinander aus, so unterscheidet sich die neue Situation nicht meßbar von der ursprünglichen. Das bedeutet: Die Wahrscheinlichkeit dafür, die Teilchen bei einer Ortsmessung an zwei bestimmten Punkten anzutreffen, ist nach wie vor dieselbe. Folglich hat sich das Betragsquadrat der Wellenfunktion nicht geändert. Diese wird also beim Vertauschen nur mit einem Phasenfaktor multipliziert, das heißt mit einer komplexen Zahl vom Betrag 1. Der Faktor heißt auch Austauschphase.

Wiederholt man die Austauschaktion, sitzt wieder jedes an seiner ursprünglichen Position. Folglich muß auch die Wellenfunktion dieselbe sein wie zu Beginn. Sie wurde aber zweimal mit derselben Austauschphase multipliziert. Damit kein Widerspruch entsteht, muß deren Quadrat gleich 1 sein. Da dieser Bedingung nur die Zahlen 1 und -1 genügen, muß die Austauschphase einen dieser beiden Werte annehmen.

Wellenfunktionen, die beim Teilchentausch mit 1 multipliziert werden, sich also gar nicht ändern, heißen symmetrisch. Solche, die durch Multiplikation mit -1 das Vorzeichen wechseln, nennt man antisymmetrisch. Welcher der beiden Fälle eintritt, hängt davon ab, aus was für Teilchen das System besteht. Nach dem Symmetrieverhalten ihrer Wellenfunktion teilt man die Elementarpartikel in zwei Gruppen: in Bosonen und Fermionen. Erstere werden durch symmetrische, letztere durch antisymmetrische Wellenfunktionen beschrieben. Zu den Fermionen gehören beispielsweise die Elektronen.

Die Symmetrieeigenschaften der Wellenfunktion hängen mit dem Spin der Elementarteilchen zusammen. Alle Bosonen haben einen ganzzahligen Spin (0, 1, 2, ...). Der Fermionen-Spin dagegen kann nur halbzahlige Werte annehmen (1/2, 3/2, ...). Elektronen sind Fermionen mit Spin 1/2.

Die beiden Teilchenfamilien verhalten sich unterschiedlich. Für Fermionen gilt das Pauli-Prinzip. Es wurde von Wolfgang Pauli (1900 bis 1958) erkannt und verbietet, daß zwei Fermionen vom gleichen Typ zur selben Zeit am selben Ort sind. Denn in diesem Fall müßte die Wellenfunktion beim Austausch der beiden unverändert bleiben. Zugleich wechselt sie aber das Vorzeichen, weil fermionische Wellenfunktionen antisymmetrisch sind; also muß sie den Wert null haben. Mehrfach besetzte Zustände haben also die Wahrscheinlichkeit null in der Statistik, die das Verhalten der Fermionen beschreibt. Sie heißt Fermi-Dirac-Statistik nach Enrico Fermi (1901 bis 1954) und Paul A. M. Dirac (1902 bis 1984).

Die für Bosonen zuständige Statistik heißt Bose-Einstein-Statistik nach Satyendra N. Bose (1894 bis 1974) und Albert Einstein (1879 bis 1955). Bosonen können sich in großer Zahl im selben Zustand versammeln; unter gewissen Bedingungen bilden sie dann ein sogenanntes Bose-Einstein-Kondensat (siehe "Die Bose-Einstein-Kondensation" von Eric A. Cornell und Carl E. Wieman, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1998, S. 44).





Anyonen


Bisher haben wir Teilchen im dreidimensionalen Raum untersucht. Was geschieht in Räumen mit einer anderen Zahl von Dimensionen? Entstehen dort neue Statistiken? Gibt es dort Teilchen, deren Spin weder ganz- noch halbzahlig ist? Es zeigt sich, daß in mehr als drei Dimensionen keine neuen Formen auftreten. Aber wenn man den Raum auf eine Fläche reduziert, wird es spannend.

Betrachten wir zwei identische Fermionen, die sich in einer Fläche bewegen. Wegen des Pauli-Prinzips dürfen sie sich nicht gleichzeitig am selben Ort aufhalten. Entscheidend für unsere Überlegungen in drei Dimensionen war, daß die Wellenfunktion nach zweimaligem Vertauschen der Teilchen wieder ihre ursprüngliche Form annimmt. Exakter ausgedrückt: Jede Bewegung der Partikel, die bewirkt, daß sie zweimal ihre Plätze tauschen, muß äquivalent sein zur trivialen Bewegung, bei der sie sich gar nicht vom Fleck rühren. Äquivalent heißt hier, daß die Bahnen dieser Bewegungen in der Raumzeit stetig ineinander überführt werden können. Genau an dieser Stelle entsteht in zwei Dimensionen ein Problem. Denn dort gibt es Raumzeit-Kurven, die einen zweifachen Tausch beschreiben, sich aber unweigerlich überkreuzen, wenn man sie in die triviale Bewegung überführen will (Kasten links). Das darf nicht geschehen. Denn im Augenblick der Überkreuzung befänden sich beide Teilchen gleichzeitig am selben Ort, im Widerspruch zum Pauli-Prinzip.

Wenn der doppelte Teilchentausch nicht äquivalent zur trivialen Bewegung ist, darf sich sein Ergebnis von der Ausgangssituation unterscheiden. Das heißt, in zwei Dimensionen kann sich die Wellenfunktion beim zweimaligen Auswechseln der Partikel ändern. Nur ihr Betrag muß erhalten bleiben. Damit kommt jede der unendlich vielen komplexen Zahlen vom Betrag 1 als Austauschphase in Frage. Denn anders als im dreidimensionalen Fall muß deren Quadrat nicht gleich 1 sein.

Wie wir wissen, gehören zur Austauschphase 1 die symmetrischen Wellenfunktionen der Bosonen. Der Faktor -1 beschreibt das antisymmetrische Verhalten fermionischer Wellenfunktionen. Zu den anderen Austauschphasen gehören neue Teilchensorten. Insgesamt bezeichnet man die Partikel der zweidimensionalen Welt als Anyonen. Jeder Anyonentyp wird durch seine Austauschphase charakterisiert. Zweidimensionale Bosonen und Fermionen sind also spezielle Anyonen mit den Austauschphasen 1 und -1.

Der Anyonen-Spin muß nicht ganz- oder halbzahlig sein. Er kann auch gebrochene Werte annehmen, wie zum Beispiel 1/3 oder 5/8. Die neuartigen Teilchen gehorchen eigenen statistischen Regeln – den fraktionalen Statistiken (fraction heißt Bruch). Als eine Art Zwitterwesen zeigen sie bosonische und fermionische Eigenschaften.

Einerseits befolgen sie wie die Fermionen das Pauli-Prinzip. Andererseits spüren sie wie die Bosonen sogenannte Kontakt-Wechselwirkungen. In der Regel hängt die Kraft zwischen zwei Partikeln von deren Abstand ab. Sie wird schwächer, wenn sich die Teilchen voneinander entfernen. Die zu einer Kontakt-Wechselwirkung gehörige Kraft ist nur spürbar, solange die Partikel sich berühren. Sobald ein kleiner Zwischenraum entsteht, verschwindet die Kraft. Solche Kräfte sind typisch für Bosonen. Sie bewirken deren Neigung, sich zuhauf im selben Zustand anzusammeln. Auch die Zwitter-Anyonen spüren Kontakt-Wechselwirkungen, obwohl sie dem Pauli-Prinzip gehorchen und daher niemals denselben Zustand einnehmen. Allerdings ist die Reichweite der Kraft nur bei den Bosonen exakt gleich null. Bei den Zwitter-Anyonen ist sie nur extrem klein.





Nichttriviale Topologien




Neue Einsichten über die Anyonen und ihre fraktionalen Statistiken ergeben sich aus einer Querverbindung zur Topologie. Dieses Teilgebiet der Mathematik befaßt sich unter anderem mit dem Begriff der Stetigkeit. Zwei Verbindungskurven zwischen zwei Punkten heißen topologisch äquivalent oder homotop, wenn man die eine durch eine stetige Verformung, das heißt ohne Durchschneiden, in die andere überführen kann (Kasten rechts oben, a). Im gewöhnlichen zwei- oder dreidimensionalen Raum sind alle Kurven, die zwei Punkte verbinden, homotop. Deshalb nennt man solche Flächen und Räume topologisch trivial.

Dagegen ist eine Fläche topologisch nichttrivial, wenn sich in ihrer Mitte ein Loch befindet (b). Wir betrachten der Einfachheit halber nur Schlingen, das heißt geschlossene Kurven mit gleichem Anfangs- und Endpunkt. Um eine solche, die das Loch umschließt, mit einer anderen zur Deckung zu bringen, die ganz außerhalb verläuft, müssen wir sie aufschneiden, weil wir sie anders nicht über das Loch hinweg ziehen können. Die beiden Kurven sind also nicht homotop. In der gelochten Fläche sind Schlingen topologisch äquivalent, wenn sie sich gleich oft um das Loch winden.

Man teilt die Kurven nach der topologischen Äquivalenz in Homotopieklassen ein. In der Homotopieklasse mit der Windungszahl 0 sind alle geschlossenen Kurven, die ganz außerhalb des Lochs verlaufen. Folgt man einer Schlinge so lange, bis man wieder am Ausgangspunkt ankommt, und umrundet das Loch dabei ein-, zwei- oder allgemein n-mal, so gehört sie zur Homotopieklasse mit der Windungszahl 1, 2 beziehungsweise n. Auf ähnliche Weise lassen sich auch Kurven klassifizieren, die zwei verschiedene Punkte verbinden.

Für die klassische Physik haben solche mathematischen Betrachtungen keine Bedeutung. Denn aufgrund des Hamiltonschen Prinzips gibt es zwischen zwei Punkten im allgemeinen nur einen Verbindungsweg. Dagegen tragen in Feynmans Formulierung der Quantenmechanik viele Wege zum Ergebnis einer Messung bei. Sie liegen normalerweise dicht an dicht und können durch kleine stetige Verformungen ineinander überführt werden. Aber was passiert, wenn sich ein Versuch in einem topologisch nichttrivialen Raum abspielt? Möglicherweise gehören dann nicht alle relevanten Bahnen zur selben Homotopieklasse.

Was hat nun die Topologie mit den Gewichtungsfaktoren zu tun?

In Feynmans Modell der Quantentheorie werden Summen über viele Wege berechnet. Die Gewichtungsfaktoren der Wege bestimmen deren Beitrag zur Summe. Betrachten wir noch einmal die topologisch nichttriviale Fläche mit Loch. Summen über ein Kontinuum homotoper Kurven können mit den Feynmanschen Gewichtungsfaktoren berechnet werden, genau wie beim Kontinuum der möglichen Wege von der Elektronenquelle zum Schirm im Doppelspalt-Versuch ohne Blende.

Schwierig wird es, wenn Wege aus unterschiedlichen Homotopieklassen zur Summe beitragen. Dann sind nämlich jedem Weg zwei Gewichtungsfaktoren zuzuweisen. Der erste ist der Feynmansche und mißt das Gewicht des Weges gegenüber den anderen Mitgliedern seiner Homotopieklasse. Der zweite ist für alle Wege innerhalb derselben Klasse gleich. Er gewichtet die Klassen als Ganzes gegeneinander.

Diese neuen Faktoren müssen zwei Prinzipien erfüllen. Das erste folgt aus einer Eigenschaft der Feynmanschen Gewichtungsfaktoren: Angenommen, eine Bahn wird in zwei Abschnitte zerlegt, die das Teilchen nacheinander durchfliegt. Dann gehört zu jedem Wegstück ein eigener Gewichtungsfaktor. Das Produkt der beiden ergibt die Gewichtung der gesamten Bahn. Dabei spielt es keine Rolle, an welcher Stelle die Kurve geteilt wird.

Stellen wir uns nun zwei Schlingen mit drei beziehungsweise fünf Windungen vor, die beide im selben Punkt beginnen und enden. Ein Elektron, das nacheinander beide Schlingen durchfliegt, umrundet das Loch insgesamt achtmal. Um das Prinzip zu erfüllen, muß das Produkt der Gewichtungen der Homotopieklassen mit den Windungszahlen 3 und 5 gleich dem Gewichtungsfaktor der Klasse zur Windungszahl 8 sein. Dasselbe muß für jede Kombination von Windungszahlen funktionieren: Multipliziert man die Gewichte der Klassen mit den Windungszahlen n und m, so muß sich der Gewichtungsfaktor der Klasse mit der Windungszahl n+m ergeben.

Das zweite Prinzip ist die Erhaltung der Wahrscheinlichkeit: Das Elektron trifft mit der Wahrscheinlichkeit 1 an irgendeiner Stelle des Schirms ein. Deshalb muß die Summe aller Auftreffwahrscheinlichkeiten an den verschiedenen Punkten des Schirms gleich 1 sein. (Genaugenommen handelt es sich auch hier um ein Integral.) Zu dieser Summe tragen alle Wege von der Quelle zum Schirm bei. Darunter können solche sein, die zu verschiedenen Homotopieklassen gehören. Im ersten Schritt werden nur homotope Wege addiert, in jeder Klasse für sich. Im zweiten Schritt wird die Summe über alle Klassen gebildet. Dabei kommen die neuen Gewichtungsfaktoren ins Spiel. Es zeigt sich, daß es sich um reine Phasenfaktoren handelt, also komplexe Zahlen vom Betrag 1.

Der ganze gedankliche Aufwand ist nur für topologisch nichttriviale Räume erforderlich. Diese ihrerseits sind keineswegs eine rein akademische Erfindung. Das zeigt zum Beispiel ein Effekt, der 1959 von David Bohm (1917 bis 1992) und dem heutigen Emeritus der Universität Boston, Yakir Aharonov, vorhergesagt und kurze Zeit später im Experiment bestätigt wurde: Ein Elektronenstrahl wird geteilt und auf beiden Seiten an einer sehr langen (näherungsweise unendlich langen) Spule vorbei geführt. Die Spulenachse steht senkrecht auf der Ausbreitungsebene der Elektronen. Dahinter überlagern sich die Teilstrahlen auf einem Leuchtschirm. Sie erzeugen ein Streifenmuster, das sich verschiebt, wenn ein Strom durch die Spule fließt (siehe "Knoten in der Physik", Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1998, S. 66). Für diesen Effekt ist das Magnetfeld verantwortlich, welches der Strom im Inneren der Spule erzeugt. Es reißt gewissermaßen ein unendlich langes, stabförmiges Loch in das feldfreie Raumgebiet: Das Magnetfeld verschwindet nur noch außerhalb der Spule. Der feldfreie Außenraum ist topologisch nichttrivial. Geschlossene Schleifen um das Loch und solche, die ganz außerhalb verlaufen, lassen sich nicht ohne Aufschneiden ineinander überführen (Kasten unten). Topologisch nichttriviale Räume existieren also wirklich. Aber was haben sie mit den Anyonen zu tun?

Bisher haben wir zwei Teilchen mit den Augen eines außenstehenden Beobachters verfolgt. Jetzt versetzen wir uns in die Perspektive des ersten Teilchens. Wir gehen also zu einem Koordinatensystem über, in dem das erste Teilchen im Ursprung ruht.

Angenommen, die Partikel seien dem Pauli-Prinzip unterworfen. Das zweite Teilchen darf also überall hinfliegen, außer durch den Nullpunkt; denn da sitzt ja das erste. Damit bewegt sich das zweite Teilchen in einer topologisch nichttrivialen Fläche mit Loch. Diese Überlegung gilt allgemein: Werden zwei Teilchen, die dem Pauli-Prinzip gehorchen, gezwungen, sich innerhalb einer Fläche zu bewegen, entsteht automatisch eine Relativbewegung, die in einer topologisch nichttrivialen Fläche abläuft.

Die Zahl der Umläufe des zweiten Teilchens um das erste bestimmt, zu welcher Homotopieklasse ihre gemeinsame Flugbahn gehört. Diese Windungszahl ist gleich 1 für einen zweimaligen Austausch (mit jeweils gleichem Drehsinn). Denn dazu muß das zweite Teilchen genau einmal um das erste herumlaufen. Andererseits wird dabei die gemeinsame Wellenfunktion zweimal mit der Austauschphase multipliziert, das heißt mit deren Quadrat.

Hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen der Topologie und den fraktionalen Statistiken: Der Gewichtungsfaktor der Homotopieklasse zur Windungszahl 1 stimmt mit dem Quadrat der Austauschphase überein. Für höhere Windungszahlen gilt eine analoge Beziehung.





Wo Anyonen entstehen


Die topologische Sichtweise erklärt zwei bemerkenswerte Eigenschaften der Anyonen: Sofern sie weder Bosonen noch Fermionen sind, verletzen sie zwei Grundprinzipien der Physik: die Paritätserhaltung und die Invarianz unter Zeitumkehr. Experimentell findet sich diese Verletzung in speziellen Elementarteilchenreaktionen, die der schwachen Wechselwirkung unterliegen (Spektrum der Wissenschaft, April 1999, S. 14).

Die Paritätsabbildung ist eine Spiegelung. Betrachten wir die Flugbahn eines Anyons in einem Spiegel, so ändert sich deren Umlaufsinn: Rechts herum erscheint wie links herum. Aus der Windungszahl n wird -. Folglich gehören die Flugbahn und ihr Spiegelbild zu verschiedenen Homotopieklassen mit unterschiedlichen Gewichtungsfaktoren. Wie wir wissen, unterscheiden sich damit auch die Austauschphasen des realen und des gespiegelten Anyons: Sie sind zueinander konjugiert komplex. Das bedeutet: Unter der Paritätsabbildung ändert sich der Anyonentyp.

Dasselbe geschieht, wenn die Zeitrichtung umgekehrt wird. Angenommen, wir filmen ein Anyon, während es eine Schleife rechts herum durchfliegt. Spulen wir den Film rückwärts ab, fliegt es auf der Leinwand links herum. Die Zeitumkehr ändert also genau wie die Paritätsabbildung den Umlaufsinn der Flugbahn – und damit letztlich den Typ des Anyons.

Für Bosonen und Fermionen gelten diese Überlegungen nicht. Ihre Austauschphasen bleiben sowohl unter der Paritätsabbildung als auch unter der Zeitumkehr erhalten; denn die reellen Phasen 1 und -1 bleiben von der komplexen Konjugation unbeeinflußt.

Wir haben uns ausführlich mit dem Verhalten der Anyonen befaßt. Aber wo kommen sie überhaupt vor? Betrachten wir zwei Teilchen im dreidimensionalen Raum statt, wie zuvor, in der Fläche und versetzen uns wieder an die Stelle des ersten. Auch diesmal befindet sich im Ursprung des Koordinatensystems ein Loch, in welches das zweite Partikel nicht hinein darf. Aber das macht nichts. Denn der dreidimensionale Raum mit einem punktförmigen Loch ist topologisch genauso trivial wie der gewöhnliche. Man kann jede geschlossene Kurve über das Loch hinweg in jede andere überführen. Also sind alle Schlingen äquivalent. Der Gewichtungsfaktor der einzigen Homotopieklasse ist gleich 1. Damit muß auch das Quadrat der Austauschphase gleich 1 sein und sie selbst gleich 1 oder -1. Wir sind durch eine topologische Überlegung zu einem Ergebnis gelangt, das wir bereits kennen: In drei Dimensionen gibt es normalerweise nur Bosonen und Fermionen.

Aber so schnell geben wir nicht auf. Wir haben uns bereits überlegt, daß ein dreidimensionaler Raum mit einem unendlich langen, zylindrischen Loch topologisch nichttrivial ist. Im Experiment von Aharonov und Bohm entsteht eine solche Situation. Folglich sind nicht mehr alle Schlingen homotop. Die Zahl der Windungen um das Loch unterscheidet die Homotopieklassen. Die zugehörigen Gewichtungsfaktoren hängen von der Stärke des Magnetfelds ab, das dieses Loch erzeugt. Mit den Gewichten beeinflußt das Feld aber auch die Austauschphasen der Elektronen, die um die Spule herum fliegen. Man kann zeigen, daß sich die Elektronen im Aharonov-Bohm-Experiment verhalten wie Anyonen mit einer fraktionalen Statistik. Ihr Anyonentyp läßt sich sogar gezielt verändern, indem man den Strom und damit die Stärke des Magnetfeldes variiert.

Bis zu ihrer Wiederentdeckung zu Beginn der achtziger Jahre durch Frank Wilczek vom Institute for Advanced Study in Princeton (siehe seinen Artikel "Anyonen", Spektrum der Wissenschaft, Juli 1991, S. 54) galten Teilchen, die einer fraktionalen Statistik gehorchen, als rein hypothetische Objekte. Doch 1982 beobachteten Horst L. Störmer, heute an der Columbia-Universität in New York, und Daniel C. Tsui von der Universität Princeton einen Effekt; Robert B. Laughlin (heute an der Stanford-Universität in Kalifornien) konnte ihn ein Jahr später mit Hilfe der Anyonen-Theorie erklären. Für diese Entdeckung des fraktionalen Quanten-Hall-Effekts wurden die drei Physiker 1998 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1998, S. 20).

Im Experiment wird ein stromdurchflossenes Halbleiterbauelement aus zwei verschiedenen Materialien einem starken Magnetfeld ausgesetzt. Ist es stark genug, werden die stromleitenden Elektronen gewissermaßen in der Grenzfläche zwischen den beiden Halbleiterkomponenten eingesperrt. In dieser Situation wächst eine dem elektrischen Widerstand eng verwandte Größe, der sogenannte Hall-Widerstand, nicht mehr proportional zur Feldstärke. Statt dessen verändert er sich in Sprüngen. Die Sprunghöhen sind Vielfache einer Naturkonstante. Tsui und Störmer entdeckten, daß dabei weit mehr Sprunghöhen zulässig sind als im normalen Quanten-Hall-Effekt, den Klaus von Klitzing bereits 1980 nachgewiesen hatte. Laughlin konnte die zusätzlichen Werte des Hall-Widerstands erklären. Dazu nahm er an, daß sich die in der zweidimensionalen Grenzschicht gefangenen Elektronen gewissermaßen in Anyonen verwandeln, die einer fraktionalen Statistik gehorchen. Der Spin und sogar die Ladung dieser Partikel sind ebenfalls fraktional, das heißt nicht-ganzzahlige Vielfache einer kleinsten Einheit.

Auch andere Phänomene könnten mit der Anyonen-Theorie zusammenhängen – zum Beispiel die Supraleitung. Schon seit etwa achtzig Jahren ist bekannt, daß einige Materialien bei sehr tiefen Temperaturen jeglichen elektrischen Widerstand verlieren. Gleichzeitig werden sie für Magnetfelder vollkommen undurchdringbar. In neuerer Zeit wurde dieses Phänomen der sogenannten Supraleitfähigkeit auch bei höheren Temperaturen beobachtet, und zwar in Kristallen mit einer im wesentlichen zweidimensionalen Struktur. Dabei könnten Anyonen mit fraktionaler Statistik eine Rolle spielen. Um dies zu belegen, hat man versucht, in solchen Kristallen eine Verletzung der Parität nachzuweisen, allerdings bisher ohne Erfolg. Aber vielleicht waren die Messungen zu ungenau. Es ist nämlich nicht bekannt, wie groß die Paritätsverletzung sein müßte, wenn wirklich fraktionale Anyonen im Spiel wären.

Wir sollten den Anyonen keinesfalls dieselbe Bedeutung beimessen wie den Bosonen und den Fermionen. Schließlich ist unsere wirkliche Welt dreidimensional und bietet keinen Platz für fraktionale Teilchen. Aber in Ausnahmesituationen schließen sich die Partikel zu Gruppen zusammen. Das geschieht beispielsweise, wenn Elektronen in einer Fläche eingefangen und einem starken Magnetfeld ausgesetzt werden. Sie bilden dann stark wechselwirkende Systeme, die gemeinsam sogenannte kollektive Zustände einnehmen können. Makroskopisch betrachtet kann man diese als Zustände einzelner Teilchen interpretieren. Weil es sich dabei in Wirklichkeit um ein Modell für Gruppen aus mehreren Partikeln handelt, spricht man von Quasiteilchen. Sie können fraktionale Spins und sogar fraktionale Ladungen tragen. Die Anyonen im fraktionalen Quanten-Hall-Effekt sind solche Quasiteilchen. Dasselbe gilt für die Anyonen, von denen sich die Physiker ein besseres Verständnis der Supraleitung erhoffen. Wir haben allen Grund anzunehmen, daß die Theorie der fraktionalen Statistiken auch in Zukunft zum Verständnis komplizierter physikalischer Phänomene beitragen wird.

Literaturhinweise


Topological Quantum Field Theory. Von Edward Witten in: Communications in Mathematical Physics, Bd. 117, S. 353-386 (1988).

Statistics and Anyon Superconductivity. Von Frank Wilczek. World Scientific, Singapur (1990)


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1999, Seite 74
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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