Robert Ossermann: Geometrie des Universums. Von der Göttlichen Komödie zu Riemann und Einstein.
Aus dem Englischen von Rainer Sengerling. Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden 1997. 204 Seiten, DM 48,–.
Ist die Erde flach oder rund? Heute weiß jedes Kind die Antwort. Aber wie gelangten Menschen erstmalig vor mehr als 2000 Jahren zu dieser Erkenntnis? Und können Sie sich die Geometrie des Weltalls ebenso mühelos vorstellen wie die Kugelgestalt unseres Planeten?
Robert Osserman, Mathematiker an der Universität Stanford (Kalifornien), beschreibt den langen Weg von der ersten Vermessung der Erde bis zu den Ideen der modernen Kosmologie. Doch es geht nicht nur um wissenschaftliche Ergebnisse, sondern auch um die dahinterstehenden Personen und deren Lebensumstände. So fehlt nicht die bekannte Geschichte vom achtjährigen Carl Friedrich Gauß (1777 bis 1855), der das mühsame Addieren der Zahlen von 1 bis 100 zur Multiplikation von 50 und 101 vereinfachte und dadurch eine frühe Probe seiner Genialität gab.
Am Anfang versetzt Osserman den Leser unter den Nachthimmel im 4. Jahrhundert vor Christus. Zwei Schlüsselbeobachtungen hatten letztlich zur Folge gehabt, daß sich die flache Erde in den Köpfen der Menschen langsam zu einer Kugel krümmte: Zum einen ist der Erdschatten bei einer Mondfinsternis deutlich kreisförmig; und zum anderen stehen die im Norden sichtbaren Sternbilder um so niedriger am Himmel, je weiter man in den Süden reist. Die nächste interessierende Größe war zwangsläufig der Erdumfang. Wie aber konnte man ihn bestimmen zu einer Zeit, in der Ozeanüberquerungen utopisch waren?
Osserman beschreibt hier die berühmte Messung des griechischen Philosophen Eratosthenes (um 284 bis 200 vor Christus), der Vorsteher der Bibliothek von Alexandria war und der Nachwelt vor allem durch sein Primzahlsieb geläufig ist. Bekannt war, daß in Syene, dem heutigen Assuan, am Tage der Sommersonnenwende die Sonne mittags fast genau im Zenit steht (die Stadt liegt am Wendekreis des Krebses). Am selben Tage steckte Eratosthenes in Alexandria einen Stab genau senkrecht in den Erdboden und maß die Länge seines Schattens. Daraus bestimmte er den Winkel zwischen dem Stab und einem gleichartigen gedachten Stab in Syene und kam auf ein Fünfzigstel des Vollkreises. Jetzt mußte er also nur noch die Entfernung Alexandria-Assuan (nach modernem Maß rund 800 Kilometer) mit 50 multiplizieren, um die Länge des Erdumfangs zu erhalten.
Ossermans Reise durch die Historie der Geometrie ist gleichzeitig eine Geschichte des Krümmungsbegriffs. Eratosthenes mußte die Kugelgestalt der Erde noch postulieren, als er ihren Umfang bestimmte. Gauß betrachtete gut zweitausend Jahre später, nachdem das längst nicht mehr in Frage stand, das umgekehrte Problem: Er zeigte, wie man allein durch geodätische Messungen an der Oberfläche der Erde auf ihre Form schließen kann. Ein Maß für die Krümmung einer Fläche trägt heute seinen Namen.
Im nächsten Teil geht es weit weg in ein gekrümmtes Universum. So, wie man die Erde in eine östliche und eine westliche Hemisphäre einteilen und beide vollständig als Kreise nebeneinander auf einer ebenen Weltkarte abbilden kann, stellte sich der Mathematiker Bernhard Riemann (1826 bis 1866) ein Universum als zwei Kugeln vor. Die eine hat die Erde zum Mittelpunkt und enthält alles, was von ihr aus zu beobachten ist; eine zweite – sozusagen rechts daneben – hat in ihrem Mittelpunkt ebenfalls eine Zivilisation, deren beobachtbares Universum in dieser Kugel enthalten ist. Die Oberflächen beider Kugeln sind aber in Wirklichkeit ein und dasselbe, ebenso wie man sich die Bilder der beiden Erdhälften auf der Weltkarte entlang der Kreisumfänge zusammengeheftet vorstellen muß. Hier weist Osserman auf ein Zusammentreffen von Naturwissenschaft und Dichtung hin: In der "Göttlichen Komödie" beschrieb Dante Aligheri (1265 bis 1321) ein Universum, das dem Riemanns – bis auf die Wahl der Namen – in verblüffender Weise gleicht.
Man nennt Riemanns Universum eine 3-Sphäre, denn sie ist so in den vierdimensionalen Raum eingebettet wie eine gewöhnliche Kugeloberfläche in den geläufigen dreidimensionalen. Damit nicht genug; es geht noch eine Dimension höher: Man erweitere das Riemannsche Zwei-Kugel-Universum um eine Zeitachse. Um die Expansion des Weltalls zu berücksichtigen, muß der Durchmesser der Riemannschen Kugeln mit fortschreitender Zeit wachsen.
Übrig bleibt die Frage, ob die Ausdehnung ewig anhält oder in ferner Zukunft ihr Vorzeichen umkehrt. Erst mit einem hypothetischen Big Crunch wäre die in die fünfdimensionale Raumzeit eingebettete 4-Sphäre vollständig.
Für den Leser gerät diese Reise durch die Geschichte der Geometrie allerdings zu einer Irrfahrt. Osserman stellt die Entwicklung der Theorien und Ideen zwar chronologisch und überwiegend allgemeinverständlich vor, doch ein roter Faden ist kaum ersichtlich. Am Ende bleibt nur ein bruchstückhafter Eindruck von der "Geometrie des Universums". Durch erklärende, ein- und überleitende Sätze zwischen den einzelnen Abschnitten oder Passagen wäre das Buch sicherlich zu einer runden Sache geworden. Bereichernd und auflockernd sind dagegen die zahlreichen anekdotenhaften Einwürfe. Bemerkenswert ist auch der ausführliche Anhang mit zahlreichen Literaturhinweisen und präzisen mathematischen Erklärungen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1998, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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