Gentechnik: Gezielter Eingriff ins Erbgut
Im Jahr 1973 zeigten der Genetiker Stanley Cohen und der Biochemiker Herbert Wayne Boyer, wie sich das Genom eines Lebewesens verändern lässt. Mit Hilfe von Restriktionsenzymen gelang es den beiden, Frosch-DNA in Bakterien einzuschleusen und dort ablesen zu lassen. Ende der 1970er Jahre produzierte Boyers Unternehmen Genentech bereits Insulin für Diabetiker, und zwar mit Hilfe gentechnisch veränderter Escherichia-coli-Bakterien, die künstlich hergestellte Sequenzen aus dem menschlichen Genom enthielten. Wenig später schufen Forscher am Salk Institute for Biological Studies im kalifornischen La Jolla die erste »transgene« Maus mit eingefügten artfremden Erbgutstücken.
Schon diese frühen Erfolge der Gentechnik hatten großen Einfluss auf die moderne Medizin. Allerdings unterlagen die damaligen gentechnischen Methoden zwei wichtigen Beschränkungen: Sie waren erstens ungenau und ließen sich zweitens nur schwer in großem Maßstab medizinisch anwenden. Das erste Problem überwanden Wissenschaftler in den 1990er Jahren, indem sie Enzyme mit gezielt angepassten Eigenschaften erzeugten, die DNA-Moleküle an ganz bestimmten Stellen schneiden. Dazu mussten sie aber immer noch für jede DNA-Sequenz, die sie ins Visier nahmen, ein dazu passendes Enzym herstellen – eine Zeit raubende, mühsame Arbeit.
Das zweite Problem scheint nun ebenfalls vor einer Lösung zu stehen. 2012 stellten Wissenschaftler um Emmanuelle Charpentier (damals an der Universität Umeå, Schweden) und Jennifer Doudna von der University of California in Berkeley (USA) einen zelleigenen genetischen Mechanismus vor, der es ermöglicht, Genome so einfach und schnell wie noch nie zu verändern. Kurz darauf zeigten andere Forscher, dass man damit mehrere Veränderungen gleichzeitig im Genom einer Zelle vornehmen kann. Bereits jetzt hat diese Entwicklung den gentechnischen Fortschritt massiv beschleunigt, und sie wird sich wohl auch tief greifend auf die Medizin auswirken.
Bezeichnet wird die Technik meist als CRISPR/Cas9, wobei der Ausdruck CRISPR für »clustered regularly interspaced, short palindromic repeats« steht (deutsch: gehäuft auftretende, mit regelmäßigen Zwischenräumen angeordnete, kurze palindromische Wiederholungen). Das sind kurze, sich wiederholende DNA-Sequenzen im Erbgut von Bakterien und Archeen. Sie wechseln sich ab mit ebenfalls kurzen Zwischensequenzen, die ihrerseits übereinstimmen mit DNA-Bauplänen Bakterien infizierender Viren (Bakteriophagen). Mit Hilfe dieses Apparats »erinnern« sich Bakterien an Viren, von denen sie schon einmal attackiert wurden. Wissenschaftler untersuchen CRISPR-Sequenzen, seit japanische Forscher diese in den späten 1980er Jahren entdeckten. Doch welch machtvolles Werkzeug der Gentechnik darin schlummert, zeigte sich erst, als die Teams um Charpentier und Doudna auf ein Protein namens Cas9 stießen.
Charpentier, die heute am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig arbeitet, und Doudna lernten sich 2011 auf einer Konferenz in San Juan (Puerto Rico) kennen. Sie hatten viele Gemeinsamkeiten: Beide leiteten Arbeitsgruppen, die sich mit der Frage beschäftigten, wie Bakterien sich gegen Viren verteidigen. Und beide hatten herausgefunden, dass Bakterien angreifende Viren mit Hilfe eines molekularen »Gedächtnisses« identifizieren: Wenn die Mikroben ihr erstes Zusammentreffen mit einem Bakteriophagen überleben, bauen sie kurze Fragmente aus seiner DNA in ihr Erbgut ein, und zwar zwischen ihre CRISPR-Sequenzen. Auf diese Weise legen Bakterien ein Archiv viraler DNA von früheren Eindringlingen an – und das hilft ihnen, die infektiösen Partikel wiederzuerkennen, sobald diese erneut auftauchen. Allerdings reicht das allein für eine erfolgreiche Virenabwehr nicht aus, die Bakterien benötigen weitere Komponenten hierfür. Und genau darum drehten sich die folgenden Studien Charpentiers und Doudnas.
Kurz nach der Tagung in San Juan entschlossen sich die beiden Forscherinnen, künftig zusammenzuarbeiten. Charpentier und ihre Mitarbeiter überprüften Hinweise, wonach Streptokokken (Bakterien der Gattung Streptococcus) ein Protein namens Cas9 benutzen, um eindringende Viren zu eliminieren. Doudnas Team hingegen widmete sich der Frage, wie Cas9 funktioniert.
Zerschnitten und wieder zusammengeflickt
Es stellte sich heraus, dass Krzysztof Chylinski, ein Mitarbeiter Charpentiers, und Martin Jinek, damals in Doudnas Team, in benachbarten Städten aufgewachsen waren und denselben polnischen Dialekt sprachen. »Sie konferierten über Skype, verstanden sich gut und tauschten von da an Daten und Ideen aus«, erzählt Doudna. »Die Zusammenarbeit unserer Gruppen nahm hierdurch deutlich an Fahrt auf.«
Den Wissenschaftlern beider Teams wurde schon bald klar: Cas9 könnte sich als nützliches Instrument zum Manipulieren des Genoms erweisen. Zwar gab es bereits gentechnische Werkzeuge in Form von Enzymen namens Nukleasen, die den DNA-Doppelstrang an bestimmten Stellen schneiden, worauf die zelluläre Maschinerie den Schnitt repariert und dabei manchmal genetisches Material einbaut, das zuvor in den Zellkern eingeschleust wurde. Doch als Doudna und Charpentier ihre Zusammenarbeit begannen, bestand der am weitesten entwickelte Ansatz darin, maßgeschneiderte Enzyme herzustellen, die den jeweils interessierenden DNA-Abschnitt selektiv durchtrennten. Jede genetische Modifikation benötigte also ein eigenes Enzym.
Das Streptokokken-Enzym Cas9 hingegen funktioniert anders, wie Doudna und Charpentier erkannten: Es begibt sich nicht von selbst zum jeweiligen Zielort auf der DNA, sondern wird von RNA-Molekülen dorthin geleitet – solchen RNAs nämlich, die durch Ablesen der CRISPR-Sequenzen und ihrer Zwischensequenzen entstehen. Der Komplex aus Cas9 und RNA gleitet dabei auf dem DNA-Strang (etwa dem eines eindringenden Virus) entlang. Jedes Mal, wenn er eine kurze Signalsequenz aus drei Nukleotiden erkennt, stoppt er kurz. Passt die Basenabfolge in der Umgebung dieser Stelle zu jener der RNA des Komplexes, schneidet Cas9 den DNA-Strang – falls nicht, wandert der Komplex weiter.
Würde man sich diese natürliche Maschinerie zu Nutze machen, überlegten Charpentier und Doudna, könnte man allein über die Sequenz der RNA vorgeben, wo der Komplex den DNA-Strang kappt. Man müsste also nicht mehr für jeden Ort, an dem man schneiden will, ein eigenes Enzym konstruieren. Dies würde gentechnische Eingriffe viel einfacher, billiger und schneller machen.
Nach monatelangen Forschungsarbeiten schafften die Wissenschaftlerinnen den Durchbruch. Doudna hat den Moment noch lebhaft in Erinnerung. Jinek, damals Postdoc, hatte eine Testreihe mit Cas9 abgeschlossen und kam in Doudnas Büro, um mit ihr über die Ergebnisse zu sprechen. Dabei streiften sie ein Thema, das er bereits mit Chylinski erörtert hatte: Unter natürlichen Bedingungen nutzen Streptokokken nicht nur eine RNA, um Cas9 zur gewünschten Stelle auf der DNA zu dirigieren, sondern zwei davon. Wie wäre es, überlegten die Forscher, wenn man beide zu einem einzigen, künstlich hergestellten Strang zusammenfasste, einer so genannten Leit-RNA? Das hätte den Vorteil, dass man nur noch mit einem Zweikomponentensystem aus Leit-RNA und Cas9 umgehen würde – und dass man lediglich die Leit-RNA verändern müsste, um den Komplex, den sie mit Cas9 bildet, zu einem anderen Ort auf der DNA zu lenken.
»Es war einer dieser Momente, da sieht man die Daten, und irgendwas macht klick!«, sagt Doudna. »Uns wurde klar, dass wir die Leitsequenzen in einem Molekül vereinen konnten. Ein einziges Protein und ein einziges Leitmolekül ergäben zusammen ein äußerst leistungsfähiges gentechnisches Werkzeug. Mir lief es kalt den Rücken herunter, und ich dachte: du liebe Güte, wenn das klappt …«
Es klappte. Und zwar so gut, wie es sich Doudna bei aller Begeisterung nicht hatte träumen lassen. Als Charpentier und sie am 17. August 2012 gemeinsam die Ergebnisse ihrer CRISPR/Cas9-Forschungen veröffentlichten, erkannten Fachkollegen sofort, welches Potenzial darin steckte. Ein globaler Wettlauf kam in Gang, um die neue Methode in verschiedenen Anwendungen zu testen.
Bereits 2013 hatten die Wissenschaftler so große Fortschritte gemacht, dass sie CRISPR/Cas9 nicht nur an Bakterien einsetzen konnten, sondern auch an den viel komplexeren Zellen von Pflanzen und Tieren. Man spekulierte sogar darüber, Neandertaler und Wollhaarmammuts gentechnisch zu rekonstruieren. An der Harvard University machte sich ein Team unter Leitung des Genetikers George Church daran, mittels CRISPR/Cas9 die Erbanlagen in menschlichen Zellen zu verändern, womit sich neue therapeutische Möglichkeiten eröffneten.
Flotten Schritts zur Kommerzialisierung
Wie nicht anders zu erwarten, floss nun immer mehr Geld in die CRISPR/Cas9-Forschung. Ende 2013 tat sich Doudna mit George Church, Feng Zhang vom MIT (Massachusetts, USA) und anderen Wissenschaftlern zusammen, um das Unternehmen Editas Medicine zu gründen. Die Firma verfolgt das Ziel, auf der Basis der CRISPR/Cas9-Methode neue Medikamente gegen ein breites Spektrum genetisch bedingter Erkrankungen zu entwickeln. Im April 2014 ging das Unternehmen CRISPR Therapeutics in Basel und London an den Start, das ähnliche Ziele wie Editas Medicine hat. Bis diese Firmen neue Therapieverfahren entwickelt haben, werden noch Jahre vergehen. Laborzulieferer bieten aber bereits injektionsfertige CRISPR/Cas9-Sets an und liefern auf Bestellung auch CRISPR/Cas9-modifizierte Mäuse, Ratten und Kaninchen.
Im Jahr 2014 besuchte ich die SAGE Labs in St. Louis, eines der ersten Unternehmen, welche die CRISPR/Cas9-Technologie in Lizenz einsetzen, um Nagetiere gentechnisch zu manipulieren (es wurde inzwischen von der englischen Horizon Discovery Group übernommen). Die Wissenschaftler, die dort arbeiten, erhalten Onlinebestellungen, beispielsweise von einem Labor im kalifornischen Sacramento, das 20 Pink1-Knockout-Ratten ordert, um an den Tieren verschiedene Aspekte der Parkinsonkrankheit zu erforschen. In einem Nebengebäude sind Ratten mit diesem Gendefekt untergebracht – ebenso wie andere Nager, die per CRISPR/Cas9-Technik genetisch manipuliert wurden, um sie zu Modellorganismen für Schizophrenie oder Schmerzerkrankungen zu machen. Nach Eingang der Bestellung suchen die Mitarbeiter die gewünschte Anzahl Ratten der richtigen Sorte heraus und verschicken sie per Luftfracht.
Manchmal benötigt ein Kunde jedoch gentechnisch veränderte Nager, die nicht vorrätig sind. Möchte er etwa einen bisher unbeachteten Zusammenhang zwischen der Parkinsonkrankheit und einem bestimmten Gen beziehungsweise einer spezifischen Mutation untersuchen, hat er bei der Bestellung diverse Möglichkeiten. Die SAGE-Wissenschaftler können mit CRISPR/Cas9 das Gen zum Beispiel abschalten, gezielt eine Mutation in ihm erzeugen oder es durch ein menschliches Allel ersetzen. Bei etlichen Krankheiten, von Parkinson über Mukoviszidose bis hin zu Aids, sind eine Vielzahl genetischer Varianten beteiligt, und all diese komplexen Mutationen nacheinander in lebenden Tieren zu erzeugen, dauerte früher bis zu einem Jahr. CRISPR/Cas9 hingegen erlaubt es den Wissenschaftlern, multiple genetische Veränderungen auf einen Schlag vorzunehmen, indem sie zeitgleich mehrere solcher Komplexe mit verschiedenen Leit-RNAs injizieren. Das reduziert die Zeitspanne auf wenige Wochen.
Zunächst stellen die Wissenschaftler maßgeschneiderte Leit-RNA(s) her. Dann fügen sie diese und Cas9 zu einem molekularen Komplex zusammen: dem CRISPR/Cas9-Werkzeug. Dieses Konstrukt testen die Forscher ungefähr eine Woche lang, indem sie es mit Hilfe kurzer, starker Spannungspulse in tierische Zellen einschleusen. Dort schneidet der Komplex die zelluläre DNA. Wenn die Zelle den Schnitt repariert, werden zusätzliche Nukleotide ins Erbmolekül eingebaut oder Teile der DNA-Sequenz entfernt.
CRISPR/Cas9 erzeugt allerdings nicht in allen behandelten Zellen solche Mutationen. Um festzustellen, wie effizient der Komplex gearbeitet hat, extrahieren die Wissenschaftler die DNA-Moleküle aus den Zellen und untersuchen diese mit molekularbiologischen Methoden. Am Ende der Prozedur steht ein Signal auf einem Computermonitor, das umso heller leuchtet, je mehr DNA-Moleküle CRISPR/Cas9 verändert hat.
Mit dem in vitro getesteten Werkzeug erzeugen die Wissenschaftler nun genetisch abgewandelte Embryonen. Hierfür injizieren sie CRISP/Cas9-Komplexe in einen der beiden Vorkerne einer befruchteten Eizelle. Die Mutationen, die das Werkzeug dort erzeugt, betreffen somit den gesamten Embryo, der aus der befruchteten Eizelle entsteht.
Embryonenforschung mittels CRISPR/Cas9 sorgt für Aufregung
Im April dieses Jahres berichteten chinesische Forscher als erste weltweit, sie hätten mit gentechnischen Methoden gezielt ins Erbgut menschlicher Embryonen eingegriffen. Sie nutzten die CRISPR/Cas9-Methode, um ein Gen zu verändern, das in mutierter Form die schwere Blutkrankheit Beta-Thalassämie verursachen kann. Die Studie, die in der Fachzeitschrift »Protein & Cell« erschien, löste unter Forschern eine breite Debatte darüber aus, wie weit gentechnische Eingriffe noch ethisch vertretbar sind.
Diskutiert wurde auch, ob derartige Forschungsergebnisse überhaupt veröffentlicht werden sollten. Laut Junjiu Huang, dem federführenden Autor der chinesischen Studie, lehnten die Fachzeitschriften »Nature«und »Science« eine Publikation ab, unter anderem wegen ethischer Bedenken. »Protein & Cell« hingegen nahm den Artikel nur zwei Tage nachdem die Chinesen ihn eingereicht hatten zur Veröffentlichung an.
Die Studie lieferte sehr durchwachsene Ergebnisse. Die Wissenschaftler experimentierten mit nicht überlebensfähigen Embryonen, die bei künstlichen Befruchtungen erzeugt worden waren. Sie behandelten 86 davon mit der CRISPR/Cas9-Technik, um ein bestimmtes Gen zu verändern, und ließen die Embryonen sich anschließend weiter entwickeln. 48 Stunden später hatten noch 71 überlebt, von denen 54 genetisch getestet wurden. Bei nur 4 Embryonen war das Gen wie gewünscht modifiziert worden. Zudem hatte das CRISPR/Cas9-System nicht bloß die Zielsequenz, sondern auch andere Stellen im Erbgut verändert, was das Risiko gefährlicher Mutationen birgt. Insgesamt lieferte die Studie einen deutlichen Beleg dafür, dass die Methode für gentechnische Eingriffe an Embryonen noch nicht ausgereift ist.
Unterdessen verlängert sich die Liste der Arten, bei denen Forscher mit Hilfe von CRISPR/Cas9 erfolgreich ins Genom eingegriffen haben. Entsprechende Ergebnisse liegen nicht nur von üblichen Modellorganismen wie Taufliegen und Mäusen vor, sondern unter anderem auch von Pilzen (Candida albicans), Wirbeltierparasiten (Trypanosomen und Kryptosporidien), Nutzpflanzen (Reis, Weizen, Orangen) und Nutztieren (Minischweine, Rinder, Ziegen). Schon seit Längerem arbeiten Wissenschaftler auch an CRISPR/Cas9-Varianten, indem sie das Enzym Cas9 oder die Leit-RNA verändern, beispielsweise durch Verknüpfen der Leit-RNA mit Transkriptionsfaktoren. Diese modifizierten Systeme schneiden die Zielstruktur auf der DNA nicht mehr, sondern kurbeln die Expression des jeweils anvisierten Gens an, und zwar mitunter mehr als 100-fach.
Frank Schubert
Protein & Cell 6, S. 363-372, 2015
Nature 520, S. 593-594, 2015
Nature 522, S. 20-24, 2015
Gentechnik für die Massen
Die Embryonen wachsen zunächst in temperierten Brutschränken heran, bevor die SAGE-Mitarbeiter sie Rattenweibchen einpflanzen. Jede dieser »Leihmütter« bekommt 30 bis 40 Embryonen eingesetzt, von denen sie 20 Tage später 5 bis 20 als Jungtiere zur Welt bringt. Im Alter von zehn Tagen entnehmen die Wissenschaftler diesen Gewebeproben, um zu ermitteln, welche davon die beabsichtigte Genmutation tragen. »Das ist der spannende Teil«, sagt Brown. »Manchmal weisen wir nur in einem von 20 Tieren die Veränderung nach.« Doch angesichts der enorm großen Zahl von Embryonen, deren Erbgut man auf diese Weise verändern kann, handelt es sich in der Tat um eine Gentechnikmethode »für die Massen«, wie David Smoller, Geschäftsführer bei SAGE, es formuliert.
Nachdem die CRISPR/Cas9-Technik in zunehmendem Maß kommerziell eingesetzt wird, spekulieren Wissenschaftler und Unternehmer über immer neue Anwendungsgebiete, und manche davon erscheinen wie Hybris. So besteht theoretisch die Möglichkeit, krank machende Mutationen, die auf den Embryo vererbt wurden, in der frühen Schwangerschaft zu korrigieren. Auch erlaubt die Methode im Prinzip, resistente Unkräuter anfällig für Herbizide zu machen oder gar ausgestorbene Tierarten wieder zum Leben zu erwecken. Solche Gedankenspiele wirken auf viele beängstigend. Medienschlagzeilen wie »Eine großartige Möglichkeit, Gott zu spielen« künden von der Furcht davor, Wissenschaftler könnten in ihrem Bemühen, etwa die Welt von Malariamücken zu befreien oder die Huntington-Krankheit zu heilen, jede Menge Erbanlagen mit brandgefährlichen Mutationen in die Welt setzen.
Die Idee, Malariamoskitos auszurotten, verfolgen mehrere Forschergruppen. Ihr Ansatz: eine schädliche Mutation auf einem Chromosom im Erbgut der Insekten verursachen und dann das Schwesterchromosom an der entsprechenden Stelle schneiden, so dass das zelluläre Reparatursystem die Mutation auf dieses kopiert. Infolgedessen erben praktisch alle Nachkommen die genetische Veränderung, die sich nun extrem schnell in der Population verbreitet. Auf diese Weise könnte man die Mückenpopulation rasch ausrotten und mit ihr die Malariaparasiten. Doch Todd Kuiken, Experte für biologische Sicherheit am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington, warnt vor diesem Ansatz. Man müsse Sorge tragen, mit dem Verfahren nicht zehn neue Probleme zu schaffen, meint er. Die Veränderung oder gar Ausrottung einer ganzen Population könnte drastische, unvorhersehbare Konsequenzen für das betroffene Ökosystem haben, zumal sie wohl nicht umkehrbar sei.
Viele Wissenschaftler haben diese potenziellen Gefahren bereits erkannt. Als Forscher der Harvard University (USA) im Juli 2014 einen Artikel veröffentlichten, in dem es darum ging, mit Hilfe der CRISPR/Cas9-Technik Malariamücken auszurotten, initiierten sie auch eine öffentliche Diskussion darüber und schlugen technische und juristische Maßnahmen für den Fall vor, dass die gentechnischen Eingriffe unkontrollierbare Konsequenzen haben. »Die CRISPR-Technik stößt eine unglaublich schnelle Entwicklung an«, sagt Jeantine Lunshof, Bioethikerin an der Harvard University. »Viele Menschen haben noch nicht davon gehört, aber es wird schon in großem Maßstab genutzt.« In Berkeley hat sich auf Betreiben Doudnas ein Team zusammengefunden, das gezielt die ethischen Konsequenzen von CRISPR/Cas9-Anwendungen diskutiert.
Trotz alledem überwiegt die Begeisterung ob der therapeutischen Möglichkeiten der neuen Technik. Mitte 2014 berichteten Wissenschaftler vom MIT, sie hätten Mäuse von der Tyrosinämie geheilt – einer seltenen Stoffwechselerkrankung –, indem sie ihnen das CRISPR/Cas9-Werkzeug einfach in den Schwanz injizierten. Sie verabreichten drei verschiedene Leit-RNAs zusammen mit Cas9 sowie der intakten Version des in den Tieren mutierten Gens. Damit gelang es ihnen, die funktionsfähige DNA in das Erbgut etwa einer von 250 Zellen der Leber einzuschleusen. Im darauf folgenden Monat vermehrten sich diese gesunden Leberzellen, bis sie im Gewebeverband schließlich ein Drittel der kranken ersetzt hatten – genug, um die Mäuse von den Symptomen zu befreien.
Wenig später berichteten Wissenschaftler der Temple University (Pennsylvania, USA), sie hätten die Sequenz des Aidserregers HIV mit Hilfe von CRISPR/Cas9 aus dem Genom mehrerer menschlicher Zelllinien herausgeschnitten. Für den Virologen Kamel Khalili, der diese Arbeiten leitete und seit den 1980er Jahren nach Ansätzen gegen HIV und Aids sucht, ist die CRISPR/Cas9-Technik geradezu revolutionär. Obwohl man in der Aidsbehandlung große Fortschritte gemacht hat, kann man HIV-Infektionen mit den heutigen Mitteln nur unter Kontrolle halten, aber nicht heilen. Das CRISPR/Cas9-Verfahren hingegen erlaubte es Khalili und seinem Team, die HIV-DNA, die sich ins Erbgut der Zellen integriert hatte, vollständig daraus zu entfernen und somit infizierte Zellen in gesunde umzuwandeln.
Zudem, so der Virologe, könne man auch gesunde Zellen vor einer Infektion mit dem Virus schützen. Hierfür müsse man die Zellen immunisieren, indem man kurze Sequenzen aus dem Genom des angreifenden Virus in sie einbaut, ähnlich wie das bei Bakterien zu beobachten ist, die sich mit viralen DNA-Fragmenten vor angreifenden Viren schützen. Man könne von einer Art genetischem Impfstoff sprechen. »Das wäre die ultimative Heilung«.
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