Wissenschaftstrends: Gene und Verhalten
Immer mehr Gene für Erbleiden werden isoliert. Gesucht wird aber auch nach solchen, die an komplexen menschlichen Eigenheiten und Erkrankungsdispositionen – von Intelligenz bis Suchtanfälligkeit – beteiligt sind. Wie gültig sind derartige Erkenntnisse? Und welchen Nutzen könnten sie haben?
Wie Sie herausfinden können, ob Ihr Kind ein Massenmörder wird!“ Mit diesem Aufreißer versuchte am 25. Februar dieses Jahres der amerikanische Talkshowmaster Phil Donahue eine gute Einschaltquote zu erzielen. Als Gewährsmann präsentierte er einen Psychiater, der ein Paradebeispiel zu schildern wußte: den Fall eines Mannes mit doppeltem Y-Chromosom, der nach behüteter Jugend in bürgerlichem Milieu mindestens elf Frauen und zwei Kinder erwürgt hatte.
Seine Botschaft sei „weder Hysterie noch Übertreibung“, verkündete Donahue den entsetzten Zuschauern. Sie lautet, daß „eine Prädisposition für psychische Störungen, darunter Aggressivität sowie asoziales und später womöglich hochkriminelles Verhalten“, sich demnächst genau so erkennen lasse „wie heute die ererbte Anfälligkeit für verschiedene körperliche Leiden“. Man glaubte sich in die Tage der Eugenik zurückversetzt (siehe Kasten auf Seite 79).
Schöne neue Welt?
Daß die Genetik künftig zum Wohle der Gesellschaft menschliches Verhalten erklären, voraussagen und sogar ändern könne, äußern allerdings auch einige angesehene Wissenschaftler. James D. Watson, Mitentdecker der Doppelhelix-Struktur der Erbsubstanz DNA und früherer Leiter des Human-Genom-Projekts (der vereinten Anstrengung von Forschern in aller Welt, die gesamte genetische Ausstattung des Menschen zu kartieren), formulierte diese Erwartung kürzlich noch zurückhaltend so: „Wir dachten immer, unser Schicksal stehe in den Sternen. Heute wissen wir, daß es zum großen Teil in unseren Genen liegt.“ Aber Daniel E. Koshland jr., Biologe an der Universität von Kalifornien in Berkeley sowie Chefredakteur der amerikanischen Wissenschaftszeitschrift „Science“, erklärte 1987 in einem Leitartikel die Diskussion, ob etwas entweder angeboren oder erworben sei, als weitgehend erledigt – es gelte mittlerweile als wissenschaftlich erwiesen, daß Gene viele Aspekte des Verhaltens beeinflussen. Die Genforschung, so behauptete er weiter, dürfte dazu beitragen, die schwierigsten aller gesellschaftlichen Probleme wie Drogenmißbrauch, Obdachlosigkeit und eben auch Gewaltverbrechen zu beseitigen.
Einige der Untersuchungen, die er zur Begründung anführte, ähneln im Ansatz bemerkenswert jenen von Naturforschern wie Francis Galton (1822 bis 1911), der vor mehr als 100 Jahren den Begriff Eugenik geprägt hat. Dieser Vetter Charles Darwins hatte erstmals eineiige Zwillinge untersucht, um zu zeigen, daß die „Natur bei weitem gegenüber der Erziehung dominiert“; und noch immer dient die Zwillingsforschung dazu, die Erblichkeit von Merkmalen zu ergründen (Bild 1).
Der Hauptgrund dafür, daß Vorstellungen der Eugenik so beunruhigend wiederaufleben, sind jedoch die unerwartet raschen Erfolge bei der Kartierung des menschlichen Genoms und bei der Erarbeitung von Möglichkeiten, es zu manipulieren. In den letzten zehn Jahren wurden defekte Gene identifiziert, die für solch schwere Erbkrankheiten wie Mukoviszidose (typisch dafür sind zähflüssige Sekrete und eine Vermehrung des Bindegewebes in den betroffenen Organen), Muskeldystrophie (fortschreitender Muskelschwund) und Huntington-Chorea (erblicher Veitstanz) verantwortlich sind (siehe Kasten auf Seite 80). Angesichts solcher Fortschritte, meinen manche Forscher, sei es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die genetischen Ursachen komplexerer Störungen und selbst von Verhaltensmerkmalen aufdecken lassen.
Bestimmte Interessengruppen stehen dem sogar aufgeschlossen gegenüber. So hoffen Sprecher verschiedener Organisationen für psychisch Kranke zumindest in den USA, der Nachweis einer genetischen Grundlage von Erkrankungen wie Schizophrenie und affektiver Psychose (der manisch-depressiven Erkrankung), ja sogar von Alkoholismus und Drogensucht, werde nicht nur zu besseren Diagnosen und Therapien verhelfen, sondern auch zu mehr Verständnis und Einfühlungsvermögen gegenüber den Betroffenen und deren Familien. Auch mancher Homosexuelle verspricht sich größere gesellschaftliche Toleranz, wenn nachgewiesen würde, daß seine sexuelle Orientierung eine angeborene biologische Eigenart ist, gegen die man sich gar nicht zu entscheiden vermag.
Kritiker halten dagegen, die Verhaltensgenetik käme keineswegs den angestrebten Zielen näher (siehe Kasten auf Seite 82). Vielmehr sei sie in dieselben Probleme wie eh und je verstrickt: Verhaltensmerkmale sind nun einmal außerordentlich schwierig zu definieren, und fast alles, wofür eine genetische Basis unterstellt wird, läßt sich ebensogut durch äußere Einflüsse erklären. „Das Ganze ist zwar ein ehrgeiziges Unternehmen gewesen, aber meistenteils ist man schlampig dabei vorgegangen. Selbst sorgfältige Leute werden in den Strudel von Fehlinterpretationen hineingezogen“, erklärt Jonathan Beckwith, Genetiker an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts).
Diese Skeptiker beschuldigen auch die Medien, unrealistisch optimistische Erwartungen zu wecken. So weist der Harvard-Biologe Richard C. Lewontin darauf hin, daß im allgemeinen Berichte etwa über die angebliche Entdeckung eines Alkoholismus-Gens sensationell aufgemacht, gegenteilige Ergebnisse oder die spätere Revision eines solchen vermeintlichen Befundes gar nicht beachtet würden. „Skepsis macht keine Schlagzeilen“, konstatiert Lewontin.
Die Behauptung des vom Fernseh-Moderator Donahue präsentierten Psychiaters beispielsweise, daß ein zusätzliches Y-Chromosom Männer zu Gewalt prädisponiere, ist ein solcher Fall. Sie beruht auf einer Untersuchung in den sechziger Jahren, bei der man unter Gefängnisinsassen mehr Männer mit dieser Chromosomensatz-Anomalie gefunden hatte als in der Normalbevölkerung. Einige Forscher stellten daraufhin die Hypothese auf, die doppelte Ausstattung mit dem Chromosom, das nun einmal die männlichen Attribute bestimme, mache die Betroffenen zu hyperaggressiven Supermännern. In Folgestudien erwies sich jedoch, daß solche Personen lediglich durchschnittlich etwas größer und bei Intelligenztests etwas schlechter sind als andere, ansonsten aber gänzlich normal. Die amerikanische Nationale Akademie der Wissenschaften zog denn auch in einem Anfang dieses Jahres veröffentlichten Bericht den Schluß, daß es keinen belegbaren Zusammenhang zwischen dem zusätzlichen Y-Chromosom und Gewalttätigkeit gebe.
Zweifelhafte Zwillingsgeschichten
Wohl keine verhaltensgenetischen Forschungen haben die Medien begieriger aufgegriffen und verfolgt als die an der Universität von Minnesota in Minneapolis durchgeführten Studien an eineiigen Zwillingen. Initiiert hatte sie der Psychologe Thomas J. Bouchard jr. Ende der siebziger Jahre, und seither berichten Presse und Fernsehen in aller Welt darüber. Auch „Science“ würdigte die Arbeit in verschiedenen Meldungen und veröffentlichte 1990 einen großen Artikel dieser Gruppe.
Verfolgt wurde das Schicksal von mehr als 50 eineiigen Zwillingspaaren, die kurz nach ihrer Geburt getrennt wurden und in verschiedenen Umgebungen aufwuchsen. Jedwede Unterschiede zwischen diesen genetisch identischen Menschen sollten – so die Annahme – Umwelteinflüsse widerspiegeln, gleiche Züge hingegen den genetischen. Entsprechend schätzte die Forschergruppe den Anteil ab, den Erbfaktoren an der Ausprägung eines bestimmten Merkmals haben. Die Augenfarbe zum Beispiel ist ausschließlich durch Gene bestimmt und somit zu 100 Prozent erblich. Die Körpergröße ist es hingegen nur zu 90 Prozent – die restlichen 10 Prozent wären durch Ernährung und andere Umweltfaktoren zu erklären.
Bei praktisch allen untersuchten Merkmalen und Eigenschaften haben Bouchard und seine Mitarbeiter eine starke genetische Komponente ermittelt. In den meisten früheren Studien war beispielsweise die Erblichkeit von Intelligenz (definiert als Leistung in Intelligenztests) auf 50 Prozent geschätzt worden, Bouchards Team hingegen kam auf 70 Prozent. Selbst bei so kulturabhängigen Eigenschaften wie Religiosität, politischer Orientierung (konservativ gegenüber liberal), Zufriedenheit im Be-ruf, Freizeitinteressen und Bereitschaft zur Ehescheidung fand es einen hohen angeborenen Anteil. Die Gruppe kam in ihrem Artikel in „Science“ zu dem Schluß, daß eineiige Zwillinge, die getrennt aufgewachsen sind, einander in mehreren Aspekten ihrer Persönlichkeit und ihres Temperaments kaum minder gleichen als zusammen aufgewachsene.
Die Forscher stützen ihre statistischen Ergebnisse noch mit Anekdoten über „unheimliche“, „bestrickende“ und „bemerkenswerte“ Parallelen zwischen wiedervereinigten Zwillingen. Oskar etwa war als Nationalsozialist in der Tschechoslowakei erzogen worden, während Jack in Trinidad eine jüdische Erziehung erhalten hatte. Beide trugen, als sie von dem Wissenschaftler-Team 1979 wiedervereint wurden, Hemden mit Schulterklappen; beide pflegten schon vor Benutzung der Toilette einmal die Wasserspülung zu betätigen, und beide machten sich einen Spaß daraus, Leute in Aufzügen durch absichtliches lautes Niesen zu erschrecken.
Dies waren nicht die einzigen spektakulären Fälle: Zwei britische Frauen trugen jeweils sieben Ringe und tauften ihre erstgeborenen Söhne Andrew Richard beziehungsweise Richard Andrew. Zwei Männer, beide Jim gerufen, nannten ihre Hunde Toy, heirateten jeder eine Linda, ließen sich scheiden und heirateten noch einmal, jeder eine Betty. Schließlich gab es noch zwei Amerikaner, die nicht nur beide zur Feuerwehr gegangen waren, sondern auch die Bier-Marke „Budweiser“ bevorzugten (Bild 1). Anderen Zwillingsforschern zufolge wurde indes die Bedeutung solcher Parallelen maßlos überschätzt. Richard J. Rose von der Indiana-Universität in Bloomington, der an einer großangelegten finnischen Studie mit 16000 Zwillingspaaren mitarbeitet, erklärt: „Bringen Sie irgendwelche Fremden zusammen, die im selben Land am selben Tag geboren wurden, und suchen sie nach Ähnlichkeiten, so dürften Sie eine Menge scheinbar verblüffender Übereinstimmungen finden.“
Sein Kollege Jaakko Kaprio von der Universität Helsinki meint zudem, daß die Untersuchung der Universität von Minnesota vielleicht schon durch die Auswahlmethode ein schiefes Bild ergebe. Er und Rose sammeln ihre Daten durch Auswerten von Geburtsregistern und schicken dann Fragebogen an alle als Zwillingspaare identifizierte Personen. Bouchards Team hingegen bedient sich in der Hauptsache der Medien, um weitere Zwillingspaare zu finden. Diese kommen dann für eine Woche nach Minneapolis zum Interview – und oftmals auch, um sich in öffentlichem Interesse zu sonnen. Probanden, die „Publizität suchen und sich den Medien bereitwillig stellen“, könnten, so Kaprio, atypisch sein. Tatsächlich empfinden nicht wenige Zwillinge ihren Sonderstatus als eher belastend und betonen lieber die individuellen Unterschiede. Da Bouchards Gruppe Paare befragt, die glücklich sind, sich wiederzufinden, und das dann aller Welt gern mitteilen, mag Kaprios Ansicht nach erklären, warum die Schätzwerte der Erblichkeit gewöhnlich über denen anderer Studien liegen.
Einer der schärfsten Kritiker dieser und überhaupt aller Zwillingsstudien, die zu einer hohen Erblichkeit von Verhaltensweisen kommen, ist Leon J. Kamin, Psychologe an der Northeastern-Universität in Boston (Massachusetts). In den siebziger Jahren trug er dazu bei, Ungereimtheiten und möglichen Betrug bei Untersuchungen aufzudecken, die der britische Psychologe Cyril Burt in den beiden Jahrzehnten zuvor an getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen durchgeführt hatte. Dessen Schlußfolgerung, Intelligenz sei zu einem großen Teil erblich, hat in der Folge andere – insbesondere Arthur R. Jensen, einen Psychologen an der Universität von Kalifornien in Berkeley – zu der Behauptung veranlaßt, die sozioökonomische Schichtung der amerikanischen Bevölkerung sei im großen und ganzen ein genetisches Phänomen.
Auch bei der Überprüfung anderer Zwillingsstudien hatte Kamin dubioses Vorgehen festgestellt. So waren angeblich getrennt aufgewachsene Probanden oftmals nur von verschiedenen Verwandten oder von nicht verwandten, aber in der Nachbarschaft lebenden Familien aufgezogen worden; manche hatten während ihrer Kindheit und Jugend ausgiebig Kontakt miteinander.
Kamin vermutet, in einigen Fällen der Minnesota-Studie könne es ähnlich sein. Manche Pressemeldungen zum Beispiel hatten den Eindruck erweckt, Oskar und Jack sowie die beiden Frauen mit den sieben Ringen hätten sich bei ihrer Ankunft in Minneapolis zum ersten Male getroffen; tatsächlich jedoch waren sich beide Paare bereits vorher begegnet. Kamin hat Bouchards Gruppe wiederholt um Einzelheiten der Lebensgeschichten gebeten, damit möglicherweise unterschätzte Kontakte oder Ähnlichkeiten bei der Erziehung eruiert werden könnten – er bekam nie eine Antwort.
Dabei könnten diese Zwillinge, so Kamin, gewichtige Motive haben, frühere Kontakte herunterzuspielen und Ähnlichkeiten zu übertreiben – aus Gefälligkeit den Forschern gegenüber, aus Geltungssucht oder gar finanzieller Vorteile wegen. Manche ließen sich tatsächlich über Agenten vermitteln und für ihre Fernsehauftritte bezahlen. Jack und Oskar haben jüngst ihre Biographien als Stoff für einen Film einem Produzenten in Los Angeles verkauft.
Allerdings warnen die Forscher der Universität von Minnesota selber vor einer Überinterpretation ihrer Daten: Erblichkeit sei nicht mit Unausweichlichkeit gleichzusetzen, da äußere Faktoren die Ausprägung eines Gens noch grundlegend zu beeinflussen vermögen.
Solche Differenzierungen werden allerdings in der Regel von Massenmedien heruntergespielt oder einfach weggelassen. Und oftmals folgern Journalisten schlicht dasselbe wie Koshland vor sechs Jahren in seinem Leitartikel in „Science“: „Bessere Schulen, ein besseres Umfeld, bessere Beratung und bessere Rehabilitationsmöglichkeiten werden manchen Menschen nützen, aber nicht jedem.“ Der vor zehn Jahren amtierende Premierminister von Singapur war offensichtlich zu demselben Schluß gekommen; er zitierte populärwissenschaftliche Darstellungen der Minnesota-Studie, um eine Politik zu verteidigen, die den Mittelstand zu Kinderreichtum ermutigte, die Armen hingegen, etwas gegen die Übervölkerung zu tun.
Marker für Gene
Zwillingsstudien zeigen nicht, welche Gene jeweils an der Ausprägung einer Eigenschaft beteiligt sind. Aber seit den frühen achtziger Jahren gibt es effiziente Spürmethoden dafür. Sie nutzen den Umstand, daß gewisse Abschnitte der menschlichen DNA polymorph sind, das heißt, in der Bevölkerung in deutlich unterscheidbaren Varianten auftreten. Wird nun ein bestimmter genetischer Polymorphismus praktisch durchweg gemeinsam – also eng gekoppelt – mit einem bestimmten interessierenden Merkmal vererbt, liegt er zumindest nahe an dem verantwortlichen Gen; er markiert es sozusagen (Spektrum der Wissenschaft, April 1988, Seite 80).
Mittels Koppelungsanalysen sucht man einen solchen Marker in Familien, in denen das interessierende Merkmal – eine Erbkrankheit etwa – ungewöhnlich häufig auftritt. Auf diese Weise hat man 1983 einen für die Huntington-Chorea gefunden: eine dominant vererbte fortschreitende Hirnschädigung, die gewöhnlich erst in mittleren Jahren ausbricht und binnen etwa zehn Jahren tödlich endet; das abnorme Gen selbst entzog sich aber lange dem Zugriff (siehe Kasten auf Seite 80). Erfolgreich war man mit der Methode auch bei der Mukoviszidose, der Muskeldystrophie und anderen Leiden.
Eine weitere Möglichkeit bieten sogenannte Assoziationsstudien. Dabei vergleicht man die relative Häufigkeit von genetischen Polymorphismen in zwei nicht verwandten Gruppen – einer mit und einer ohne das Merkmal.
Gene für Intelligenz?
Mit beiden Methoden fahndet man derzeit auch nach Polymorphismen, die mit kognitiven Schwächen oder Stärken assoziiert sind. Bei Dyslexie, bei Leseschwäche, wurde ein US-Team schon fündig. Und Robert Plomin von der Staatlichen Universität von Pennsylvania in University Park bekam aus öffentlichen Mitteln 600000 Dollar für die Suche nach Genen, die mit dem Auftreten von hoher Intelligenz (wiederum definiert als Abschneiden in standardisierten Tests) verknüpft sind. Der Psychologe, der sich schon lange mit Verhaltensgenetik befaßt, benutzt die Assoziationsmethode; er hält sie für geeigneter als Koppelungsanalysen, wenn es um Erbfaktoren geht, deren separater Beitrag zu einem Merkmal mutmaßlich relativ gering ist. Plomin untersuchte damit 64 Schulkinder im Alter von 12 bis 13 Jahren, die sich auf drei Leistungsgruppen gemäß rund 130, 100 und 80 Testpunkten (hoher, normaler und mäßiger Intelligenz) verteilten. An ihnen prüfte er etwa 25 Polymorphismen, von denen man schon wußte, daß sie mit Genen gekoppelt sind, die mutmaßlich Effekte auf die Hirnfunktion haben. Einige dieser Marker scheinen bei den hochintelligenten Kindern tatsächlich häufiger vorzukommen. Derzeit versucht Plomin, seine Befunde an 60 weiteren ausgewählten Schulkindern zu reproduzieren, von denen die Hälfte mehr als 142 Testpunkte erreicht, die andere weniger als 74 (und trotzdem keine auffälligen hirnorganischen Defekte aufweist). Vorläufige Ergebnisse präsentierte er im Januar dieses Jahres in London auf einer Konferenz über Ursachen und Entwicklung hoher Begabung.
Auf derselben Konferenz stellten jedoch andere Forscher Indizien dafür zur Debatte, daß Intelligenztests eigentlich kaum eine Vorhersage über spätere Erfolge im Geschäftsleben, in künstlerischen Berufen oder auch in akademischen Karrieren zulassen. Auch Plomin erwartet von seinen Untersuchungen kaum praktischen Nutzen. Zwar meint er, eine Art genetisches Paßbild der kognitiven Begabungen von Schülern könnte Lehrern eines Tages helfen, einen den Stärken und Schwächen des einzelnen besser angepaßten Unterricht zu entwerfen; er bezeichnet seinen Ansatz jedoch auch als ein „Fischen im Trüben“, da möglicherweise viele Gene zu solchen Veranlagungen beitragen.
Eine Erblichkeit der Intelligenz von 70 Prozent, wie die Forscher in Minneapolis sie ermittelt zu haben glauben, hält Plomin jedenfalls für zu hoch. Rund 50 Prozent seien richtig, etwa der Durchschnittswert anderer Studien. Er selbst glaubt trotz seines großzügigen Forschungsetats, bestenfalls ein Gen finden zu können, das für einen winzigen Teil der Variationsbreite von Intelligenz verantwortlich sein könnte. Daraufhin Hochbegabte auslesen zu wollen sei vollkommen nutzlos. Seine Skepsis hinderte jedoch nicht den Londoner „Sunday Telegraph“ zu verkünden, Plomin habe „Belege, daß Genies geboren und nicht gemacht werden“.
Geistes- und Gemütskrankheiten
Vorsicht läßt auch die historische Entwicklung der Suche nach Markern für psychische Krankheiten angeraten scheinen. Während der letzten Jahrzehnte waren dazu Untersuchungen an Zwillingen, Familien und Adoptivkindern, die jeweils bestimmte Vergleichsmöglichkeiten bieten, angestellt worden; sie hatten die meisten Fachleute zunächst einmal davon überzeugt, daß Schizophrenie und affektive Psychose durch biologische und speziell auch genetische Faktoren verursacht werden – und nicht durch psychosoziale Faktoren wie die berüchtigte „schizophrenogene“ Mutter, die manche Anhänger Sigmund Freuds unter den Psychologen postulieren (Bild 2).
Die aufsehenerregenden Erfolge der damals noch neuartigen Koppelungsanalysen in den frühen achtziger Jahren gaben den Anstoß, auch nach Marker- Polymorphismen für psychische Erkrankungen zu suchen. Da Schizophrenie und affektive Psychose jeweils etwa ein Prozent der Bevölkerung betreffen, schien der mögliche Wert solcher Forschungen für Diagnose und Behandlung immens.
Der erste große Durchbruch schien 1987 erzielt, als eine Gruppe um Janice A. Egeland an der Medizinischen Fakultät der Universität Miami (Florida) affektive Psychose mit einem genetischen Marker auf Chromosom 11 in Verbindung gebracht zu haben meinte. Die Untersuchungen waren bei amischen Mennoniten durchgeführt worden, einer religiösen Gemeinschaft, die auf technologischen Fortschritt verzichtet und praktisch nie nach außen heiratet. Im gleichen Jahr verkündete eine andere Arbeitsgruppe unter Leitung von Miron Baron von der Columbia-Universität in New York, sie habe bei drei israelischen Familien einen Marker auf dem X-Chromosom mit der Krankheit in Verbindung bringen können.
Die Medien gaben beiden Berichten große Publizität. Weit weniger Beachtung fand die anschließende Rücknahme der Ergebnisse: Als ein Team des amerikanischen Nationalen Instituts für Psychische Gesundheit in Bethesda (Maryland) dieselbe Amischen-Gruppe gründlicher analysierte, fand es keine Verbindung zu Chromosom 11. Und jüngst konnte auch Barons Team keine Verknüpfung mit dem X-Chromosom mehr finden, als es die drei israelischen Familien mit anderen ausgeklügelteren Markern und umfassenderen diagnostischen Methoden abermals untersuchte.
Schizophrene Ergebnisse
Ähnliches geschah im Falle der Schizophrenie. Vor fünf Jahren schrieben Hugh M.D. Gurling und seine Mitarbeiter von der Medizinischen Fakultät des Londoner Universitäts-Colleges in der Wissenschaftszeitschrift „Nature“, bei isländischen und britischen Familien seien genetische Marker auf Chromosom 5 mit der Krankheit gekoppelt. In derselben Ausgabe aber berichteten andere Wissenschaftler unter der Leitung von Kenneth K. Kidd von der Yale-Universität in New Haven (Connecticut), bei einer schwedischen Familie, in der Schizophrenie gehäuft auftritt, keinen solchen Zusammenhang entdeckt zu haben. Gurling verteidigte seine Ergebnisse längere Zeit, bis ihn weitere eigene Arbeiten vom Gegenteil überzeugten: „Bei den neuen Familien“, sagt er selbst, „zeigt sich keinerlei Koppelung.“
Diese Enttäuschungen erhellen, wie problematisch Koppelungsanalysen zur Ergründung psychischer Erkrankungen sind. Hingegen seien sie ideal – so Neil Risch, Genetiker an der Yale-Universität – für die Ursachenforschung bei Krankheiten, die wie die Huntington-Chorea genau definierte Symptome haben und – wie am Erbgang erkennbar – durch ein einziges defektes Gen verursacht werden. Beispielsweise ist das vermutlich bei der familiären Form der Alzheimerschen Krankheit, die sich bereits früher ausprägt als die nichtfamiliäre, der Fall (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1992, Seite 56). Für die Existenz eigenständiger, durch ein einziges Gen verursachter Typen von Schizophrenie und affektiver Psychose, sagt Rich, gebe es indes keinerlei Indizien.
Tatsächlich deutet bislang alles darauf hin, daß beide Erkrankungen aus dem Zusammenspiel von äußeren Faktoren und zumindest mehreren Genen resultieren, die einzeln womöglich nur einen winzigen Einfluß ausüben. Solche Gene über Koppelungsanalysen zu identifizieren ist nach Ansicht von Risch wohl nicht unmöglich, aber sicherlich bedeutend schwieriger als bei Genen mit einer direkten Entsprechung zu einem Merkmal. Hinzu kommt, daß die Diagnose einer psychischen Erkrankung allzu oft subjektiv ist – insbesondere dann, wenn sich die Wissenschaftler dabei auf Familienaufzeichnungen oder das Gedächtnis befragter Angehöriger verlassen müssen.
Manche Fachleute zweifeln inzwischen, ob das Erbgut bei psychischen Erkrankungen überhaupt von erheblicher Bedeutung sei. „Ich persönlich glaube, wir haben die genetische Komponente bei der Schizophrenie überschätzt“, erklärt E. Fuller Torrey, Psychiater am St. Elizabeth-Krankenhaus in Washington. All das, was genetische Modelle stütze, ließe sich auch durch andere biologische Faktoren erklären, beispielsweise durch eine Virusinfektion im Mutterleib: Das Muster, nach dem Schizophrenie in Familien auftrete, gibt Torrey zu bedenken, ähnele häufig dem von viralen Erkrankungen wie etwa Kinderlähmung; und erblich sei möglicherweise lediglich eine gewisse Anfälligkeit.
Alkoholismus
Noch verschwommener sind die Hinweise auf eine genetische Basis von Alkoholismus; die einschlägigen Studien widersprechen sich. So fand Gurling vor zehn Jahren bei eineiigen Zwillingen sogar eine etwas höhere Diskrepanz als bei zweieiigen: „Von manchen Paaren trank der eine mehrere Flaschen pro Tag, der andere hingegen überhaupt nicht.“
Im Jahre 1990 berichtete aber ein Team unter Kenneth Blum vom Medizinischen Forschungszentrum der Universität von Texas in San Antonio, es habe einen genetischen Marker für Alkoholismus entdeckt, und zwar in einer Assoziationsstudie an 35 Alkoholikern und einer gleich großen Kontrollgruppe. Die „New York Times“ pries dies auf ihrer Titelseite als möglichen Wendepunkt bei der Diagnose und Behandlung des Alkoholismus; die beträchtliche Skepsis anderer Wissenschaftler verschwieg sie.
Blum erklärte, der A1-Allel genannte Marker sei mit dem D2-Gen assoziiert, das für einen bestimmten Rezeptor des Nervenbotenstoffs Dopamin codiert. Kritiker wandten jedoch ein, daß dieses Allel Zehntausende von Basenpaaren vom Dopaminrezeptor-Gen entfernt und mit keinen erkennbaren Unterschieden in dessen Ausprägung verknüpft sei.
Seither unterbreiteten drei weitere Veröffentlichungen, darunter eine von Blums Gruppe, zusätzliche Indizien für einen Zusammenhang zwischen A1-Allel und Alkoholismus. Sechs andere Gruppen konnten indes keinen solchen Zusammenhang feststellen (was in kaum einem Massenmedium erwähnt wurde).
Im April dieses Jahres veröffentlichten Risch und sein Kollege Joel Gelernter von der Yale-Universität zusammen mit David Goldman vom amerikanischen Nationalen Institut für Alkoholmißbrauch und Alkoholismus in Bethesda eine Analyse all dieser Arbeiten im „Journal of the American Medical Association“. Ihre Schlußfolgerung: Es wurde „kein physiologisch bedeutsamer Zusammenhang“ zwischen dem A1-Allel und Alkoholismus nachgewiesen. Die positiven Befunde von Blums Team könnten daher rühren, daß es die ethnische Zugehörigkeit der Probanden nicht berücksichtigt habe. Aus bislang allerdings noch begrenzten Überprüfungen geht nämlich hervor, daß die Häufigkeit des A1-Allels bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen sehr stark variiert: von 10 Prozent bei manchen jüdischen Gemeinschaften bis zu etwa 50 Prozent bei Japanern.
Blum, dem kürzlich ein Patent für einen genetischen Test auf Alkoholismus erteilt wurde, hält jedoch dagegen, die ethnischen Daten würden seine Befunde keineswegs untergraben, sondern sogar stützen, da jene Gruppen mit dem höchsten Anteil des A1-Allels auch beim „Suchtverhalten“ an der Spitze rangierten. Unter Japanern sei Alkoholismus nur deshalb nicht häufiger, weil viele einen Gendefekt trügen, der die Entgiftung eines beim Abbau von Alkohol entstehenden Produkts verhindere und entsprechend Beschwerden mache.
Diese Argumente weist selbst Irving I. Gottesman von der Universität von Virginia in Charlottesville zurück, ein an sich vehementer Verteidiger von genetischen Modellen für menschliches Verhalten. Er hält die von Blum zitierten Arbeiten für zweifelhaft, ja für widersprüchlich: Einige Forscher meinen einen Zusammenhang von A1-Allel und solchen ausgeprägten Formen von Alkoholismus zu sehen, die medizinische Komplikationen zur Folge haben oder gar mit dem Tode enden; andere wollen lediglich einen Einfluß auf Abhängigkeit allgemeiner Art erkannt haben, auf „den Mißbrauch vieler Substanzen“ wie unter anderem Nikotin.
Kriminalität
Das weitaus umstrittenste Gebiet der Verhaltensgenetik ist die Suche nach möglicherweise kriminellen Anlagen. Kritiker – darunter auch Mitglieder von Bürgerrechtsbewegungen – weisen darauf hin, daß derartige Forschungen in den Vereinigten Staaten schon als sol-che unausweichlich nahelegen würden, Schwarze seien für Kriminalität prädisponiert: Aus vielerlei Gründen ist der Anteil derer unter ihnen, die wegen Gewaltdelikten eingesperrt werden, sechsmal so groß wie jener der weißen Amerikaner.
Andere beharren aber darauf, daß die Ergründung biologischer Prädispositionen für solche mit Gewaltverbrechen verknüpften Eigenschaften wie Aggressivität und asoziales Verhalten doch einen gewissen Wert haben könnte. „Wer genetische und biochemische Faktoren außer acht lassen will, steckt den Kopf in den Sand“, so der Alkoholismus-Experte Goldman. „Es ist unfair zu verlangen, daß wir dem nicht nachgehen sollten, bloß weil es früher Genetiker gegeben hat, die dies ausgesprochen engstirnig gesehen haben.“
So gehen denn auch einschlägige Forschungen in den USA weiter, wenngleich in aller Stille. Wissenschaftler des City-of-Hope-Krankenhauses in Duarte (Kalifornien) behaupten, einen Zusammenhang zwischen dem A1-Allel, dem vermeintlichen Alkoholismus-Marker, und „krimineller Aggression“ gefunden zu haben. Eine Arbeitsgruppe unter Markus J.P. Kruesi von der Universität von Illinois in Chicago erklärte im vergangenen Jahr, sie habe Indizien für einen solchen zwischen niedrigen Konzentrationen des Neurotransmitters Serotonin und zerstörerischem Verhalten bei Kindern. Kruesi räumt ein, daß sich nicht bestimmen lasse, ob der Serotoninspiegel überhaupt genetisch beeinflußt wird; seine Höhe könnte ebensogut Wirkung statt Ursache sein – etwa eine Reaktion auf ein traumatisches Umfeld: „Vielleicht ist er eine Art Marker für seelische Narben.“
Einer der Gründe, warum solche Forschung weitergeführt wird, sind Studien an Zwillingen, Familien und Adoptivkindern, die auf eine genetische Komponente der Kriminalität hinweisen. Glenn D. Walters, Psychologe an der amerikanischen bundesstaatlichen Erziehungsanstalt in Schuylkill (Pennsylvania), gab kürzlich in der Zeitschrift „Criminology“ eine Übersicht über 38 solcher Studien von den dreißiger Jahren bis heute. Demnach wäre alles in allem auf einen schwachen genetischen Effekt zu schließen – es fand sich „jedoch nichts Aufregendes“. Ein erheblicher Teil der Forschungsprojekte sei nicht sonderlich gut gewesen, und aus den jüngeren, besser konzipierten Studien ergäben sich in der Regel noch weniger Hinweise auf genetische Komponenten. „Ich glaube nicht, daß wir irgendeinen biologischen Marker für Kriminalität finden werden“, resümiert Walters, „wir sollten unsere Energie für andere Zwecke einsetzen.“
Geschlechtliche Orientierung
Ist ein Leitgedanke bei Forschungen zu Krankheiten, Suchtverhalten und Asozialität die potentielle Verhütung, so geht es bei denen zur Homosexualität schlichtweg darum, ihr Entstehen zu klären – wenngleich vielfach mit dem Ziel, mehr Toleranz bei der heterosexuel- len Bevölkerungsmehrheit zu erwecken. Verschiedene Wissenschaftler haben zu belegen versucht, daß Homosexualität nicht nur überhaupt biologische Ursachen habe (diskutiert werden hormonelle Einflüsse im Mutterleib), sondern speziell genetische.
Im Dezember 1991 berichteten J. Michael Bailey von der Northwestern-Universität in Evanston (Illinois) und Richard C. Pillard von der Universität Boston, daß sie Hinweise auf eine solche Grundlage gefunden hätten. Ihre Studie umfaßte 161 Homosexuelle, die entweder einen eineiigen oder zweieiigen Zwillingsbruder oder mindestens einen Adoptivbruder hatten. Der jeweilige eineiige Zwillingsbruder erwies sich in 52 Prozent der Fälle als ebenfalls homosexuell, der zweieiige in 22 und der Adoptivbruder in nur 11 Prozent der Fälle.
Zu ähnlichen Ergebnissen kamen die beiden Wissenschaftler bei einer in diesem Jahr veröffentlichten Studie an 147 lesbischen Frauen: Die jeweilige eineiige Zwillingsschwester war in 48 Prozent der Fälle ebenfalls lesbisch, die zweieiige in 16 und die Adoptivschwester in 6 Prozent der Fälle. Bailey und Pillard folgern daraus, daß die sexuelle Orientierung von Männern wie von Frauen offenbar durch genetische Faktoren beeinflußt werde.
William Byne, Psychiater an der Columbia-Universität, hat da seine Zweifel. Zwischen adoptierten, also nicht miteinander verwandten Brüdern hätten Bailey und Pillard nämlich mehr Übereinstimmung gefunden als unter echten Brüdern, die nicht Zwillinge sind – eine Diskrepanz, die der Hypothese widerspricht. Und die starke Übereinstimmung zwischen den männlichen wie den weiblichen eineiigen Zwillingen könnte – so Byne – daher rühren, daß mit solchen Kinder häufig das Identitätsspiel getrieben wird, indem man sie gleich kämmt, kleidet und behandelt, bis schließlich selbst Familienmitglieder sie verwechseln. Daß eineiige im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen eher beide gleichgeschlechtlich orientiert sind, ließe sich somit gänzlich mit noch stärker übereinstimmenden Lebenserfahrungen erklären. „Meiner Meinung nach ist das Hauptergebnis dieser Studie“, urteilt Byne, „daß 48 Prozent aller männlichen Zwillinge, die miteinander aufgewachsen sind, in ihrer sexuellen Orientierung gerade differieren.“
Byne kritisiert ferner die Schlußfolgerung von Simon LeVay, daß Homosexualität biologisch – wenngleich nicht notwendigerweise genetisch – begründet sein müsse, weil das Gehirn von homosexuellen Männern dem von Frauen ähnlich sei. LeVay, früher am Salk-Institut für Biologische Studien in San Diego (Kalifornien) tätig, hatte die Gehirne von 19 homosexuellen und 16 heterosexuellen Männern sowie 6 heterosexuellen Frauen seziert. Eine bestimmte Struktur – der interstitielle Nucleus – erwies sich bei den heterosexuellen Männern als fast doppelt so groß wie bei den Frauen und den Homosexuellen. Bis heute jedoch, so betont Byne, gebe es keine weiteren Studien, die einen solchen geschlechtsspezifischen Dimorphismus reproduzierbar belegten.
Byne erwähnt, daß ihm wegen sei- ner kritischen Haltung antihomosexuelle Motive und sogar eine politisch rechtsgerichtete Einstellung unterstellt würden. Andererseits hätten verschiedene konservative Gruppierungen die gleichen Schlüsse gezogen und mit ihm Kontakt aufgenommen in der Hoffnung, er würde sich gegen die Aufnahme von Homosexuellen in die amerikanische Armee aussprechen. Diese Erfahrungen lassen ihn fürchten, daß genetische Erklärungsmodelle für ein Verhalten – so sie zu verifizieren seien – Vorurteile durchaus schüren können, statt sie abzubauen.
Dennoch suchen Wissenschaftler am Nationalen Krebsforschungsinstitut in Bethesda auch nach genetischen Markern bei Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung. Vorläufige Befunde hierzu würden in Kürze vorgestellt. Selbst Pillard, der diese Arbeiten begrüßt, kann sich indes einer gewissen Besorgnis hinsichtlich der möglichen Anwendung solcher Marker – einschließlich als Entscheidungskriterium zur Abtreibung – nicht erwehren.
Der Harvard-Biologe Evan S. Balaban urteilt sogar, kein Nutzen solcher Forschung könne die möglichen Gefahren aufwiegen. Er sieht Verhaltensgenetik als eine „Hierarchie der Wertlosigkeit“, mit Zwillingsstudien an der Basis und Koppelungsanalysen bei psychischen Erkrankungen an der Spitze. Was brächte es, ein Gen zu finden, das vielleicht mit einem geringfügig erhöhten Risiko für Schizophrenie assoziiert ist? Solche Informationen hätten eher Diskriminierung durch Versicherungsgesellschaften und Arbeitgeber zur Folge, als daß sie irgendwelchen therapeutischen Fortschritt zeitigten.
Dem pflichtet sein Fach- und Universitätskollege Lewontin bei. Er erinnert daran, daß amerikanische Versicherungsgesellschaften in den siebziger Jahren damit begannen, von ihren schwarzen Klienten Tests auf Sichelzellanämie zu verlangen – eine genetisch bedingte Erkrankung, die in der Hauptsache Schwarze betrifft. Alle, die sich als erblich belastet erwiesen, und auch jene, die nur den Test verweigerten, bekamen keine Police.
Letztes Jahr unterbreitete der amerikanische Genetiker Paul R. Billings in der britischen Zeitschrift „Social Science and Medicine“ zusammen mit zwei anderen Wissenschaftlern einige konstruktive Vorschläge zum Umgang mit der Materie. Forscher, die Assoziations- und Koppelungsanalysen betrieben, sollten strenge Kriterien für das aufstellen, was aussagekräftige Daten ausmache. Sowohl Wissenschaftler wie Journalisten sollten stets die solchen Studien innewohnenden Grenzen betonen, „insbesondere dann, wenn nicht bekannt ist, wie ein Gen auf das Verhalten wirkt“.
Der Versuch, diesen Artikel mit einer positiven Bemerkung enden zu lassen, mißlang freilich auf unfreiwillig ironische Art. „Trotz der Rückschläge bei anderen Studien“, so schrieben die drei Autoren, „gibt es relativ gute Hinweise darauf, daß eine Stelle auf dem X-Chromosom bei manchen Familien damit (mit der affektiven Psychose) assoziiert ist.“ Kurz darauf – Anfang dieses Jahres – wurde dieser Befund zurückgezogen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1993, Seite 76
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