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Greifprothese Freehand: „Ein Stück Freiheit für den Patienten“

Interview mit Hans Jürgen Gerner, ärztlicher Direktor der Abteilung II der Orthopädischen Universitätsklinik in Heidelberg, und Thomas Meiners, Chefarzt am Zentrum für Rückenmarkverletzte der Werner-Wicker-Klinik in Bad Wildungen. Beide entwickeln in enger Zusammenarbeit chirurgische Techniken, um Patienten mit gelähmten Armen und Händen ein Mindestmaß an Selbständigkeit zurückzugeben. In diesem Rahmen verwenden sie als erste in Deutschland die amerikanische Neuroprothese „Freehand“.


Spektrum der Wissenschaft: Herr Dr. Meiners, obwohl ich nicht das Gefühl habe, eine sonderliche Leistung zu vollbringen, erfordert das Halten des Schreibstiftes einiges an Koordination.


Dr. Thomas Meiners: Richtig. Schreiben mit der Hand ist eine komplizierte Angelegenheit. Insgesamt muß das Gehirn 37 Muskeln aufeinander abstimmen, die teilweise der Hand selbst zugehören, teilweise aber auch am Unterarm ansetzen. Und wenn Sie den Stift nicht nur greifen, sondern auch damit nach den abendländischen Regeln schreiben, nämlich innerhalb einer Zeile von links nach rechts und zeilenweise von oben nach unten, kommen noch einmal 20 Muskeln dazu, die dafür sorgen, daß sich der Unterarm im Ellbogen- und der Oberarm im Schultergelenk entsprechend bewegt.


Spektrum: Aufeinander abstimmen – wie macht das unser Gehirn?


Meiners: Nun, der Bewegungsapparat ist ein recht komplexes, biomechanisches Gebilde, bei dem bestimmte Muskeln über ihre Sehnen zwar am gleichen Gelenk ansetzen, aber gegeneinander arbeiten – der eine als Beuger, der andere als Strecker. Erst dieser Antagonismus ermöglicht feine Bewegungsabläufe. All diese Abstimmungen, welcher Muskel wie stark kontrahieren soll, leisten motorische Zentren im Gehirn, wobei gewisse immer gleiche Abläufe vereinfacht gesagt als abrufbare Programme vorhanden sind und durch das Kleinhirn angepaßt werden. Natürlich brauchen diese Instanzen auch Informationen, etwa über den momentanen Kontraktionszustand eines Muskels oder über die gesamte Bewegung. Dazu erhalten sie Meßwerte von Sensoren im Körper wie auch Rückmeldungen von der Verarbeitung der Bilder unserer Augen. Im Rückenmark schließlich werden die vom Gehirn zu den Muskel und umgekehrt ziehenden Nervenbahnen verschaltet.


Spektrum: Und wenn diese Nahtstelle unterbrochen ist, wird es schlimm für den Menschen ...


Prof. Hans Jürgen Gerner: Vor allem bei Verletzungen im Bereich der Halswirbelsäule, dem aus 7 Wirbeln bestehenden obersten Bereich dieses knöchernen Rückenmarksschutzes. Zunächst ist es einfach so, als würden Telephonleitungen durchschnitten und somit ein großer Teil der Anschlüsse von der Zentrale abgetrennt. Bei Verletzungen auf der Höhe des 7. Halswirbels kann das Gehirn dann nur noch 4 bis 5 der genannten 37 Muskeln ansprechen, noch ein Wirbel darüber bleiben 2 bis 3 und ab dem 5. Halswirbel kein Muskel mehr. Ein solcher, an allen vier Gliedmaßen gelähmter Mensch erleidet ein schreckliches Schicksal, denn er ist nicht nur völlig auf fremde Hilfe angewiesen, die Hand ist ja auch ein Organ, mit dem der Mensch seine Umwelt erfährt. Nicht umsonst sprechen wir vom "Begreifen".


Spektrum: Und diese Fähigkeit wird die Neuroprothese "Freehand" zurückgeben?


Gerner: Der Name, den Ärzte und Ingenieure der Case Western Reserve University und des Veteran Affairs Medical Center in Cleveland (US-Bundesstaat Ohio) gewählt haben, klingt vielleicht etwas vollmundig, doch ich glaube, im Endeffekt gibt es tatsächlich ein Stück Freiheit für den Patienten. Was wir im günstigsten Fall zurückgeben können, sind Basisfunktionen der Hand: Handheben, Schlüssel- und Zylindergriff.


Spektrum: Was ist darunter zu verstehen?


Meiners: Betrachten wir doch einmal Ihre Schreibhand, die den Stift hält. Während Sie schreiben, bewegt sie sich im Handgelenk auf und ab. Den Stift fixieren Sie durch Druck des Daumens gegen den Zeigefinger, das ist der Zangengriff. Außerdem dienen die gekrümmten anderen Finger als Gegenlager. So eine Beugung der langen Finger ermöglicht auch das Greifen zylindrischer Objekte wie Tassen oder Dosen, deshalb der Name Zylindergriff. Diese drei Funktionen bilden die Grundlage jedes Griffs der Hand.


Spektrum: Und wie kann die Technik über die Unterbrechung der Nervenfasern hinweghelfen?


Gerner: Wir haben insgesamt acht implantierbare Elektroden, die noch intakte, aber vom Gehirn abgekoppelte Muskeln durch elektrische Spannungen zur Kontraktion anregen können. Den Input des Gehirns erhalten diese Elektroden über einen Umweg: Der Patient spannt willentlich Schultermuskeln an, denn die sind erst ab einer Verletzung des 4. bis 5. Halswirbels vollständig gelähmt. Das registriert ein externer Meßfühler auf dem Schultergelenk und ein Computer erzeugt schließlich die Steuerimpulse. Natürlich muß ein Patient den Gebrauch im Rahmen einer Rehabilitation erst lernen.


Spektrum: Das klingt schon fast ein bißchen zu einfach. Wo liegen die Knackpunkte?


Meiners: Sie brauchen Muskeln, die sich elektrisch erregen lassen. Muskeln und die zu ihnen führenden Nerven bilden aber eine Einheit, und wenn Nerven zugrunde gehen, verändern sich auch die zugehörigen Muskelfasern. Im Klartext: Alle Muskeln, die vom direkten Umfeld der Verletzung des Rückenmarks versorgt werden, fallen für die Neuroprothese aus. Verwendbar sind nur die, deren Nerven unterhalb der Läsion sitzen und die noch erregbar sind. Deshalb erfordert "Freehand" auch ganz besondere chirurgische Techniken.


Spektrum: Denervierte Muskeln können auch die Götter in Weiß nicht wieder lebendig machen, woher nehmen Sie also die erregbaren Fasern?


Meiners: Wir verlegen innervierbare Muskeln und nähen ihre Sehnen an andere Ansatzpunkte. Diese Vorgehensweise basiert auf Verfahren, die Erik Moberg aus Göteborg und Eduardo Zancolli aus Buenos Aires in der Handchirurgie entwickelt haben. Ein Beispiel: Nehmen wir an, Sie können infolge einer Lähmung nur noch die Hand heben, aber die Muskeln des Daumenballens, die gemeinsam mit anderen für den Schlüsselgriff zuständig sind, sind nicht mehr anzusteuern. Nun lassen Sie einmal die Hand schlaff hängen und heben sie dann langsam an. Sie werden sehen, daß infolge einer natürlichen Vorspannung der Sehnen der Daumen sich automatisch in Richtung Zeigefinger bewegt. Indem wir die Sehnen anders verspannen und einen verbliebenen gesunden Muskel anstelle des langen Daumenbeugers annähen, können wir einen Zangengriff erreichen. Ähnlich verlegen wir auch intakte Muskeln und verspannen Sehnen, um die Neuroprothese zu optimieren.


Gerner: Das ist natürlich immer eine sehr individuelle Angelegenheit und erfordert ein hohes Maß chirurgischer Fertigkeit.


Spektrum: Seit 1997 ist "Freehand" in den USA und seit diesem Jahr in Europa zugelassen. Prof. Gerner, Sie haben es in Deutschland als Erster eingesetzt.


Gerner: Das ist richtig. Unser Patient war in Höhe des 5. Halswirbels verletzt und kann mittlerweile nach Operation und Rehabilitation alle genannten Basisfunktionen ausüben. Weltweit nutzen inzwischen mehr als 100 Querschnittgelähmte "Freehand".


Spektrum: Wir leben in Zeiten knapper Kassen. Wie teuer ist die Prothese?


Meiners: Je nach Ausstattung und je nach Aufwand für die Operation kommen sie auf 45000 bis 50000 Mark, die Weiterbehandlung nicht mitgerechnet. Das System gehört nicht zum Katalog der Leistungen, welche die Krankenkassen übernehmen müssen, wird aber von Fachleuten als Maßnahme akzeptiert, die einen Vorwärtssprung in der Lebensqualität für den Patienten bedeutet. Einem Urteil des Bundessozialgerichts zufolge müßten die Kassen deshalb die Kosten tragen. Im Endeffekt bedeutet das derzeit, daß der behandelnde Arzt für jeden Patienten mit dessen Krankenkasse verhandeln muß.


Spektrum: Hat so eine HighTech-Prothese dann überhaupt eine Zukunft?


Gerner: Das wollen wir doch hoffen. Auf keinen Fall darf sich unser Gesundheitswesen dahin entwickeln, daß ein Tetraplegiker deshalb nicht einmal einen Löffel zum Mund führen kann, weil er nicht privat versichert ist und das Geld nicht aufbringen kann. Im Gegenteil, wir hoffen, daß die Entwicklung weiter gehen wird. Eine implantierbare und intelligentere Steuerelektronik dürfte der nächste Schritt sein


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1999, Seite 100
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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