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Stefan Winkle:: Geißeln der Menschheit.Kulturgeschichte der Seuchen.

2., verbesserte und erweiterte Auflage. Artemis & Winkler, Düsseldorf 1997. 1436 Seiten, DM 168,–.

Seit Urzeiten hat der Mensch mit Infektionskrankheiten zu kämpfen. Sie haben das Leben unserer Vorfahren verkürzt, Eltern und Kindern früherer Generationen unermeßliches Leid gebracht. Massenepidemien wie Pest und Cholera entvölkerten ganze Landstriche und warfen ihre wirtschaftliche Entwicklung um Jahrhunderte zurück. Indem diese Krankheiten den Umgang mit angesteckten Mitmenschen prägten, haben sie sogar das soziale Verhalten beeinflußt, Moral und Ethik mitgeformt: Pathogene Mikroorganismen und ihre Wirkungen sind ein Faktor der Geschichte.
Dies aufzudecken und einem breiten Leserkreis darzustellen, hat sich Stefan Winkle, emeritierter Professor für Mikrobiologie in Hamburg, zur Aufgabe gemacht. Entstanden ist ein umfassendes Monumentalwerk über die Geißeln der Menschheit – von der ansteckenden Gelbsucht bis zur Wundinfektion, von den Geschlechtskrankheiten bis zum Typhus. Auch Tropenkrankheiten wie Malaria und Gelbfieber hat Winkle berücksichtigt; er weist dabei nach, daß ihre historische Wirkung nicht auf die Kolonialzeit beschränkt war.
Wie es sich für einen ehemaligen Hochschullehrer gehört, ist das Buch systematisch gegliedert und didaktisch hervorragend aufgebaut. Es beginnt mit einem Abriß des Verständnisses von Krankheit überhaupt vom Altertum bis zum Beginn der mikrobiologischen Ära. Im wesentlichen ist dies eine Geschichte des Unheils, das abstruse Theorien und religiöse Dogmen in vergangenen Jahrtausenden angerichtet haben. In weiteren 20 Kapiteln behandelt Winkle einzelne Infektionskrankheiten in jeweils chronologischer Abfolge. Plagen wie Lepra, Pest und Cholera, welche die Menschheit immer wieder in Angst und Schrecken versetzt haben, nehmen naturgemäß besonders breiten Raum ein.
Die mehr als 3200 Fußnoten (allein die zum Kapital über Lepra machen 14 Seiten aus) sind eine Art Buch im Buche. Stets relevant, häufig vergnüglich zu lesen, sind sie ein Fundus für weitere eigene Recherchen zum Thema. Sicherlich hätte der Autor – der Schluß drängt sich auf – noch ausreichend Stoff für weitere Bücher zum gleichen Thema.
Ein Beispiel soll zeigen, wie meisterhaft Winkle die sozialen Folgen medizinischen Irrglaubens aufzeigt, und zugleich, daß er sich nicht auf die krankmachenden Wirkungen der Mikroben und deren gesellschaftliche Folgen im engeren Sinne beschränkt. Es handelt sich um das sogenannte Blutwunder, ein Phänomen, das schon Alexander der Große im 4. Jahrhundert vor Christus beobachtet hatte. Bakterien der Spezies Serratia marcescens, die stärkehaltige Lebensmittel wie Brot, Bohnen oder Polenta befallen, bilden bei Zimmertemperatur ein rotes Pigment, so daß die Bakterienkolonien bei unbedarften Menschen den Eindruck von geronnenem Blut erwecken.
Mitunter verfärben sich auf diese Weise auch Hostien, denn die aus ungesäuertem Weizenteig gebackenen Scheiben sind ein idealer Nährboden für Bakterien. Im religiösen Eifer konnte dies leicht als Beweis für die Transsubstantiation gedeutet werden: Hatte sich das Brot nicht augenfällig getreu der Abendmahlslehre in den Leib Christi verwandelt?
Doch es dauerte nicht lange, bis Einfalt und Intoleranz das Wunder der blutenden Hostie zu einem heimtückischen Instrument der Diskriminierung machten. Immer wenn rot verfärbte Hostien gefunden wurden, verdächtigte man die Juden, sie sich heimlich und unrechtmäßig beschafft zu haben, um sie mit Dornen oder Messern zu durchstechen, so daß Christi Blut herausfloß. Unter dem Verdacht der Hostienschändung wurden beispielsweise 1420 alle Juden Österreichs verhaftet und diejenigen, die den Kerker überlebten, von Erzherzog Albrecht aus dem Land vertrieben.
Die "Kulturgeschichte der Seuchen" ist ein Meisterwerk. Vergleichbares gibt es bislang weder im deutschen noch im angelsächsischen Sprachraum. Zwei Kritikpunkte möchte ich trotzdem vorbringen: Winkle schildert die Geschichte der Seuchen ausschließlich aus der Sicht des Abendlandes; Beschreibungen, wie andere Kulturen in anderen Kontinenten mit Lepra oder Pest umgegangen sind, wären eine wertvolle Bereicherung gewesen. Des weiteren fehlt ein Stichwortverzeichnis, was bei einem solchen enzyklopädischen Werk völlig unverständlich ist. Ohne ein Register ist die Fülle der Informationen nicht gezielt nutzbar, und der zusätzliche Aufwand dafür wäre bei dem Gesamtumfang des Buches kaum ins Gewicht gefallen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1998, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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