Evolution des Verhaltens: Freigebigkeit lohnt sich
Anderen zu helfen kann sich durch Imagegewinn indirekt bezahlt machen. Das bestätigen nach Computersimulationen nun auch reale Experimente.
Wer gibt, dem wird gegeben". So steht es in der Bibel; allerdings lässt das Bibelwort offen, ob die Belohnung schon auf Erden oder erst im Jenseits erfolgt. Dass sich Geben für den Geber auszahlt, kann man erwarten, wenn "eine Hand die andere wäscht" oder wenn gilt: "Wie du mir, so ich dir". Falls die Hilfe weniger kostet als sie dem Geholfenen bringt, können beide profitieren, sofern sich der Empfänger entsprechend erkenntlich zeigt.
Für solchen reziproken Altruismus gibt es viele Beispiele bei Menschen und Tieren. Unser gesamtes Wirtschaftswesen basiert darauf; denn bei jedem Geschäft gehen beide Parteien davon aus, dass es für sie vorteilhaft ist. Um diese "direkte" Reziprozität zu erleichtern, haben unsere Vorfahren das Geld als leicht abzustufende Gegenleistung erfunden. Kann es sich aber auch lohnen, jemandem zu helfen, von dem keine Gegenleistung zu erwarten ist?
Schon seit Jahrzehnten diskutieren Evolutionsbiologen die Idee, dass selbstlose Hilfe den "Status" einer Person aufwertet und dass ein höherer Status Vertrauen und Vorteile in vielen sozialen Situationen nach sich ziehen kann. Bis vor kurzem gab es allerdings keinen Beweis für diese These. Spieltheoretisch betrachtet, lautet die Kernfrage: Würde sich in der Evolution die Strategie durchsetzen, bevorzugt diejenigen zu unterstützen, die selbst schon anderen geholfen haben?
Im Jahre 1998 konnten Martin Nowak von der Universität Oxford und Karl Sigmund von der Universität Wien zeigen, dass die theoretische Antwort "ja" lautet (Spektrum der Wissenschaft 9/98, S. 30). Mit einem mathematischen Evolutionsmodell und Computersimulationen gelang ihnen der Nachweis, dass sich unter realistischen Bedingungen in einer Population tatsächlich die ererbte Tendenz einbürgern kann, vor allem denjenigen zu geben, die als großzügig bekannt sind.
Evolution der Großzügigkeit im Computer
Nowak und Sigmund simulierten einen Evolutionsverlauf mit beispielsweise hundert Spielern, die Hilfe geben oder empfangen konnten, aber nie auf dasselbe Gegenüber mit vertauschten Rollen trafen – direkte Reziprozität war ausgeschlossen. Generell war die Hilfe für den Empfänger mehr wert, als sie den Geber gekostet hat. Das ist eine plausible Annahme, auch wenn man nicht gleich an die Rettung eines Ertrinkenden denkt, die den Retter nur die Armbewegung kostet, mit der er den Rettungsring wirft.
Die virtuellen Spieler im Computer hatten einen erkennbaren "Geberstatus", der zu Beginn ihres Daseins jeweils "null" betrug. Jede geleistete oder unterlassene Hilfe ließ ihn um einen Punkt steigen oder fallen. Die simulierten Individuen richteten sich bei ihren Entscheidungen nach vererbbaren Helferstrategien, die von –5 bis +6 reichten. Ein Spieler mit einer –5-Strategie hilft jedem, der einen Geberstatus von mindestens –5 hat, also fast allen. Ein Individuum mit einer +6-Strategie unterstützt dagegen nur solche Mitspieler mit einem Geberstatus von mindestens +6, also fast niemanden. Die 0-Strategie unterscheidet am stärksten zwischen Helfern und Verweigerern. Ein solcher Spieler gibt jedem, der mindestens genauso oft Hilfe gewährt wie verweigert hat. Jede Strategie bekam entsprechend ihrem Nettogewinn – dem Wert der erhaltenen Hilfe abzüglich der Kosten durch geleistete Hilfe – Nachkommen in der nächsten Generation.
Auf diese Weise sollte sich in einem "natürlichen" Selektionsprozess schließlich diejenige Helferstrategie durchsetzen, deren Spieler den höchsten Nettogewinn erzielten. Welche wäre es? Nach 150 Generationen bestand die Computerpopulation fast nur noch aus Spielern mit der 0-Strategie, die am klarsten zwischen positivem und negativem Geberstatus unterscheidet. Wenn der Bekanntheitsgrad variiert wurde, war dieses Ergebnis umso ausgeprägter, je genauer der Geberstatus der Empfänger bekannt war. Sofern andere die guten Taten mitbekommen, gilt also wirklich – zumindest im Com-putermodell: Wer gibt, dem wird gegeben. Daraus folgt die Maxime: "Tue Gutes und rede darüber."
Ist das nur graue Theorie, oder verhalten sich Menschen tatsächlich so? Um diese Frage zu testen, führten Claus Wedekind von der Universität Edinburgh und ich ein Experiment mit 80 Studierenden an der Universität Bern durch (Science, Bd. 288, S. 850-852). Jeweils zehn Versuchspersonen saßen für eine Stunde zusammen in einem Raum und wurden einzeln gefragt, ob sie einem zufällig bestimmten anderen Gruppenmitglied einen Franken geben wollen. War die Antwort "ja", wurde ihnen der Franken (in einigen Gruppen auch zwei) vom Konto abgezogen, und der Empfänger erhielt vier Franken, damit Hilfe mehr einbringt, als sie kostet. Jede Person kam insgesamt sechsmal sowohl in der Geber- als auch in der Nehmerrolle an die Reihe.
Geberstatus spielt eine Rolle
Theoretisch konnte jemand, der nie gab, aber immer etwas erhielt, mehr als 30 Franken verdienen. Die Studenten wussten, dass sie nie auf dieselbe Person mit vertauschten Rollen treffen würden – direkte Reziprozität war wie im Computermodell ausgeschlossen. Um auch zu verhindern, dass der tatsächliche persönliche Status der Teilnehmer eine Rolle spielen konnte, erhielten sie Pseudonyme und teilten ihre Entscheidungen über verdeckte Schalter mit. Immer zwei Pseudonamen wurden als potenzieller Geber und Empfänger aufgerufen. Der Geberstatus jedes Mitspielers stand für alle sichtbar unter seinem Pseudonym auf einem großen Protokollblatt an der Tafel und wurde nach jedem Zug aktualisiert.
Alle wussten, dass auch nach dem Spiel und bei der Auszahlung die Anonymität gewahrt bliebe – nicht einmal die Spielleiter kannten die wahre Identität der Spieler. Würden die Studenten unter diesen Umständen überhaupt irgendetwas geben? An sich macht es ja keinen Sinn, jemandem etwas zu spenden, von dem keine Gegenleistung zu erwarten ist; konsequente Verweigerer könnten ihr Startgeld von sieben Franken sicher mit nach Hause nehmen.
Wenn die Spieler aber trotzdem etwas gaben, würden sie ihr Geld dann zufällig über die anonymen Mitspieler verteilen oder in Einklang mit den Ergebnissen der Computersimulation von Nowak und Sigmund diejenigen bevorzugen, die sich ihrerseits freigebig zeigten? Natürlich wurden die Studenten nicht über diese Theorie informiert, sondern nur über die Spielregeln.
Auch ohne Aussicht auf direkte Gegenleistung erwiesen sich die anonymen Spieler als erstaunlich großzügig: Die Spendenbereitschaft schwankte in den acht Gruppen zwischen knapp 50 und über 80 Prozent. Mithin wurde sehr häufig gegeben, aber auch recht oft die Unterstützung verweigert. Das bot gute Voraussetzungen, um feststellen zu können, ob bei der Hilfsbereitschaft der Geberstatus des Empfängers eine Rolle spielt.
Das Resultat war eine klare Bestätigung der Computersimulation. Die Studenten spendeten tatsächlich bereitwilliger, wenn der potenzielle Empfänger einen höheren Geberstatus hatte. Besonders galt das für die Spieler, die mit ihren Franken geizten: Sie gaben nur den großzügigsten Mitspielern etwas.
Allerdings verfolgten die Versuchsteilnehmer über die sechs Runden hinweg nicht so konsequent eine bestimmte Helferstrategie wie ihre virtuellen Pendants. Das Experiment war zu kurz, um individuelle Verhaltenskriterien feststellen zu können. Inwieweit Menschen wirklich konsistente Helferstrategien haben, ließe sich nur in Spielen herausfinden, die über sehr viel mehr Runden laufen. Die Tatsache, dass schon ganz am Anfang, als alle den Geberstatus 0 hatten, häufig gegeben wurde, könnte allerdings bedeuten, dass die von Nowak und Sigmund vorausgesagte 0-Strategie tatsächlich vielfach angewandt wird.
Der finanzielle Erfolg der verschiedenen Spielweisen lässt sich einfach beschreiben: Zwar erhielten die Großzügigen deutlich mehr als die Knauserigen; da sie andererseits auch mehr gaben, war ihr Nettogewinn aber nicht unbedingt sehr viel höher. Vielleicht bringt ein hoher Geberstatus zusätzliche Vorteile wie Vertrauen und Einfluss, die sich nicht direkt in Franken oder Mark bemessen lassen.
Das Evolutionsspiel mit den Berner Studierenden war ein Experiment, das unter künstlichen, streng kontrollierten Bedingungen durchgeführt wurde. Dennoch hatte es einen Bezug zur Wirklichkeit: Es ging um richtiges Geld, das man weggeben oder behalten konnte. Die Teilnehmer des Spiels haben erstmals vorgeführt, dass indirekte Reziprozität, die den Geberstatus des Empfängers berücksichtigt, das Verhalten von Menschen beeinflussen kann. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Anders als die direkte Reziprozität, die auf Zweierbeziehungen beschränkt ist, ermöglicht die indirekte Reziprozität nämlich auch Kooperation in größeren Gruppen. Dabei erfordert sie, den Status aller Gruppenmitglieder ständig zu beobachten und die eigene Reputation zu pflegen. Dazu gehört nicht nur Vorausplanung – auch Täuschung und Manipulation sind möglich und müssen als Risiko von jedem kalkuliert werden. Dies könnte, wie Nowak und Sigmund meinen, eine starke evolutionäre Kraft gewesen sein, die unsere Intelligenz mit-geformt hat.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2001, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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