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Gefäß- und Entladungsbäume - eine fruchtbare Analogie

Prinzipien der fraktalen Geometrie helfen, die innere Einteilung eines Organs zu rekonstruieren – vor dem operativen Eingriff.


Was haben eine Eiche, ein Flußsystem und die Blutgefäße der menschlichen Leber gemeinsam? Erraten: die Baumstruktur. Sie alle bestehen aus einer Hierarchie von immer kleineren und zahlreicheren Verzweigungen, die bis auf den Größenunterschied im wesentlichen stets gleich aussehen, also selbstähnlich sind, wie der mathematische Terminus lautet.

Die gemeinsame Form folgt aus einer gemeinsamen Funktion. Laub-, Fluß- und Aderbaum lösen die gleiche Aufgabe, nämlich jedem Punkt eines großen Volumens sehr nahezukommen, ohne das ganze Volumen auszufüllen – allerdings mit völlig unterschiedlichen Mitteln. Die Theorie, die es unternimmt, aus den Gemeinsamkeiten Gewinn zu ziehen, ist die fraktale Geometrie.

Nach anfänglichen Erfolgen und großer Euphorie rücken in jüngster Zeit allerdings eher die Grenzen dieses Ansatzes ins Blickfeld. Offensichtlich neigen viele Autoren dazu, Dinge fraktal zu nennen, die es eigentlich gar nicht sind; zudem ist unklar, wie weit man von einem Baum auf den anderen schließen kann, wenn es nicht nur um qualitative strukturelle Merkmale geht, sondern um konkrete Einzelheiten.

In diesem Kontext überrascht ein Erfolg, den das Centrum für Medizinische Diagnosesysteme und Visualisierung (MeVis) an der Universität Bremen erzielt hat. Heinz-Otto Peitgen, Hartmut Jürgens (Autoren des Artikels "Fraktale – eine neue Sprache für komplexe Strukturen", Spektrum der Wissenschaft, September 1989, Seite 52), Carl J. G. Evertsz und Dirk Selle haben in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Marburg das Problem gelöst, wie man einen Ast abschneidet mit allem, was daran hängt – nicht mehr und nicht weniger.

In einem echten Baum wäre das mit der Kettensäge schnell erledigt. In der menschlichen Leber aber sind die Segmente, das heißt die Gebiete, die von verschiedenen Ästen der Pfortader versorgt werden, bis zur Unkenntlichkeit miteinander verwachsen. Klassische anatomische Einteilungen taugen wegen großer individueller Unterschiede in der Gefäßstruktur nur als grobe Anhaltspunkte.

Wenn Teile der Leber etwa von einem Tumor befallen sind, kommt es darauf an, komplette Segmente präzise herauszuoperieren; denn unversorgte Segmentreste würden nach der Operation absterben und den Patienten erheblich belasten. Andererseits sollte nicht mehr weggeschnitten werden als unbedingt nötig. Während der Operation kann man die Grenzen eines Segments sichtbar machen, indem man einen Farbstoff in den versorgenden Aderast spritzt. Vorab muß jedoch die Entscheidung getroffen werden, welche Segmente zu entfernen sind – nach Möglichkeit, bevor der Chirurg überhaupt das Messer ansetzt.

Einen unblutigen Einblick in das Innere des Körpers bietet die Computertomographie (CT). Unter den Bedingungen der klinischen Routine sind deren Erkenntnismöglichkeiten aber begrenzt. Mit einem speziellen Segmentierungsalgorithmus (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Juni 1997, Seite 102 und folgende) finden die Bremer Mathematiker aus den CT-Daten die Lage und Verzweigungsstruktur des Pfortaderbaums – aber nur bis etwa zur dritten Hierarchiestufe; dann werden die Adern so dünn, daß die Bildauflösung nicht zu ihrer Darstellung ausreicht.

Wenn man jetzt wüßte, nach welchen Prinzipien der Aderbaum – zur Embryonalzeit und danach – herangewachsen ist, könnte man sie in eine Computersimulation einbringen und damit individuell für jeden Patienten aus dem durch CT ermittelten Stumpf den Rest des Baumes rekonstruieren. Man weiß es aber nicht; ersatzweise zieht man deshalb Prinzipien heran, nach denen völlig andere Fraktale wachsen.

Was sich experimentell ermitteln läßt, ist sozusagen der Stumpf aus dem Stamm und den dicksten Ästen. Zu jedem Punkt des Lebergewebes ist dann zu bestimmen, welcher Ast ihn versorgt. Die Bremer Wissenschaftler legen dazu in Gedanken eine elektrische Spannung zwischen den Stumpf und den – bekannten – Rand des Lebergewebes. Dadurch entsteht ein elektrisches Feld in dem Raum dazwischen. Man setzt nun einfach eine kleine elektrische Probeladung in den fraglichen Punkt und läßt sie sich unter der Kraft des Feldes bewegen, bis sie auf einen Ast des Stumpfes trifft. Das ist dann der gesuchte.

In einer echten Leber wird das Wachstum der Blutgefäße wohl kaum durch ein elektrisches Feld gesteuert. Doch das Prinzip ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick aussieht. Von der Idee des elektrischen Feldes bleibt in der mathematischen Abstraktion ohnehin nur eine Gleichung, die Laplacesche Differentialgleichung. Die wiederum eignet sich dazu, in einer Mittelung den Weg zahlreicher Teilchen zu beschreiben, deren Bewegung im einzelnen nur vom Zufall bestimmt ist – und von der Bedingung, daß sie klebenbleiben, wenn sie den Stumpf oder ein bereits zuvor hängengebliebenes Teilchen treffen.

Das ist die diffusionsbegrenzte Aggregation (diffusion-limited aggregation, DLA; vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Februar 1989, Seite 8). Es handelt sich um einen der häufigsten Entstehungsmechanismen für Fraktale in der unbelebten Natur: Eisblumen, elektrische Entladungsmuster und Fettbäume beruhen darauf (Spektrum der Wissenschaft, März 1987, Seite 130, und Januar 1994, Seite 72).

Trotzdem ist die Analogie zwischen beiden Arten fraktalen Wachstums – DLA und dem, was sich bei der Entwicklung einer echten Leber abspielt – bislang rein spekulativ. Der Erfolg allerdings rechtfertigt den Ansatz der Bremer Forscher: An Ausgußpräparaten menschlicher Lebern vermochten sie die Lage der Segmente mit großer Genauigkeit zu rekonstruieren. Der klinische Einsatz des Verfahrens ist angelaufen. Schon jetzt nutzen Chirurgen an der Medizinischen Hochschule Hannover die Rekonstruktionsalgorithmen, um sich vor einer Leberoperation ein genaues Bild von der Position der zum Tumor verlaufenden Gefäße zu machen.

Darf man daraus umgekehrt schließen, daß die diffusionsbegrenzte Aggregation ein wesentliches Prinzip für die Entstehung von Aderbäumen sei? Offenbar nicht. Die Gruppe um Peitgen hat nämlich alternativ ein mathematisch einfacheres und weniger rechenaufwendiges Verfahren angewandt: Man ordne jedem Punkt der Leber denjenigen Ast des Stumpfes zu, der ihm räumlich am nächsten liegt. Die Ergebnisse waren nicht wesentlich schlechter.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1998, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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