Kulturgeschichte: Genussmittel.
Ein kulturgeschichtliches Handbuch. Campus, Frankfurt am Main 1999. 292 Seiten, DM 49,–.
Sind Alkohol und Tabak Genussmittel oder nicht vielmehr Suchtstoffe? Die Antwort hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Es komme nämlich nicht auf irgendwelche Merkmale der konsumierten Substanzen an, sondern auf soziokulturelle Normen, sagen die Herausgeber, der Hamburger Volkskundler Thomas Hengartner und der Berner Historiker Christoph Maria Merki, in der Einleitung und wissen das historisch gut zu begründen. Immerhin wurden sowohl Alkohol in konzentrierter Form (seit dem 13. Jahrhundert bekannt) als auch Tabak (im 16. Jahrhundert) zunächst als (All)heilmittel und dann vielfach als Teufelszeug betrachtet, und zwar ganz ohne Wissen über Suchtrisiken oder Lungenkrebs. Im Laufe der Zeit wurden beide Substanzen in gesellschaftliche Rituale integriert und konnten Ausdruck von Lebensart und sogar politische Kundgebung sein. In arabischen Ländern ist der Genuss von Haschisch oder Quat nach wie vor toleriert, der von Alkohol dagegen strikt untersagt. Weder die abendländische noch die arabische Kultur sind an ihren jeweiligen Normen gescheitert.
Die von Kultur zu Kultur unterschiedliche Bewertung äußert sich bereits in den Namen. Was bei uns "Genussmittel" genannt wird, heißt im Englischen "luxury food", während die Franzosen von "excitants" oder "stimulants" sprechen. Vor allem in den USA sei eine "ideologisch-ethisch motivierte prinzipielle Missbilligung von Genuss" zu konstatieren, die von der Prohibition während der zwanziger Jahre bis heute anhält.
Hasso Spode eröffnet den Hauptteil des Buches mit dem Kapitel "Alkoholische Getränke" und überrascht den Leser mit der Feststellung, dass das – um 1800 erstmals auftauchende – klassische Modell der "Trunksucht" als Krankheit (anstatt eines Fehlverhaltens) mit den Leitsymptomen "Kontrollverlust, Dosissteigerung und Entzugserscheinungen" kaum noch haltbar sei. Vor allem könne es die Unterschiedlichkeit der "Suchtkarrieren" nicht erklären, die weniger einer "stadienartigen Eigendynamik" folgen als vielmehr auf Änderungen im sozialen Umfeld reagieren. Spode bestreitet nicht, dass es Alkoholmissbrauch gibt, hält aber den Alkoholismus als Krankheitsbild für eine self-fulfilling prophecy: Die Krankheit sei erst durch ihre Beschreibung entstanden.
Gegenwärtig nimmt die statistisch ermittelte Zahl von Alkoholikern zu, während der Pro-Kopf-Verbrauch an Alkohol sinkt. Entweder trinken also immer weniger Leute immer mehr, oder – was Spode für plausibler hält – die Definitionsweise stigmatisiert immer mehr Menschen als Süchtige. Auf diese Thesen folgen fundierte Betrachtungen zur Kulturgeschichte von Bier, Spirituosen und Wein.
Thomas Hengartner eröffnet den Abschnitt "Rauchbares" mit dem Kapitel "Tabak" und betritt damit ebenso diffiziles Gelände wie Spode. Er beklagt, dass bei der nahezu ausschließlichen Konzentration der öffentlichen Diskussion auf medizinische Fragen und die Suchtproblematik "soziale und kulturelle Faktoren, Lebensstile und Lebensumstände" unterbewertet oder völlig ausgeblendet würden. Leider geht er nicht auf die immer wieder aufgestellte These ein, dass die volkswirtschaftlichen Kosten des Rauchens höher seien als der Ertrag aus Steuern und anderen, das Bruttoinlandsprodukt erhöhenden, Faktoren. Dass der "Kampf um den Tabak", besonders in der puritansch geprägten Gesellschaft der USA, mit Härte ausgefochten wird, ist bekannt. Hengartner macht zu Recht darauf aufmerksam, dass es dabei auch um mehr geht: "Tabak erscheint als eines jener Medien, über die gegenwärtig weitergehende gesellschaftliche Werte, Probleme und Ziele ausgehandelt werden." Man ist also nicht nur für oder gegen Tabak, sondern auch für oder gegen bestimmte Lebensweisen.
Jakob Tanner treibt mit seinen Ausführungen zu "Cannabis und Opium" die nonkonformistische Tendenz des Buches – mit der eingangs angesprochenen Betonung des soziokulturellen Aspekts – auf die Spitze. Ausführlich und mit zum Teil überraschenden Befunden belegt er, wie sowohl Opium als auch Cannabis von einem Heil- beziehungsweise Genussmittel zu Suchtstoffen umgewertet wurden, und zwar weniger wegen der Gefahren der Drogen selbst als vielmehr aus politisch-ideologisch erzeugten gesellschaftlichen Ängsten vor dem Anderssein des Drogenkonsumenten. So war in Amerika bis zur Einführung des Aspirins 1898 das meistgenutzte Schmerzmittel Marihuana! Zwischen 1842 und 1900 waren die Hälfte aller dort verkauften Medikamente Cannabispräparate.
Die Umdeutung des Opiums vom wertvollen Heilmittel zur teuflischen Droge erfolgte in der gesamten abendländischen Kultur; sie war aber in den USA mit einer krassen Diskriminierung der dort eingewanderten Chinesen verbunden. Ausschließlich gegen diese Gruppe richteten sich bis ins 20. Jahrhundert hinein die Opiumverbote. Der in gehobenen Gesellschaftskreisen durchaus verbreitete Gebrauch des Morphiums hingegen wurde akzeptiert.
Das Buch enthält auch Kapitel über Kaffee, Tee und Gewürze – etwas enttäuschend, weil der kulturgeschichtliche Aspekt zugunsten des wirtschaftsgeschichtlichen weitgehend vernachlässigt wird – sowie über Honig und Zucker. Das überrascht zunächst angesichts der Allgegenwart dieses Kohlenhydrats; aber historisch war es jahrhundertelang ein Gewürz und Heilmittel. Von den Europäern wurde es nach Mittelamerika eingeführt und dort durch den großflächigen Anbau zu einem "luxury food", das die ebenfalls kolonialen Heißgetränke Tee, Kaffee und Kakao erst für unseren Geschmack akzeptabel machte. Christoph Maria Merki bietet einen informativen Einblick.
Das Thema verlangt geradezu nach Illustrationen; um so bedauerlicher ist es, dass das Buch keine einzige Abbildung enthält. Sach- und Personenregister fehlen; jedes Kapitel hat – wenig zweckmäßig – sein eigenes Literaturverzeichnis.
Gleichwohl: Das Werk wird inhaltlich den an eine wissenschaftliche Publikation zu stellenden Ansprüchen gerecht und weist teilweise eine erfrischende Unabhängigkeit von gängigen Haltungen auf.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 105
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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