Gefährdete Raritäten: Bromelien im Atlantischen Regenwald
Einst säumten dichte Regenwälder die Küste Brasiliens. Auf 1,4 Millionen Quadratkilometern breitete sich eine undurchdringliche Vegetation aus, die es an Artenreichtum mit den Wäldern des Amazonasbeckens aufnehmen konnte. Mehr als 90 Prozent des Atlantischen Regenwalds, der "Mata Atlantica", sind inzwischen verschwunden, Opfer der Äxte und Macheten von Kaffeebauern, Zuckerrohrpflanzern und Holzfällern. Die vereinzelten Restbestände, verstreut über die gesamte dicht besiedelte Ostküste, stehen teils als Reservate unter Schutz, teils sind sie in Privatbesitz; einige Überbleibsel findet man sogar noch an den unwahrscheinlichsten Standorten in Großstädten oder deren Umgebung. Kein anderes Ökosystem in Brasilien ist so stark gefährdet wie diese winzigen Flecken Mata Atlantica. Sie bilden die letzten Rückzugsgebiete für viele Vertreter einer ganz besonderen Familie Blütenpflanzen: der Bromeliaceen, zu deutsch Ananasgewächse oder einfach "Bromelien" genannt.
Neben der Ananas dürfte der "Greisenbart" (Tillandsia usneoides) oder das "Flammende Schwert" (Vrisea splendens) den Liebhabern von Zimmerpflanzen am ehesten bekannt sein. Die Mitglieder dieser Familie, oft auffallend schön gefärbt, treten in einer erstaunlichen Formenvielfalt auf: mit derzeit 3146 bekannten Arten und Unterarten in 56 Gattungen. Über die Hälfte sind "Aufsitzerpflanzen" (Epiphyten), das heißt, sie können sich mit ihren Wurzeln an Baumstämmen, Felsen oder anderen Unterlagen festklammern und Feuchtigkeit aus der Luft oder dem Tau aufnehmen anstatt aus dem Boden.
Gewöhnlich bilden die Blätter eine Rosette, oftmals becherförmig eingetieft, sodass sich darin Wasser sammeln kann. Zuweilen nimmt der Trichter beeindruckende Ausmaße an: Bis zu 30 Liter fasst er bei Alcantarea imperialis, einer Riesen-Bromelie aus einer gebirgigen, grasreichen Gegend der süd-östlichen Mata Atlantica. Um solche Miniaturtümpel ranken sich ganze Gemeinschaften anderer Lebewesen: Allein über 900 Arten hausen in den Blattzisternen selbst, zumeist Insekten, aber auch Frösche, Krebse, Würmer und Mikroorganismen; sie bilden wiederum die Lebensgrundlage für andere Tiere, zum Beispiel für viele Vögel und einige Säugetiere, darunter auch das vom Aussterben bedrohte Goldgelbe Löwenäffchen.
In bestimmten Fällen haben sich Bromelien und ihre Bewohner offenbar in enger gemeinschaftlicher Anpassung entwickelt. So überdauert der Laubfrosch Hyla venulosa die nordbrasilianische Trockenzeit im Inneren von Billbergia zebrina. Er schiebt sich dazu rückwärts in die Blattzisterne, winkelt seinen flachen, breiten Kopf um 90 Grad ab und versiegelt regelrecht den Hohlraum, in dem er sitzt. Dadurch bewahrt er den kostbaren Wasservorrat vor dem Verdunsten – wovon er selbst wie auch seine Bromelie profitiert. Bei der Evolution der engen, röhrenförmigen Zisternen bestimmter Billbergia-Arten könnten somit Frösche der Gattung Hyla maßgeblichen Selektionsdruck ausgeübt haben.
Fast alle Ananasgewächse, ob Epiphyten oder Bodenbewohner, sind in der Neuen Welt zu Hause. Man findet sie vom US-Bundesstaat Virginia bis nach Patagonien im Süden Argentiniens, und von der brasilianischen Küste bis zu den Juan-Fernández-Inseln etwa 600 Kilometer vor der chilenischen Küste. Nur eine einzige Art macht eine Ausnahme: Pitcairnia feliciana kommt aus noch ungeklärten Gründen im westafrikanischen Guinea vor.
Mit der Mata Atlantica schwanden auch viele Bromelien im Laufe der Jahrhunderte, was besonders bedrückt, da der Anteil so genannter Endemiten dort sehr hoch ist: An manchen noch verbliebenen Standorten kommen mindestens 53 Prozent der Bäume, 37 Prozent der nicht baumförmigen Pflanzen und 74 Prozent der Bromelien ausschließlich in eben diesem Stückchen Urwald vor. Einige Wissenschaftler halten die Bezeichnung "Mata Atlantica" sogar für eher irreführend; sie suggeriere einen überall einheitlichen Vegetationstyp, obgleich tatsächlich neben Regenwäldern auch regengrüne Feuchtwälder und Galeriewälder dazugehören. In jedem Fall aber sind die darin wachsenden Bromelien für viele andere Arten bedeutsam. Daher wird, wer sich mit ihnen befasst, immer auch einen Einblick in diese bedrohten Ökosysteme erhalten.
Vor zwei Jahren zogen meine Kollegen und ich aus, um möglichst viele Restbestände der ursprünglichen Küstenwälder aufzusuchen und die dort heimischen Bromelien zu erfassen. Während unserer sieben Sammelexpeditionen, verteilt auf 14 Monate, legten wir an die 82400 Kilometer zurück. Die Bilanz: 1056 aufgespürte Arten und Unterarten, von denen immerhin zwei Drittel allein in der Mata Atlantica vorkommen; sogar acht ganze Gattungen gibt es nirgendwo sonst. Mehrere der Arten gedeihen nur auf dem Gipfel eines ganz bestimmten Berges, und etliche andere haben gerade einmal ein Verbreitungsgebiet von höchstens 20 Hektar Fläche. Ein besonderer Glücksfall für uns war der drei Meter hohe Blütenstand einer Bromelie, die 40 Jahre braucht, um einmal zu blühen, und dann abstirbt. Sie vermehrt sich nur durch Samen, nicht durch Ableger.
Grundstock für die Erhaltungszucht
Noch sind wir dabei, das Inventar unserer Sammlung zu beschreiben, und bis wir alles genau bestimmt haben, wird eine Weile vergehen. Von den mitgebrachten Arten dürften jedoch 188 gefährdet, 119 stark gefährdet und 58 unmittelbar vom Aussterben bedroht sein. Die neue Sammlung wird zum Erhalt dieser Bromelien-Arten beitragen, vielleicht sogar letzte Rettung für sie sein: Nach Prognosen von Umweltschützern müssen bald weitere 70000 Quadratkilometer Mata Atlantica dem Siedlungsdruck in den brasilianischen Küstenregionen weichen; von den ursprünglichen Wäldern werden dann nur noch zwei bis drei Prozent in ein paar Schutzgebieten überleben. Unsere 1842 bisher gesammelten Bromeliaceen-Exemplare haben wir deshalb in zwei eigens gebauten Gewächshäusern des Forschungsinstituts am Botanischen Garten Rio de Janeiro untergebracht. So ist zumindest der Grundstock für eine Erhaltungszucht gelegt, und im Bedarfsfall wird man die eine oder andere Art hoffentlich wieder in der Natur ansiedeln können.
Darüber hinaus geht es uns auch um grundsätzliche Fragen der Biologie dieser vielgestaltigen Pflanzenfamilie. Als Zierpflanzen sind zwar Bromelien beliebt wegen ihrer schönen Blattrosetten und ihrer farbigen Hochblätter samt Blüten in purpur, weiß, rot, blau, gelb, orange oder sogar braun. Doch über ihre Fortpflanzungsstrategien ist erstaunlich wenig bekannt. In der Mata Atlantica bestäuben wahrscheinlich vor allem Kolibris und Fledermäuse die Blüten; dass die meisten Bromelien sich aber auch selbst bestäuben können, haben erst meine Kollegen und ich in den letzten Jahren entdeckt. Um die Bromelien – und die vielen anderen Organismen, die auf sie angewiesen sind – trotz der fortschreitenden Vernichtung ihres Lebensraumes zu erhalten, müssen wir sie in Kultur vermehren können. Dafür bedarf es aber noch einiger Forschung.
Literaturhinweise
Blühende Bromelien. Von U. und U: Baensch. Tropic Beauty Publishers, Nassau (Bahamas) und Tetra Verlag, Melle 1994.
Regional Floristics on Inselberg Vegetation: Southeast Brazil. In: Inselbergs: Biotic Diversity of Isolated Rock Outcrops in Tropical and Temperate Regions.Von S. Porembski und W. Barthlott (HG.). Springer Verlag (im Druck).
Reproductive Biology of Bromeliaceae of the Atlantic Rainforest. In: Floristic and Ecologic Aspects of Macaé de Cima Ecological Reserve. Von H.C. Lima und R.G. Bruni (Hg.). Rio de Janeiro Botanic Garden Research Institute 1997.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2000, Seite 66
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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