Ehrfurcht: Wunder des Alltags
Es gibt sie, diese ganz besonderen Momente. Jeder von uns hat sie schon einmal erlebt. Damals etwa, als das Herzchen des eigenen Babys im Bauch auf dem Bildschirm des Ultraschallgeräts pulsierte. Oder als einem die todkranke Großmutter noch einmal fest die Hand drückte und lächelte. Oder auch an jenem Herbsttag, als die Sonnenstrahlen majestätisch durch das Laubdach des Waldes brachen. In solchen Augenblicken schrumpft das Ich, und wir fühlen uns mit etwas Größerem, Bedeutenderem verbunden – kurz: Wir empfinden Ehrfurcht.
In diesem Wort steckt einerseits Furcht, andererseits hat es auch eine besinnliche, fast feierliche Komponente. Ehrfurcht erleben wir bei ganz verschiedenen Gelegenheiten. Das kann eine einschneidende Erfahrung ebenso wie ein Naturerlebnis sein, eine spirituelle Offenbarung oder einfach die Begegnung mit einem charismatischen Menschen. Das schier unmögliche Tor in der Nachspielzeit gibt manchem Fußballfan zu diesem Gefühl Anlass, und selbst banale Beobachtungen können Ehrfurcht wecken: zum Beispiel, wenn wir einem Kind dabei zusehen, wie es ganz in sein Spiel vertieft ist.
Für forschende Psychologen ist diese komplexe Emotion erst seit relativ kurzer Zeit ein Thema. Im Jahr 2003 stellten Dacher Keltner von der kalifornischen University of Berkeley und sein Kollege Jonathan Haidt eine Theorie der Ehrfurcht vor, die zwei Aspekte umfasst: Größe (englisch: "vastness") und Akkommodation. Größe bedeutet, dass wir etwas erleben, was uns bedeutender oder mächtiger erscheint als wir selbst und unsere Existenz. Mit dem Begriff der Akkommodation beschrieb einst der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896-1980) jenen Prozess, mit dem schon kleine Kinder ihre kognitiven Schemata auf die Realität abstimmen: Begegnen sie beispielsweise einem Tier – sagen wir einer Katze –, welches nicht so recht in ein bereits gelerntes Konzept wie "Wauwau" (Hund) hineinpasst, so bilden sie meist rasch eine neue Kategorie – etwa "Miau" ...
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