Gedächtnisspur. Auf der Suche nach der Erinnerung.
Aus dem Amerikanischen
von Hans E. Nieholm.
Klett-Cotta, Stuttgart 1995.
320 Seiten, DM 58,-.
von Hans E. Nieholm.
Klett-Cotta, Stuttgart 1995.
320 Seiten, DM 58,-.
Daniel L. Alkon leitet das Laboratorium für molekulare und zelluläre Neurobiologie am National Institute of Neurological and Communicative Disorders and Stroke in Bethesda (Maryland) und hat sich viele Jahre seines Forscherlebens mit dem Phänomen Erinnerung befaßt. In dem vorliegenden Buch begibt er sich auf die Suche nach Spuren, die sein Leben von Anbeginn an in seinem persönlichen wie beruflichen Umfeld hinterlassen hat.
Bemerkenswert ist, daß er im autobiographischen Teil weder sich noch andere schont. Er bezeichnet sich als workaholic und berichtet, daß er erst bei einem gesundheitlichen Zusammenbruch bemerkte, daß er seine Familie vernachlässigt hatte. Ebenso offen spricht er über Mißstände im Wissenschaftsbetrieb der Universitäten.
Erfahrungen aus seinem persönlichen Leben verknüpft er mit Erkenntnissen aus seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Als Kind mußte er wiederholt miterleben, wie eine Gleichaltrige, die er im Buch Michelle nennt, von ihrem Vater körperlich gezüchtigt wurde. Er fühlte sich hilflos und fürchtete schon damals, daß die Zukunft Michelles zerstört sei. Tatsächlich konnte sie, die nach Vollkommenheit und Anerkennung strebte, sich nie mit den erlittenen Mißhandlungen abfinden und "ertränkte ihren Schmerz in Alkohol". Später ging ihr Leben "mit klassischen Schizophrenie-Symptomen" zu Ende: Sie stürzte sich aus einem Fenster.
Alkon wählte nun nicht einen Beruf, der es ihm ermöglicht hätte, Menschen wie Michelle direkt zu helfen. Statt -etwa als Psychiater – mit leidenden Menschen befaßte er sich als experimenteller Forscher vorwiegend mit den Synapsen von Schnecken, mit dem Ziel, zu bestätigen, daß sich ein Leben wie das von Michelle aus den anfänglichen Bedingungen heraus zwangsläufig so entwickeln müsse, wie es seine Theorie früher Verdrahtung und bedingter Konditionierung des Nervensystems vorhersagt.
Was kann Alkon nun aus seinem Forscherleben präsentieren? Da ist zunächst die unreflektierte Idee eines einheitlichen Gedächtnisses, vielleicht auch nur der Wunsch, diesen Begriff zu etablieren. Dabei mag er angesteckt sein von den neurowissenschaftlichen Strömungen des 19. Jahrhunderts, denen er ein eigenes Kapitel widmet.
Diesem einheitlichen Gedächtnis soll ein allen Lebewesen gemeinsames Prinzip des Speicherns zugrunde liegen, das Enzym Proteinkinase C (PKC) als molekularbiologischer "Schalter" (vergleiche Alkons Artikel in Spektrum der Wissenschaft, September 1989, Seite 66). Lapidare Sätze wie: "Das Gedächtnis findet im Verhalten Ausdruck, wird elektrisch kodiert und hat eine molekulare Grundlage" enthalten seine immer wieder vorgebrachte These, es gebe ein einziges Gedächtnis, und dieses habe ein Äquivalent in elektrischer und molekularer Codierung.
Dazu ist zweierlei zu bemerken. Zum einen ist Gedächtnisspur noch nicht Gedächtnis. Wenn ein Ereignis eine Spur im Nervennetz hinterläßt, ist diese nicht die Erinnerung, ebensowenig wie die elektromagnetischen Aufzeichungen auf einem Videoband Erinnerungen sind, denn das Abspielgerät erinnert sich nicht an das Gesicht, dessen elektromagnetische Spuren es decodiert. Der englische Sprachgebrauch memory (Gedächtnis) für den Speicher eines Computers leistet dieser Verwechslung Vorschub.
Zum anderen hat bereits der französische Philosoph Theodule Ribot (1839 bis 1916) betont, daß wir vom Gedächtnis nicht so sprechen sollten, als handele es sich dabei um eine einzige Fähigkeit. Vielmehr ist es eine Mannigfaltigkeit von Fertigkeiten, die vielleicht auch mit einer Mannigfaltigkeit molekularer und neuronaler Strukturen korrespondiert (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, September 1996, Seite 52).
Mittels neuronaler Netze – die er so schildert, als sei er der einsame Entdecker dieser Konstruktionen – versucht Alkon, seine Theorie plausibel zu machen. So sollen sich besonders wichtige Erinnerungen, wie etwa die Bindung Michelles an ihren Vater, in chronisch erregbaren Neuronengruppen zeigen. Des weiteren vermutet er, "daß Erinnerung an den baumartigen Verästelungen der Dendriten stattfindet und daß die früher im Leben gespeicherten Erinnerungen dichter am Stamm des Dendriten angesiedelt sind". Ganz im Einklang mit dieser Jahresring-Theorie steht auch eine weitere Behauptung: "Lebensstile lassen sich nicht antrainieren, sie sind tief verwurzelt, basieren auf einer festen Schablone." Es kommt zu Kategorienvermischungen wie: "Menschen, die [Michelle]... hätten helfen können, wurden... an die Peripherie der Dendriten-Bäume verbannt."
Mit dieser einseitigen Theorie früher Verdrahtung und früher bedingter Konditionierung setzt sich Alkon in scharfen Gegensatz zur vorherrschenden Theorie von der Plastizität des Gehirns – und zur Realität: Ein Mensch kann nach einem Hirnschaden mit kognitiven Beeinträchtigungen manche Fähigkeiten und Fertigkeiten erfolgreich neu lernen. Inzwischen ist auch empirisch nachgewiesen, daß im Gehirn von Tier und Mensch bis ins hohe Alter Neu- und Umbauvorgänge stattfinden.
Im Verlauf einer schweren psychischen Erkrankung erwirbt der Patient gelegentlich ein Wissen über seine Krankheit, das sie überwinden hilft. Auch deswegen ist der Krankheitsverlauf nicht vorhersagbar, nicht einmal im Prinzip, was der Determinismus-Theorie Alkons widerspricht.
Er selbst formuliert durchaus vorsichtig. Vor allem im zweiten Teil überwiegen die Konjunktive "dürfte", "könnte", "sollte" und Sprachformen wie "mag sein" und "scheint". Aber wer über diese Feinheiten hinwegliest, könnte Alkons schwarze Philosophie für bare Münze halten.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1997, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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