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Geschichte der Pharmazie. I. Von den Anfängen bis zum Ausgang des Mittelalters.

Unter Mitarbeit von Franz J. Kuhlen. Govi, Eschborn 1998. XXV+836 Seiten, DM 198,–.

Haben auch Sie sich schon überlegt, welche 50 Bücher Sie auf die einsame Insel mitnehmen würden? Nach dem Erscheinen dieses epochalen Werkes werden Sie Ihre Liste revidieren.

Es behandelt nicht nur fachlich überaus kompetent, umfassend und glänzend dargestellt die historischen Grundlagen unserer Arzneikunde, sondern geht in der breiten Interpretation weit darüber hinaus. Unter stetem Bezug zum eigentlichen Thema finden wir eine Kultur-, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte des Abendlandes. Die Autoren haben es geschafft, eine Fülle interessanter Details so zu vereinen, daß man das Buch überhaupt nicht mehr aus der Hand legen mag. Nicht nur Apotheker und Ärzte, sondern alle naturwissenschaftlich und kulturhistorisch Interessierten werden aus diesem Werk reichen Gewinn ziehen.

Rudolf Schmitz (1918 bis 1992), Gründer und bis 1988 Direktor des Instituts für Geschichte der Pharmazie an der Universität Marburg, hat Pharmazie, Geschichte und Philosophie studiert. Als einer der prominentesten Vertreter seines Fachs schuf er in seinem umfassenden Lebenswerk die Grundlagen für dieses Buch, konnte die Fertigstellung aber nicht mehr erleben. Sein Schüler Franz-Josef Kuhlen hat zusammen mit der Lektorin Evemarie Wolf die Arbeit zu Ende geführt; der überaus lange Zeitraum dafür wird durch die Sorgfalt der Bearbeitung gerechtfertigt.

Das Buch ist in zwei Abschnitte gegliedert. Der erste umfaßt die geschichtliche Darstellung vom Altertum bis zum Hochmittelalter, in den Kulturkreisen des Vorderen Orients, Indiens, des Fernen Ostens, der Germanen, Kelten (die Druiden schnitten tatsächlich die Misteln mit goldenen Sicheln), Griechen und Römer. Über Byzanz, das frühe Mittelalter in Europa und die Medizinschulen der Araber (mit einem kurzen Abschnitt über die arabische und europäische Alchemie) spannt sich der Bogen bis zum lateinischen Europa, mit den Anfängen des Klosterlebens und der Rolle der Klöster als Stätten der Wissenschaft und der Heilkunde.

Der zweite Teil behandelt die Entwicklung der abendländischen Pharmazie vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, insbesondere die Scholastik als geistige Grundlage der mittelalterlichen Pharmazie, den Begriff materia medica (Arzneischatz) sowie frühe pharmazeutische Technik, mit einer kurzen Enzyklopädie der mittelalterlichen officinalia (Apothekenwaren). Es folgt die sehr detaillierte Geschichte des Apothekenwesens, beginnend mit dem 1241 vom Stauferkaiser Friedrich II. erlassenen Gesetzeswerk „Constitutiones Federici II“. Ein kurzes Kapitel über die großen Seuchen des Mittelalters (Ruhr, Pest, Malaria, Pocken, Lepra) beschließt das Buch.

Die kulturgeschichtlichen Aspekte beziehen sich unter anderem auf Rituale, Magie, Zauber und Beschwörung in der frühen Heilkunde (man denke an die segensreiche Wirkung der persönlichen Beziehung zwischen Kranken und Arzt oder an Placeboeffekte) und die Rolle der Religion, später der Klöster. Antike Gelehrte wie Hippokrates, Platon, Aristoteles, Plinius, Dioskurides und Galen werden in ihrem Einfluß auf die Heilkunde und die gesamten Naturwissenschaften ausführlich diskutiert. Das umfaßt auch die Atomtheorien von Leukipp und Demokrit und die Wertung induktiver und deduktiver Methoden in der Wissenschaft. Die Stellung der Ärzte in den verschiedenen Kulturen wird ausführlich diskutiert. Weitere Abschnitte sind der pharmazeutischen Literatur im allgemeinen und den Kräuterbüchern des späten Mittelalters im besonderen gewidmet.

In unserer Zeit, in der in den meisten Buchhandlungen die Esoterik weit mehr Raum einnimmt als die Wissenschaft, ist ein solches Werk eine wahre Wohltat. So rückt Schmitz das Bild der von den Esoterikern vereinnahmten Äbtissin Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) zurecht. Sie hat in ihrem Lebenswerk wissenschaftliche Arbeit geleistet: den Wissensstand ihrer Zeit zusammengetragen und systematisiert. Aber was im 12. Jahrhundert gut und richtig war, kann heute nicht unreflektiert übernommen werden. Indem die heutige Hildegard-Literatur genau das tut, entwertet sie ihre Leistung; Schmitz spricht zu Recht von einem „Mißbrauch des Werkes dieser erstaunlichen Frau“.

Das Literaturverzeichnis ist mit 186 Seiten und über 4000 Zitaten von beeindruckender Größe, aber von geringem Nutzen, weil im Text kaum darauf verwiesen wird. Immerhin hat der Verlag mit einer Recherchemöglichkeit im Internet (http://www.govi. de) Abhilfe geschaffen. Sehr gut und umfassend ist mit 47 Seiten und rund 4500 Begriffen das Stichwortregister.

Den Band II, „Vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ darf man mit großer Spannung erwarten. Bis zum Erscheinen werden allerdings einige Jahre vergehen. So lange sollten Sie mit der Reise zur einsamen Insel noch warten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1999, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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