Gene, Gehirn und Verhalten bei der Taufliege
Von der Taufliege lassen sich Mosaiktiere mit genetisch männlichen und weiblichen Zellen im Zentralnervensystem erzeugen. Untersuchungen ihrer Balz und Paarung liefern Einsicht, wie Gene die Ausprägung komplexer Verhaltensmerkmale beeinflussen.
Zu Anfang dieses Jahrhunderts eröffneten sich erste wissenschaftliche Einblicke in die Mechanismen der Vererbung. Bei Kreuzungsanalysen mit Merkmalen wie der Farbe von Blütenblättern und der Flügelgestalt bei Taufliegen hatte sich Gregor Mendels (1822 bis 1884) zeitweilig vergessenes Konzept aus dem Jahre 1865 bestätigt, wonach Körpermerkmale von den Eltern in Form getrennter Einheiten an die Nachkommen weitergegeben werden (und zwar nach gewissen Regeln, die nach ihm benannt wurden). Den Begriff Gene für die mysteriösen Erbfaktoren führte der Däne Wilhelm Johannsen (1857 bis 1927) erst 1909 in seinem Lehrbuch "Elemente der exakten Erblichkeitslehre" ein – drei Jahre nachdem sein englischer Kollege William Bateson (1861 bis 1926) auf einem wissenschaftlichen Kongreß den Namen Genetik für das neue eigenständige Forschungsfach vorgeschlagen hatte.
Wie oft, wenn eine junge Disziplin ihre erste Erfolgswelle hat, begann man in und außerhalb der Fachwelt schon bald, die frisch gewonnenen Erkenntnisse breiter anzuwenden – nicht immer mit der nötigen Sorgfalt. So suchte man sie auch zur Erklärung anderer Phänomene, vor allem des menschlichen Verhaltens, heranzuziehen.
Eine in diesem Kontext oft geäußerte Behauptung war, komplexe Verhaltensweisen würden von einzelnen Genen gesteuert. Zu den Vertretern dieser Ansicht gehörten so einflußreiche Genetiker wie der Amerikaner Charles B. Davenport (1866 bis 1944), Gründer einer Station für experimwentelle Evolutionsforschung in Cold Spring Habor auf Long Island, die ein bedeutendes Laboratorium wurde. Selbst solch schwer zu definierende menschliche Eigenschaften wie Musikalität, Temperament oder "geistige Minderbemitteltheit" wurden im Extrem einzelnen Erbanlagen zugeschrieben (Spektrum der Wissenschaft, August 1993, Seite 76).
Doch keinem noch so akribisch arbeitenden Forscher ist es je gelungen, spezifische Verhaltensweisen des Menschen überzeugend mit irgendeinem Gen oder einer Gruppe zusammenwirkender Gene in Beziehung zu setzen. Das liegt vermutlich an einem methodischen Problem: Im Falle des Menschen gibt es praktisch keine Möglichkeit, genetische Einflüsse eindeutig von kulturellen und erziehungsbedingten zu trennen. Aber selbst wenn es gelänge, Effekte des Umfelds irgendwie zu kaschieren und sich einzig und allein auf die genetisch bedingten Aspekte eines Verhaltens zu konzentrieren, dürften sich die alten Behauptungen als falsch erweisen. Denn nach Untersuchungen an einfacheren, unter wohlkontrollierten Bedingungen aufgezogenen und manipulierten Organismen ist zu vermuten, daß an der Ausprägung der meisten Verhaltensmerkmale zahlreiche Gene mitwirken, einige davon recht subtil.
Frühe Vorstellungen
Einige der ersten Experimente, mit denen der Zusammenhang von Genen und Verhalten überprüft werden sollte, hat man in den zwanziger Jahren an Hunden durchgeführt. Dabei ging es unter anderem um Eigenschaften wie das Vorstehen (den Ort des aufgespürten Wildes durch eine charakteristische Haltung mit vorgestrecktem Kopf und angehobener Vorderpfote anzeigen) und die Lautäußerungen bei der Jagd. Gebrauchshunderassen sind ja auf ein bestimmtes Verhalten ebenso wie auf ein bestimmtes Aussehen hin gezüchtet; Vorstehhunde bieten ein Beispiel dafür.
Bei den frühen Untersuchungen kreuzte man zunächst Tiere, die sich in gewissen Verhaltensmerkmalen unterschieden, und ließ dann deren Nachkommen sich untereinander paaren. Wären die gewählten Merkmale jeweils durch ein Gen oder nur einige wenige bestimmt gewesen, hätten in der zweiten Folgegeneration getrennte Gruppen auftreten müssen, von der eine im Verhalten deutlich der Mutter, eine andere dem Vater glich und vielleicht noch eine dritte oder wenige weitere eine Zwischenstellung einnahmen. Bei Beteiligung vieler Gene hingegen hätte es statt einer Aufspaltung ein breites, fließendes Verhaltensspektrum geben müssen. Letzteres war der Fall, was anzeigte, daß der Ausprägung eines jeden Merkmals zahlreiche Gene zugrundelagen. Ähnliche Schlußfolgerungen ergaben sich aus Untersuchungen, die sich mit dem Orientierungsverhalten von Laborratten in Labyrinthen beschäftigten.
Derartige Analysen waren zwar aufschlußreich, stießen aber an entscheidende Grenzen. Kreuzungsexperimente können keine nennenswerten Einblicke in die genetische Grundlage jener Verhaltensweisen liefern, die sich innerhalb einer Art relativ wenig unterscheiden. Diese und andere Probleme ließen sich erst viel später angehen, als Methoden zur Identifikation spezifischer verhaltensrelevanter Gene verfügbar wurden.
In den sechziger Jahren waren immerhin zahlreiche technische Hindernisse für eine genetische Sezierung des tierischen Verhaltens abgebaut. So hatte man die Desoxyribonukleinsäure (DNA) als stoffliche Grundlage der Gene erkannt und ihre Struktur aufgeklärt sowie an Mikroorganismen aufgedeckt, daß Gene (meist) für Proteine codieren, wobei die Abfolge ihrer Bausteine die der Bausteine im jeweiligen Eiweißmolekül bestimmt. (Ein Protein wiederum kann im tierischen Organismus beispielsweise an Aufbau und Funktion des Nervensystems mitwirken, das seinerseits letztlich das Verhalten gestaltet.) Ferner waren die Grundlagen für viele der gentechnischen Verfahren geschaffen, die in den achtziger Jahren zur Isolation einzelner Gene und zur Bestimmung ihrer Funktion entwickelt wurden.
Seymour Benzer vom California Institute of Technology in Pasadena war einer jener Wissenschaftler, die nachwiesen, daß Gene lineare Abschnitte des DNA-Moleküls sind, und er dehnte auch früh die Suche nach spezifischen Erbanlagen für körperliche Merkmale auf verhaltensbeeinflussende Gene aus. Seine detaillierten Untersuchungen an der Taufliege Drosophila melanogaster, mit denen er Mitte der sechziger Jahre begann, werden noch immer fortgeführt, vor allem im Labor von Jeffrey C. Hall an der Brandeis-Universität in Waltham (Massachusetts), einem seiner ersten Mitarbeiter. Ich selbst wurde mit dem jungen Forschungsfeld Mitte der siebziger Jahre vertraut, als Halls erster Doktorand; und diesen Ansatz verfolge ich weiterhin in meinem Laboratorium an der Universität New York.
Mosaiktiere
Eine viel untersuchte, auffällige Verhaltensweise der Fliegen ist ihre Balz. Die Insekten vollführen dann eine Abfolge verschiedener Aktionen, die jeweils mit dem Austausch visueller, akustischer und chemischer Signale zwischen beiden Geschlechtern einhergehen. Bei dieser umständlichen Choreographie (Bild 1) fällt dem Männchen der aktivere Part zu, weshalb sich die Forschungen hauptsächlich auf sein Verhalten dabei konzentrieren.
Den Auftakt macht das Hinorientieren: Das Männchen pflanzt sich ganz dicht am Weibchen ihm zugewandt auf. Als nächstes klopft es mit einem Vorderbein auf den Hinterleib der Umworbenen und folgt ihr, wenn sie sich entzieht. Dann spreizt der Freier einen Flügel seitlich ab und erzeugt durch rasche vibrierende Schläge eine Art Gesang. Zeigt sich das Weibchen nicht interessiert genug, kann das Männchen diese ganze Handlungsfolge wiederholen. Läuft aber alles glatt, entfaltet es seinen Rüssel, an dessen Ende sich die Mundwerkzeuge befinden, und beleckt die weiblichen Genitalien. Anschließend kann das Männchen das Weibchen besteigen und, wenn es empfängnisbereit ist, auch begatten.
Taufliegen kopulieren erst, wenn das ganze Vorspiel absolviert ist und die Weibchen wirklich paarungswillig geworden sind. Vergewaltigung ist bei ihnen nicht üblich.
Bei der Vorarbeit für die Suche nach den Genen, die am Balzverhalten beteiligt sein könnten, machte sich Hall zunächst einmal daran, jene Teile des Zentralnervensystems zu identifizieren, welche die einzelnen Elemente der Balz kontrollieren. Dazu machte er sich Erkenntnisse über die Geschlechtsbestimmung bei Taufliegen zunutze und erzeugte, anfangs noch in Benzers Labor, ungewöhnliche Exemplare, die sich aus einem Mosaik männlicher und weiblicher Zellen zusammensetzten.
Ein normaler Taufliegen-Embryo wird zu einem anatomisch männlichen Tier mit männlichen Verhaltensweisen, wenn seine Zellen nur ein X-Chromosom enthalten. Zwei X-Chromosomen bewirken eine weibliche Anatomie und entsprechendes Verhalten. Das unterschiedliche Entwicklungsmuster rührt hier daher, daß in jeder Fliegenzelle eigenständig je nach Zahlenverhältnis der X- zu den Nicht-Geschlechtschromosomen separate, wenn auch sich überschneidende Gruppen sogenannter geschlechtsbestimmender Gene aktiviert werden.
Mosaikfliegen, wie Hall sie erzeugte, gehen nun aus einem weiblichen Embryo hervor, der während seiner Entwicklung in einigen seiner Zellen das zweite X-Chromosom verliert. (Bei manchen Stämmen oder Mutanten geschieht das öfter.) Aus der Nachkommenschaft solcher Zellen entstehen dann gewissermaßen Inseln der Männlichkeit in einem ansonsten weiblichen Tier. Wenn ein solches Insekt an einer bestimmten Stelle des Gehirns männliche Zellen beherbergte und irgendeine typisch männliche Balzaktivität zeigte, wußte Hall, daß er dies einem männlichen Muster der Genaktivierung an eben dieser Stelle zuschreiben durfte. (Mit Gehirn ist das Oberschlundganglion gemeint: Fliegen haben ein sogenanntes Strickleiternervensystem mit knotigen Anhäufungen von Nervenzellkörpern – Ganglien – an den Verbindungsstellen zwischen Holmen und Stufen; die Grundform ist allerdings durch Verschmelzen mehrerer Ganglien und Zusammenschluß von Nervensträngen stark abgewandelt.)
Hall beobachtete also die Balzversuche seiner Mosaikfliegen und fror sie dann zur Anfertigung mikroskopischer Dünnschnitte ein. Er zerlegte den etwa anderthalb Millimeter langen Körper in 20 Scheiben und ermittelte mit einer ausgetüftelten Färbetechnik die Verteilung der männlichen und weiblichen Zellen. Diese Experimente in den siebziger Jahren waren äußerst nervenaufreibend, weil die Methode zur Gewinnung von Mosaiktieren mit einem gravierenden Manko behaftet war: Es entstanden keine zwei Individuen mit genau derselben Verteilung männlicher und weiblicher Zellen: Jede Fliege war ein Unikat. Für ein verwertbares Ergebnis hatte sie eine Batterie von Verhaltenstests unbeschadet zu überstehen, und sämtliche 20 Schnitte des schließlich getöteten Tieres mußten analysierbar sein. Ein einziger Fehler – und die einmalige Chance war vertan.
Aus der Untersuchung zahlreicher Mosaiktiere schloß Hall, daß die Einleitung der Balz – Ausrichten auf das Weibchen, Klopfen auf seinen Hinterleib, Folgen und einseitiges Flügelabspreizen – männliche Zellen auf der einen oder der anderen Seite einer relativ kleinen Region im Gehirn erfordert. Dieses Gebiet, das dicht am Scheitel des Oberschlundganglions liegt und sich nach hinten erstreckt, integriert Signale aus den verschiedenen Sinnessystemen der Fliege (Bild 2). Mithin brachten männliche Zellen an dieser Stelle irgendwie einen Auslösemechanismus für Balzverhalten hervor, der normalerweise nur Männchen eigen ist. Für spätere Verhaltenssequenzen bei der Balz, besonders für jene, die eine präzise motorische Koordination verlangen, ist weiteres männliches Gewebe in anderen Teilen des Nervensystems erforderlich – für einen ordnungsgemäßen Balzgesang etwa solches in Teilen des Brustganglions (Bild 2).
Vor kurzem haben meine Kollegen und ich auch das Hirngebiet der Taufliegen identifiziert, das ihre sexuelle Präferenz mitbestimmt. Dies war eher eine Zufallsentdeckung. Jean-François Ferveur, der inzwischen an der Universität Paris-Süd in Orsay arbeitet, hatte Stämme von Mosaiktieren erzeugt, die im wesentlichen männlich waren, aber in ausgewählten Hirnregionen weibliche Zellen enthielten. Er benutzte dazu eine schon vorhandene Kollektion von Stämmen, die mit einem Hefe-Gen für ein genaktivierendes Protein ausgestattet sind; und zwar wählte er nur solche, bei denen das Gen in jeweils verschiedenen Teilen des Nervensystems in Funktion ist. Diese Tiere kreuzte er mit anderen eines Stammes, bei dem das sogenannte transformer-Gen mit einem auf das Hefe-Protein ansprechenden Genschalter versehen ist; transformer lenkt Körperzellen zum weiblichen Entwicklungsmuster, feminisiert also die daraus hervorgehenden Gewebe. Auf diese Weise läßt sich eine gewünschte Menge gleichartiger Mosaikmännchen erzeugen.
Bevor wir ihr Balzverhalten untersuchten, prüften wir, ob normale geschlechtsreife Männchen sie mit Weibchen verwechselten. Das war nicht der Fall. Zu unserer Überraschung legten jedoch umgekehrt die Mosaikmännchen einiger weniger Stämme ein merkwürdiges Verhalten an den Tag: Sie umwarben Männchen ebenso heftig wie Weibchen.
Ihre Gehirne untersuchten wir gemeinsam mit Klemens F. Störtkuhl und Reinhard F. Stocker von der Universität Fribourg (Schweiz). Wie wir feststellten, ging das Unterscheidungsvermögen für das Geschlecht den Mosaikmännchen immer dann verloren, wenn mindestens eine von zwei zentralnervösen Strukturen weiblich war: entweder der Antennenlobus oder der Pilzkörper des Gehirns, der dicht an der Auslöserstelle für das Balzverhalten liegt (Bild 3). Beide Strukturen sind normalerweise an der Verarbeitung geruchlicher Signale beteiligt (männliche Taufliegen beispielsweise geben Stoffe ab, die andere Männchen am Anbalzen hindern). Da die Tiere die Geschlechter nicht mehr auseinanderhalten konnten, interessierten sie sich für beide gleichermaßen.
Genetische Einflüsse auf das Balzverhalten
Der Umstand, daß so viele verschiedene Regionen des Zentralnervensystems beim männlichen Balzverhalten involviert sind, wies auf die Mitwirkung zahlreicher Gene hin. Tatsächlich sind inzwischen mehr als ein Dutzend identifiziert worden, im wesentlichen von Hall und seinen Mitarbeitern.
So beeinflußt das fruitless-Gen die sexuelle Präferenz. Mutationen darin wirken sich auf männliche Fliegen ungefähr so aus, als hätten sie in ihrem Antennenlobus oder Pilzkörper weibliche Zellen: Sie umwerben beide Geschlechter gleichermaßen. Das Gen wird zudem in späteren Phasen der Balz benötigt; Männchen, bei denen es mutiert ist, versuchen niemals mit Weibchen zu kopulieren.
Merkwürdigerweise konnte bisher noch niemand ein Gen identifizieren, das ausschließlich für die Balz zuständig ist. Die Indizien sprechen mehr und mehr für die Möglichkeit, daß die meisten Gene, die ihr (beziehungsweise anderen Verhaltensweisen) zugrunde liegen, mehr als eine Funktion im Körper haben. Es kann auch sein, daß dieselben Gene bei Männchen und Weibchen etwas unterschiedlichen Zwecken dienen.
Betrachten wir einmal zum Beispiel das period-Gen, eines von dreien, die bekanntermaßen mit dem Werbegesang der männlichen Taufliegen zu tun haben. Eingehend untersucht haben es Hall und Charalambos P. Kyriacou von der Universität Leicester (Großbritannien).
Ihr Interesse daran wurde geweckt, als sie 1980 feststellten, daß der Gesang einen charakteristischen Rhythmus hat. Benzers Doktorand Ronald J. Konopka hatte bereits herausgefunden, daß das Gen die circadiane Rhythmik der Fliege beeinflußt (solche normalerweise vom Tag-Nacht-Wechsel synchronisierten Zyklen wie Schlafen und Wachen sind für alle Lebewesen charakteristisch und beruhen auf einer inneren Uhr). Sie fragten sich deshalb, ob das period-Gen außer der Tagesperiodik auch den Rhythmus des Werbegesangs beeinflussen könnte.
Der durch Flügelvibration erzeugte Gesang klingt für menschliche Ohren nicht sehr melodisch, hat aber ein erkennbares Muster. Jeder Flügelschlag erzeugt, wie die akustische Analyse verrät, einen charakteristischen Schallpuls (Bild 4 oben). Eine knappe halbe Minute lang vergrößert das Männchen allmählich die Intervalle zwischen aufeinanderfolgenden Pulsen, um sie in der folgenden knappen halben Minute wieder nach und nach zu verringern. Die graphische Darstellung der Intervalle über die Zeit ergibt eine regelmäßige Sinuskurve.
Wie Hall und Kyriacou feststellten, erzeugen Männchen mit einem normalen period-Gen den üblichen Gesang, der das Weibchen für Annäherungsversuche empfänglicher macht. Solche mit einem inaktiven Gen hingegen bringen keinen regelmäßigen Rhythmus zustande (Bild 4 unten), und ihr Gesang wirkt dann offenbar auch weniger stimulierend. Dies zeigte sich deutlich, als man einzelnen Weibchen computersimulierte arrhythmische Gesänge vorspielte: Sie waren anschließend weniger empfänglich für die Annäherungsversuche eines paarungswilligen Männchens, als wenn sie simulierte normale Gesänge geboten bekommen hatten.
Bei geringfügigeren Defekten des Gens bleibt zwar eine Rhythmik erhalten; der Intervallwechsel vollzieht sich aber schneller oder langsamer, was die Sinuskurve in ihrem zeitlichen Verlauf streckt oder staucht (Bild 4 Mitte). Die Wirkung auf das Weibchen ist dann ebenfalls geringer.
Die subtilen Auswirkungen von Mutationen im period-Gen auf den Balzablauf insgesamt sowie auf den Gesang selbst bestärken die Ansicht, das Balzverhalten werde ebenso wie andere komplexe Verhaltensweisen von mehreren zusammenspielenden Genen reguliert. Und die Tatsache, daß das Gen am Einstellen weiterer biologischer Uhren im Organismus beteiligt und zudem in zahlreichen Teilen des Zentralnervensystems aktiv ist, stützt die Vorstellung, ein Erbfaktor beeinflusse mehr als eine Verhaltensweise.
Kürzlich haben Hall, Kyriacou und Michael Rosbash an der Brandeis-Universität exakt den Teil des Gens ausgemacht, der den Sangesrhythmus kontrolliert. Es handelt sich faszinierenderweise nur um einen kleinen Abschnitt in der Mitte; der Rest regelt andere Rhythmen.
Eine derartige Funktionsteilung war teilweise aus dem Vergleich mit einer anderen Taufliegenart zu erschließen: Drosophila simulans hat zwar denselben 24-stündigen Zyklus von Aktivität und Ruhe wie D. melanogaster, legt aber andere Intervalle zwischen den Schallpulsen ein – und beide period-Gene ähneln einander bis auf kleine Unterschiede im mittleren Abschnitt. Mehr noch: Exemplare von D. melanogaster, bei denen der Mittelteil des period-Gens durch den entsprechenden Abschnitt von D. simulans ersetzt worden ist, singen genau wie diese Art.
Lernen durch Erfahrung
Auch wenn sexuelle Präferenz (Geschlechtsunterscheidung) und Balzverhalten bei Taufliegen sicherlich vorprogrammiert sind, können doch Weibchen wie Männchen ihre Aktivitäten entsprechend den Reaktionen des Partners abwandeln. Sie vermögen also flexibel zu reagieren, was praktisch bedeutet: Sie sind lernfähig. Und genau wie die Fä-higkeit zu balzen, hat auch die, durch Erfahrung zu lernen, eine genetische Grundlage. Entsprechende Untersuchungen machten es noch wahrscheinlicher, daß Verhalten von einer Fülle interagierender Gene reguliert wird, von denen jedem einzelnen unterschiedliche Verantwortlichkeiten im Organismus zufallen.
Was ein Männchen beim Balzen lernen kann ist beispielsweise, keine weitere Zeit auf ein bereits begattetes Weibchen zu verschwenden. Wie Hall und Richard W. Siegel von der Universität von Kalifornien in Los Angeles feststellten, umwerben Männchen unermüdlich jungfräuliche Weibchen, während sie an begatteten nach etwa einer halben bis einer Stunde das Interesse verlieren; das geschieht schließlich unter dem Eindruck eines Pheromons, eines spezifischen – in diesem Falle hemmenden – Duftstoffs, den Mütter in spe verströmen. Das Desinteresse der Männchen bleibt einige Stunden bestehen, und zwar gegenüber allen weiblichen Artgenossen, ob jungfräulich oder nicht.
Wenn es irgendeine erkennbare evolutionäre Logik für diesen Mechanismus gibt, dann möglicherweise die: Die Gegenwart eines begatteten Weibchens in einer Gruppe anderer deutet eventuell darauf hin, daß die meisten, wenn nicht alle, ebenfalls bereits begattet sind; folglich wäre es für ein Männchen ratsamer, sein Glück woanders zu versuchen.
Die genetischen Grundlagen dieser Reaktion begann ich vor etlichen Jahren gemeinsam mit Leslie C. Griffith zu erforschen, inzwischen ebenfalls Mitglied der Gruppe an der Brandeis-Universität. Aus den Arbeiten anderer Wissenschaftler wußten wir, daß ein Enzym in Neuronen – die calcium/calmodulin-abhängige Proteinkinase II (CaMKII) – daran beteiligt sein kann, erfahrungsabhängige Effekte in den Zellen zu verzeichnen; es leitet molekulare Veränderungen ein, die vermutlich für das Lernen unabdingbar sind. Wir beschlossen deshalb zu prüfen, ob männliche Taufliegen dieses Protein – und damit auch das entsprechende Gen – brauchen, um angemessen auf begattete Weibchen zu reagieren.
Griffith stellte zunächst eine Linie von Fliegen her, deren CaMKII einfach durch Erhöhen der Körpertemperatur inaktiviert werden kann. Selbst wenn die Enzymaktivität nachweislich bloß geringfügig vermindert war, verhielten sich die Männchen dieses Stammes merkwürdig: Zwar umwarben sie wie üblich jungfräuliche Weibchen lebhaft und verloren spätestens nach etwa einer Stunde das Interesse an bereits begatteten Weibchen; doch schienen sie die in Gegenwart des hemmenden Pheromons erfahrene Abweisung fast sofort wieder zu vergessen – wenn man sie wenig später mit anderen Weibchen zusammenbrachte, begannen sie erneut zu balzen. Bei noch stärkerer Hemmung von CaMKII lernten die Männchen gleich gar nichts mehr: Sie stellten begatteten Weibchen stundenlang unvermindert nach. (Selbst in der Welt der Taufliegen werden offenbar einige Männchen aus Schaden niemals klug.)
Ein weiteres Lern-Gen
Wir fragten uns nun, wie das Enzym gemachte Erfahrungen verzeichnen hilft. Alle Proteinkinasen heften anderen Molekülen Phosphatgruppen an und aktivieren oder inaktivieren sie dadurch. Doch welches Molekül war das im Falle der CaMKII in Neuronen, und was geschah nach seiner Phosphorylierung?
Uns gelang schließlich nachzuweisen, daß bei einem derartigen Lernvorgang in Neuronen noch ein zweiter Erbfaktor entscheidend ist: das eag-Gen (sein Name stammt aus den sechziger Jahren; weil entsprechend mutierte Fliegen nach Äther-Betäubung mit den Beinen schnicken, nannten die Entdecker es ether-à-go-go – in Anlehnung an den Tanzstil von Go-go-Girls.)
Dieses ebenfalls involvierte Gen codiert für einen Bestandteil der Kanäle in der Zellmembran, die den Ausstrom von Kalium-Ionen aus den Nervenzellen regeln. Über das Öffnen der porenartigen Kanäle werden die Erregbarkeit der Zelle und die Abgabe von Neurotransmittern beeinflußt. Diese Botenstoffe übertragen Signale zwischen miteinander verschalteten Zellen.
Verschiedene Hinweise aus eigenen wie auch aus anderen Untersuchungen ließen Griffith und mich schließlich vermuten, daß das Enzym CaMKII den Lernprozeß beeinflussen könnte, indem es das EAG-Protein der Kalium-Kanäle modifiziert. Beispielsweise hatten Eric R. Kandel und seine Kollegen von der Columbia-Universität in New York gezeigt, daß bei der Meeresschnecke Aplysia eine Kinase während eines einfachen Lernvorgangs einen bestimmten Typ solcher Kanäle modifiziert. Wie wir zudem feststellten, machten mutationsbedingte Veränderungen des EAG-Proteins balzende Fliegen-Männchen praktisch genauso stur und unbelehrbar, als hätte man ihre CaMKII gehemmt. Schließlich bestätigte sich, daß das Enzym tatsächlich das EAG-Protein modifizieren kann, zumindest im Reagenzglas.
Aufgrund dieser Befunde und der Ergebnisse von elektrischen Ableitungen an Nervenzellkontakten (Synapsen) bei mutierten Fliegen entwickelten wir eine Hypothese zur Abfolge molekularer Reaktionen, durch die Männchen lernen, von begatteten Weibchen abzulassen: Zunächst stimulieren anti-aphrodisische Pheromone, die von begatteten Weibchen abgegeben werden, jene Sinnessysteme, die Signale in die Auslöserregion einspeisen. Daraufhin steigt lokal begrenzt die Calciumkonzentration in den Nervenzellen, die normalerweise die sexuelle Bereitschaft während des Balzens erhöhen. Dieser Anstieg aktiviert die CaMKII, die dann das EAG-Protein der damit ausgestatteten Kalium-Kanäle phosphoryliert. Diese öffnen sich, und Kalium-Ionen strömen aus den Neuronen. Auf diese Weise wird die Erregung der Zellen gedämpft und ihre Fähigkeit, Neurotransmitter auszuschütten, herabgesetzt. Mit dem Verstummen der neuronalen Aktivität verlieren die Männchen das Interesse an der Paarung. Umgekehrt interessieren sich Fliegen, bei denen eines der beiden Proteingene defekt ist, vermutlich deshalb weiterhin für begattete Weibchen, weil die Kalium-Kanäle der entscheidenden Neuronen geschlossen bleiben, wodurch diese hyperaktiv werden.
Das CaMKII- und das eag-Gen sind nur zwei von mehreren bekannten Genen, die auf das Lernen und die Gedächtnisbildung bei Taufliegen Einfluß nehmen. Wie sich zeigte, sind einige der anderen ebenfalls am Balzverhalten beteiligt – was recht gut mit der Auffassung in Einklang steht, daß Verhaltensweisen aus dem Wechselspiel ganzer Netzwerke von Genen resultieren, von denen die meisten wiederum an zahlreichen Funktionen eines Organismus mitwirken.
Lehren für den Menschen?
Haben die vorgestellten Erkenntnisse über Taufliegen irgendeine Bedeutung für den Menschen? Ich glaube ja – in gewissen Grenzen.
Es gibt allen Grund anzunehmen, daß das menschliche Verhalten mindestens ebenso komplexen genetischen Einflüssen unterliegt wie das der Taufliegen. Folglich dürfte die Vorstellung von zahlreichen multifunktionellen Genen, die kleine Beiträge zum ganzen Geschehen liefern, auch auf unsere Spezies zutreffen. Außerdem werden sich viele der im Taufliegen-Gehirn wirkenden Proteine vermutlich auch für das menschliche Gehirn als wichtig erweisen; denn inzwischen sind bereits für zahlreiche der ursprünglich bei Fliegen entdeckten Gene entsprechende Gegenstücke beim Menschen bekannt. Ein Beispiel ist das eag-Gen. Aus diesen Befunden sollten sich Einblicke in die molekularen Wechselwirkungen ergeben, die das Zentralnervensystem befähigen, Verhalten hervorzubringen (wenn auch ein Fliegengehirn ganz anders als ein Säugergehirn organisiert ist).
Neue Verfahren wecken auch wieder Hoffnungen, den Zusammenhang zwischen einzelnen Genen und bestimmten menschlichen Eigenschaften erkennen zu können. Angewendet werden sie bereits zur Analyse verschiedener komplexer Merkmale wie der Musikalität – allerdings mit größerer Sorgfalt als in den Tagen Davenports. Solche Untersuchungen nebst der Übertragung tierexperimenteller Erkenntnisse auf den Menschen dürften einige der Gene identifizieren helfen, die zu bestimmten Verhaltensweisen beitragen.
Jeden Forschungsansatz allerdings, der menschliche Aktivitäten angeblich rein genetisch erklären soll, muß man mit Vorsicht betrachten. Menschen unter perfekt kontrollierten Bedingungen aufzuziehen ist aus ethischen Gründen undenkbar. Und das macht es schlechterdings unmöglich, die Gültigkeit solcher Behauptungen zu beweisen.
Literaturhinweise
- Inhibition of Calcium/Calmodulin-Dependent Protein Kinase in Drosophila Disrupts Behavioral Plasticity. Von L.C. Griffith und anderen in: Neuron, Band 10, Heft 3, Seiten 501 bis 509, März 1993.
– The Mating of a Fly. Von J.C. Hall in: Science, Band 264, Seiten 1702 bis 1714, 25. März 1994.
– Calcium/Calmodulin-Dependent Protein Kinase II and Potassium Channel Subunit EAG Similarly Affect Plasticity in Drosophila. Von L.C. Griffith und anderen in: Proceedings of the National Academy of Sciences, Band 91, Heft 21, Seiten 10044 bis 10048, 11. Oktober 1994.
– Genetic Feminization of Brain Structures and Changed Sexual Orientation in Male Drosophila melanogaster. Von J.-F. Ferveur und anderen in: Science, Band 267, Seiten 902 bis 905, 10. Februar 1995.
– Molekulare Entwicklungsbiologie der Tiere.Von David de Pomeri. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1993.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1995, Seite 42
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben