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Persönlichkeit: Der Streit um die Feinfühligkeit

Ist "hochsensibel" nur eine freundliche Umschreibung für einen neurotischen Charakter? Oder gibt es tatsächlich eine grundlegende Eigenschaft, die Menschen besonders empfänglich für Umweltreize macht? Noch sind Wissenschaftler uneins.
Nachdenklich

Im Jahr 1987 ließ sich die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron operieren. Der Eingriff nahm sie emotional ungewöhnlich stark mit. Ihr Arzt empfahl ihr daraufhin, sich in psychologische Behandlung zu begeben. Die konsultierte Therapeutin konnte jedoch keine krankhaften Auffälligkeiten bei Aron feststellen. Sie bezeichnete ihre Patientin schlicht als "hochsensibel" – und legte damit nichts ahnend den Grundstein für ein neues Forschungsfeld. Rund zehn Jahre später beschrieb Aron gemeinsam mit ihrem Ehemann Arthur, ebenfalls Psychologe, erstmals Menschen, die Reize intensiver wahrnehmen und anders verarbeiten als die meisten anderen: Das Konstrukt Hochsensibilität war geboren.

Heute ist der Begriff in aller Munde. Ratgeberbücher und Coaching-Programme für besonders Feinfühlige fluten den Markt. Im Internet kursieren Vermutungen, Genies wie Richard Wagner oder Charlie Chaplin seien hochsensibel gewesen. Sätze wie "Du bist immer so empfindlich" scheinen durch die Arbeiten von Elaine Aron ihren negativen Beigeschmack verloren zu haben. Hochsensibilität wirkt plötzlich wie ein besonderes Talent, wertvoll und erstrebenswert, ähnlich wie Hochbegabung – und wird tatsächlich oft fälschlicherweise mit dieser in Verbindung gebracht.

Die wissenschaftlichen Grundlagen des Phänomens sind allerdings umstritten. "Die Forschung ist dünn", urteilt etwa Jens Asendorpf, emeritierter Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Überraschend wenige Veröffentlichungen haben sich seit Elaine Arons erfolgreichem Buch von 1996 mit der Hochsensibilität beschäftigt. "Die Praxis ist hier viel weiter als die Forschung", sagt dazu die Psychologin Sandra Konrad. Sie leitet an der Bundeswehruniversität in Hamburg das einzige deutsche Forschungsprojekt zur "höheren sensorischen Verarbeitungssensitivität", wie das Phänomen in der Fachsprache heißt (englisch: sensory-processing sensitivity). ...

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  • Quellen

Acevedo, B. P. et al.: The Highly Sensitive Brain: An fMRI Study of Sensory Processing Sensitivity and Response to Others’ Emotions. In: Brain and Behavior, Brain and Behavior 4, S. 580-594, 2014

Aron, E. N., Aron, A.: Sensory-Processing Sensitivity and Its Relation to Introversion and Emotionality. In: Journal of Personality and Social Psychology 73, S. 345-368, 1997

Aron, E. N. et al.: Sensory Processing Sensitivity: A Review in the Light of the Evolution of Biological Responsivity. In: Personality and Social Psychology Review 16, S. 262-282, 2012

Asendorpf, J.:Psychologie der Persönlichkeit. (4. Auflage). Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2007

Blach, C.:Ein empirischer Zugang zum komplexen Phänomen der Hochsensibilität. Disserta Verlag, Hamburg 2016

Blach, C., Egger, J. W.: Hochsensibilität - ein empirischer Zugang zum Konstrukt der hochsensiblen Persönlichkeit. In: Psychologische Medizin 3, S. 4-16, 2014

Evans, D. E., Rothbart, M. K.: Temperamental Sensitivity: Two Constructs or One? In: Personality and Individual Differences 44, S. 108-118, 2008

Jagiellowicz, J. et al.: The Trait of Sensory Processing Sensitivity and Neural Responses to Changes in Visual Scenes. In: Social Cognitive and Affective Neuroscience, doi:10.1093/scan/nsq001, 2010

Smolewska, K. A. et al.: A Psychometric Evaluation of the Highly Sensitive Person Scale: The Components of Sensory-Processing Sensitivity and Their Relation to the BIS/BAS and "Big Five". In: Personality and Individual Differences 40, S. 1269-1279, 2006

Sobocko, K., Zelenski, J. M.: Trait Sensory-Processing Sensitivity and Subjective Well-Being: Distinctive Associations for Different Aspects of Sensitivity. In: Personality and Individual Differences 83, S. 44-49, 2015

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