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Gummi. Die elastische Faszination.

Nicolai, Berlin 1995.
384 Seiten, DM 68,-.

In den letzten Jahren fanden in Technikmuseen nicht allzu viele Ausstellungen statt, die so konsequent und mit einer solchen Freude am historischen Detail gestaltet wurden wie jene vom Berliner Museum für Verkehr und Technik sowie vom Deutschen Hygiene-Museum in Dresden zum Thema Gummi. Wie der Leiter des Dresdner Museums darlegte, galt es, "den oft eingezwängten Horizont eines Technikmuseums" aufzubrechen und "die aktuelle gesundheitliche Aufklärung eines Hygiene-Museums auf die frühzeitliche und ethnologische Dimension der Geschichte" auszuweiten. Ich – selbst Museumsbeamter – muß neidvoll gestehen, daß dies auch in Ausstellung und Katalog (dem vorliegenden Buch) rundum gelungen ist.

Beim Lesen der mehr als siebzig reich bebilderten Artikel wird einem erst richtig bewußt, welch phantastisch vielfältiger Werkstoff Gummi ist – und zugleich so alltäglich, daß man selten genug auf die Idee kam, Objekte aus diesem Stoff rechtzeitig und konsequent zu sammeln. Dabei waren diese zum Teil von einsam seltsamer Schönheit wie die Hartgummi-Büste des Alexander von Humboldt, die 1873 die Harburger Gummi-Kamm-Comp. in den Handel brachte, nur noch überboten von einer neugotischen Hartgummi-Madonna von 1875.

Was eigentlich mag einst die Firma Dr. Traun bewogen haben, ihren Zahnkautschuk – für Gaumenplatten und dergleichen – ausgerechnet unter dem Markennamen "Walroß" unters Volk zu bringen? Fassungslos erfährt man, daß 1851 die Firma Nelson Goodyear ganze Zimmereinrichtungen aus Hartgummi – Tische, Stühle, Truhen und Betten – anbot; aber auch Hartgummiplaketten mit so herzigen oder erhebenden Motiven wie "Amor mit Bogen" und "Beethoven mit Lorbeerkranz" waren zu haben.

Seither hat sich das Sortiment verändert. So geht der Katalog dem fetischistischen Lusterlebnis der "zweiten Haut" in Gestalt eines Korsettrocks (Bild) nach sowie den Schuld- oder Akzeptanzgefühlen der Gummifetischisten. Doch spätestens in der Gummizelle einer Untersuchungshaftanstalt des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit oder gar im sogenannten U-Boot, einer gummiausgekleideten "Wasserzelle" zur drastischen Beruhigung von Staatsfeinden, wird einem die weniger lustvolle Seite des Gummis schnell bewußt; und der Gummiknüppel, als "zivilisierter Säbel" von Polizisten im Umgang mit Demonstranten genutzt, weckt zwiespältige Gefühle.

Gerne wird Gummi als zweideutige Metapher bemüht. Unter einem "elastischen Zeitgenossen", der "Gummi als Verhaltensprinzip" pflegt, kann man einen Schlangenimitator oder einen Kautschukartisten sehen wollen, aber auch einen extrem angepaßten, rückgratlosen Karrieristen. Auch dürfte die Nützlichkeit von "Gummiparagraphen" davon abhängen, auf welcher Seite des Gesetzes sich der Betrachter gerade befindet.

Diese Zwiespältigkeit sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß Gummi und Produkte daraus von einer geradezu unerschöpflichen Nützlichkeit sind, und das in naheliegenden wie in abartig anmutenden Bereichen. So erlaubte die Dehnbarkeit des Materials 1887 die Konstruktion des "Vigor Muskelstärkers". Überzeugender war hingegen der Gebrauchswert von Automobilreifen. Wundervoll, geradezu prächtig bemühte die Reklame dafür teils geballte Erotik, teils Apotheose des Fortschritts. Dank dem Katalog erfährt man auch, wie Charles MacIntosh aussah, jener legendäre Erfinder der ersten "water-proofed double textures". Ohne die isolierenden Eigenschaften von Gummi und Guttapercha wären die meisten neuen Anwendungen der Elektrotechnik im vorigen Jahrhundert nicht möglich gewesen. Besonders eindrucksvoll: das Verlegen von Transatlantikkabeln.

Bedrückend gespenstisch und eine eindrucksvolle Demonstration menschlicher Dummheit ist die Geschichte der Gasmaske; die Photographie "Mutter und Kind mit der Volksgasmaske 37 (VM 37) bei einer Schutzübung" läßt es einem kalt über den Rücken laufen. Dagegen kann man aufblasbare Gummi-Attrappen von Kriegsgerät schon wieder eher komisch finden. Fassungslos macht wiederum das Kapitel "Blutgummi aus Auschwitz. Das Buna-Werk IV und die Pflanzenkautschukforschung der SS" über die Nazi-Greuel in dem zu Auschwitz gehörigen Arbeitslager Monowitz.

Insgesamt stellt die Geschichte des Kautschuks und des Gummis der Menschheit kein gutes Zeugnis aus. Allzu gerne werden über – auch in diesem Buch – liebevoll geschilderten Abenteuern in Tropenwäldern und Entdeckungen im Labor die Opfer an zerstörter Natur und gequälten Menschen vergessen. Die "Kongo-Greuel" etwa sind längst historische Episode.

Insgesamt kann man den außerordentlich breit angelegten Katalog nur loben. Einzige Einschränkung: Man vermißt Literaturhinweise und Belegstellen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 131
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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