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Geschlechtsunterschiede im räumlichen Vorstellungsvermögen?


Es ist das Thema unzähliger Witze über die Frau am Steuer, und die Erfahrung scheint es zu bestätigen: Männer finden sich in räumlichen Zusammenhängen besser zurecht als Frauen. Der wissenschaftliche Befund dazu ist jedoch keineswegs einheitlich. Obwohl vor allem in den letzten 15 Jahren eine Fülle von Untersuchungen zu geschlechtsspezifischen Differenzen in der Raumvorstellung durchgeführt wurden, bestehen weiterhin teilweise beträchtliche Irritationen und Mißverständnisse; nicht selten scheinen sich Ergebnisse diametral zu widersprechen.

Als wesentlicher Grund dafür erweist sich bei genauerem Hinsehen, daß verschiedene Autoren offenbar das gleiche Wort für unterschiedliche Sachverhalte verwenden, die lediglich Teilkomponenten der Gesamtfähigkeit repräsentieren. In meiner Dissertation ("Räumliches Vorstellungsvermögen", Europäische Hochschulschriften, Frankfurt am Main 1994) habe ich die einschlägige Literatur analysiert und dabei Hinweise auf insgesamt fünf Bausteine der räumlichen Intelligenz gefunden. Eine statistische Faktorenanalyse sowie eine anspruchsvolle Meta-Analyse durch Marcia C. Linn von der Universität von Kalifornien in Berkeley und vom Weizmann-Institut in Rehovot (Israel) sowie durch Anne C. Petersen von der Staatsuniversität von Pennsylvania in University Park aus dem Jahre 1986 ergaben, daß von diesen fünf Komponenten vier eindeutig unterscheidbar sind. Für jede gibt es einen spezifischen Test.


Die vier wesentlichen Komponenten

Um Ihr eigenes räumliches Vorstellungsvermögen zu prüfen, sollten Sie, bevor Sie weiterlesen, die vier im Bild auf Seite 25 angegebenen Aufgaben innerhalb von insgesamt vier Minuten zu lösen versuchen. Beobachten Sie, wie gut Sie die einzelnen Teilprobleme bewältigen und vergleichen Sie Ihre Leistung nach Möglichkeit mit der von Angehörigen des anderen Geschlechts, denen Sie den Test gleichfalls vorgelegt haben. (Die Lösungen finden Sie am Schluß dieses Artikels.)

Die erste Komponente des räumlichen Vorstellungsvermögens, die räumliche Wahrnehmung (spatial perception), ist nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Vorstufe zum Erwerb von räumlichen Vorstellungen. Gemeint ist die Fähigkeit, die Horizontale und die Vertikale zu identifizieren. Dabei spielt die Orientierung des eigenen Körpers, das Körperschema, eine wichtige Rolle.

Bei Testaufgaben zur zweiten Komponente, der Veranschaulichung (spatial visualization), wird häufig ein Objekt in mehrere Teile zerlegt dargestellt. So ist beispielsweise ein Würfel (dreidimensionaler Gegenstand) in zwei dreiseitige Prismen zersägt oder ein Quadrat (zweidimensionaler Gegenstand) in Dreiecke zerschnitten. In Gedanken soll nun das Objekt mit seiner Zerlegung in Beziehung gesetzt werden.

Der dritte Baustein der Raumvorstellung ist die Fähigkeit, sich Rotationen zwei- oder dreidimensionaler Objekte vorzustellen (mental rotation). Dabei sind Gegenstände aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu identifizieren und in Gedanken im Raum zu drehen.

Bei der vierten Komponente, der räumlichen Orientierung (spatial orientation), geht es nicht darum, Objekte oder Teile davon mental zu bewegen, sondern sich selbst. Man muß also die eigene Person richtig in eine räumliche Situation einordnen und sich real oder gedanklich im Raum zurechtfinden, beispielsweise als Verkehrsteilnehmer oder Wanderer.


Was zeigt die Forschung?

Für die Komponente räumliche Wahrnehmung wurde in bedeutenden Studien eine Überlegenheit des männlichen Geschlechts ab einem Lebensalter von et-wa zehn Jahren gefunden. Einige Einzelergebnisse wirken allerdings recht unglaubhaft. So ist angeblich der Hälfte aller amerikanischen College-Besucherinnen nicht geläufig, daß Wasseroberflächen auch in gekippten Gläsern stets horizontal sind. Bei Testaufgaben, welche dieses Vorwissen nicht voraussetzen, fallen die Unterschiede geringer aus. Wie Marcia C. Linn und Anne C. Petersen in der erwähnten Meta-Analyse von 172 Einzelstudien statistisch quantifiziert haben, ergeben sich insgesamt nur mäßige Differenzen.

In bezug auf die Teilkomponente Veranschaulichung berichten zwar viele Forscher von hohen Leistungsvorsprüngen männlicher Testpersonen, die sogar als die beständigsten kognitiven Differenzen zwischen den Geschlechtern überhaupt einzustufen seien. Andererseits ergeben sich aus der genannten Meta-Analyse nur verschwindend geringe Unterschiede.

Die Diskrepanz ist einfach zu erklären. Offensichtlich ist die Überlegenheit des männlichen Geschlechts bei der Vorstellungsfähigkeit von Rotationen stark ausgeprägt und tritt etwa mit dem Eintritt in das Pubertätsalter in Erscheinung. Nach Angaben verschiedener Autoren handelt es sich um den bedeutendsten unter den geschlechtsspezifischen Unterschieden bei kognitiven Fähigkeiten, die je statistisch erhoben wurden. Manche Forscher subsumieren diese Fähigkeit unter Veranschaulichung und finden entsprechend in dieser Kategorie eine männliche Überlegenheit.

Betrachtet man aber Qualifikationen zur Veranschaulichung gesondert, so sind häufig keine oder nur geringe Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu beobachten. Dies gilt insbesondere, wenn nur zweidimensionales Denken (Aufgabe 2) erforderlich ist. Bei entsprechenden dreidimensionalen Aufgabenstellungen, also beispielsweise Schnitten in geometrischen Körpern, finden sich hingegen häufig mittelhohe Differenzen zugunsten männlicher Testpersonen.

Die letzte Teilkomponente, räumliche Orientierung, ist für viele Menschen die praktisch bedeutendste. Auf der Landkarte zweigt die richtige Straße nach rechts ab; also muß man links abbiegen, weil man gerade in Richtung Süden fährt. Das zu erkennen, einen Weg zu rekonstruieren, Entfernungen einschätzen und sich in einem Labyrinth zurechtzufinden – in all diesen und einigen weiteren Aufgaben sind Männer im Durchschnitt den Frauen deutlich überlegen. Neben der Vorstellungsfähigkeit von Rotationen ist dies der zweite Bereich mit ausgeprägten und umfangreich dokumentierten Leistungsdifferenzen. Sie manifestieren sich ab einem Lebensalter von rund zwölf Jahren.

Ein eher statischer, aber wesentlicher Teilaspekt der räumlichen Orientierung ist die Fähigkeit, mit den Begriffen "rechts" und "links" sicher zu operieren. Beispielsweise haben viele Schulanfänger immer noch gewisse Probleme anzugeben, welches ihr linker oder rechter Arm ist, und Fahrlehrer behaupten, daß ihre Fahrschüler oft nicht prompt und korrekt auf die Anweisung "rechts" oder "links" reagierten. Auch hier schneiden Männer durchschnittlich besser ab als Frauen.

Häufig werden Fähigkeiten zur Vorstellungsfähigkeit von Rotationen (Aufgabe 3) und zur räumlichen Orientierung (Aufgabe 4) als besonders anspruchsvoll eingestuft. Offensichtlich sind die Leistungsunterschiede zwischen Frau und Mann am stärksten ausgeprägt, wenn sehr hohe Anforderungen an das räumliche Vorstellungsvermögen gestellt werden. Interessanterweise verringert sich der Unterschied jedoch, wenn es nicht auf Geschwindigkeit ankommt. Bei praktisch unbegrenzter Bearbeitungszeit gleichen sich die Leistungen der Geschlechter an.

Wie bei vielen Teilkomponenten erwähnt, lassen sich geschlechtsspezifische Unterschiede bei den jeweiligen Fähigkeiten erst ab einem bestimmten Alter feststellen. Während die Frage, ob solche Differenzen auch schon bei Kindern auftreten, lange kontrovers diskutiert wur-de, liefern neuere Forschungsergebnisse mittlerweile ein recht einheitliches Bild. Danach gibt es unterhalb einer Altersgrenze von 10 bis 14 Jahren keine oder nur verschwindend geringe Differenzen.


Wie lassen sich die Unterschiede erklären?

Vieles spricht dafür, daß räumliche Fähigkeiten – und damit die entsprechenden geschlechtsspezifischen Unterschiede – durch Sozialisation in frühen Lebensjahren erworben werden. So demonstrieren Studien, daß Jungen sich schon als Kleinkinder beim Spiel häufiger von ihren Müttern entfernen; später spielen sie relativ oft außerhalb des Hauses. Jungen nehmen also deutlich mehr Raum ein als Mädchen. Charakteristisch dafür sind auch Unterschiede zwischen typisch weiblichem und typisch männlichem Spielzeug: Jungen spielen häufiger mit Bauklötzen und Baukästen und sammeln dabei vermutlich wichtige Erfahrungen im räumlichen Denken.

Interessanterweise untermauern Studien bei Naturvölkern diese Sichtweise. So treten bei Eskimos keine nennenswerten geschlechtsspezifischen Unterschiede auf – vermutlich, weil auch die Frauen auf die Jagd gehen. Um sich in der Arktis orientieren zu können, muß man über eine gut ausgebildete räumliche Kompetenz verfügen.

Eindeutig widerlegt ist heute die in den siebziger Jahren intensiv diskutierte Hypothese, ein rezessives Gen auf dem X-Chromosom sei mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen verknüpft. Hormonelle Einflüsse lassen sich dagegen nachweisen. So schneiden Frauen in den Tests tendenziell um so besser ab, je höher ihr Gehalt an männlichen Hormonen (Androgenen) im Blut ist. Bei einem niedrigen Östrogenspiegel – während der Phase der Menstruation bis kurz vor dem Eisprung – können sie sich Rotationen zudem deutlich besser vorstellen als während des übrigen weiblichen Zyklus.

Neuropsychologische Untersuchungen legen die – ansonsten noch wenig untermauerte – Vermutung nahe, die funktionelle Asymmetrie sei im männlichen Gehirn stärker ausgeprägt als im weiblichen. Räumlich-visuelle Fähigkeiten sind eher in der rechten, verbale hingegen in der linken Hemisphäre lokalisiert. Wenn sich nun bei Frauen die verbalen Funktionen gleichmäßiger auf die beiden Hirnhälften verteilen als bei Männern, bleibt möglicherweise für die räumlichen Fähigkeiten weniger Platz in der rechten Hemisphäre.

Wie man auch über diese Spekulation denken mag, so paßt sie jedenfalls zu einer plausiblen stammesgeschichtlichen Erklärung für die Geschlechtsunterschiede in der räumlichen Kompetenz, welche die Biopsychologin Jerre Levy von der Universität Chicago vorgebracht hat. Demnach spiegelt der Befund die steinzeitliche Arbeitsteilung wider: Männer jagen, während Frauen die Kinder hüten. Unter diesen Umständen bedeuteten eine gute räumliche Orientierung für einen Mann, gute kommunikative Fähigkeiten dagegen für eine Frau einen Selektionsvorteil. Kognitive Spezialisierungen, die sich so in Zehn- bis Hunderttausenden von Jahren entwickelten, sind durch die Aufweichung der Rollenverteilung in der jüngeren Menschheitsgeschichte noch nicht wieder völlig verwischt worden.

Zweifellos existieren geschlechtsspezifische Domänen menschlicher Intelligenz (siehe "Weibliches und männliches Gehirn" von Doreen Kimura, Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 104). Allerdings belegen sie keinesfalls eine generelle geistige Überlegenheit des Mannes oder gar jenen angeblichen "physiologischen Schwachsinn des Weibes", den der Leipziger Neurologe Paul Julius Möbius (1853 bis 1907) noch im Jahre 1900 in einer berüchtigten Abhandlung postulierte. Mag das räumliche Vorstellungsvermögen von Frauen in Teilaspekten auch geringer sein, so zeigt eine Vielzahl von Studien, daß das "schwache" dem "starken" Geschlecht auf anderen Gebieten – wie eben in den verbalen Fähigkeiten – klar überlegen ist.

Lösungen: 1 b, 2 b und c, 3 b und d, 4 d-b-a-c


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1997, Seite 23
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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