Serie: Die Botschaft des Genoms (Teil VIII): Hämoglobin
Farbstoff mit Feingefühl
Mensch und Tier brauchen Sauerstoff zum Leben, weil sie ihre Nahrung in einer Art kalten Verbrennung mit dem recht reaktiven Gas umsetzen. Deshalb muss das zweiatomige Sauerstoff-Molekül im Körper genau dort hingelangen, wo es benötigt wird – also etwa in Muskeln, die gerade Arbeit leisten, oder in das Gehirn beim Denken. Zwar könnte die Versorgung in gewissem Umfang auch einfach dadurch geschehen, dass sich das Gas im Blut auflöst und per Diffusion verteilt. Aber der Natur war dieser rein physikalische Mechanismus offenbar nicht effizient genug. Und so hat sich in der Evolution ein sehr viel raffinierteres System entwickelt, das die Verfügbarkeit des Gases an verschiedenen Orten genauestens reguliert.
Es beruht nach einem in der Biologie bewährten Prinzip auf spezialisierten Transporterproteinen für das zu verteilende Gut. Beim Sauerstoff gibt es davon allerdings gleich mehrere. Sie stammen vermutlich alle von einem gemeinsamen Urtyp ab, der dem heutigen Muskelprotein Myoglobin ähnelte. Myoglobin ist die einfachste Ausführung eines Behälters für das lebenswichtige Gas. Es greift sich das erstbeste Sauerstoff-Molekül, dessen es habhaft wird, und bindet es an sein aktives Zentrum (die Hämgruppe) – im Wesentlichen ein Eisenatom in einem komplizierten organischen Ringmolekül (dem Porphyrin). Schon ein Zehntel der üblichen Sauerstoff-Konzentration in der Luft würde ausreichen, um fast alle vorhandenen Myoglobin-Moleküle zu beladen.
Das auch als Blutfarbstoff bekannte Hämoglobin hingegen reist als Fahrgast der roten Blutkörperchen im Blutstrom durch den Körper und muss imstande sein, einerseits in der Lunge zwar möglichst viel Sauerstoff aufzunehmen, ihn andererseits aber dort, wo er hingehört, auch leicht wieder abzugeben. Diese subtilere Funktion wurde im Laufe der Evolution durch mehrfache Verdopplung des Myoglobin-Gens erreicht. Das Ergebnis war ein Aggregat aus mehreren zusammenhängenden Speicherzellen. Beim Hämoglobin der Säugetiere sind es vier.
Der Trick besteht nun darin, dass sich die Untereinheiten gegenseitig darüber informieren, ob sie gerade Sauerstoff enthalten oder nicht. Auf diese Weise stimmen sie untereinander ab, wie viel von dem Gas sie in der jeweiligen Situation insgesamt binden. Das erste Sauerstoff-Molekül wird dabei deutlich weniger begierig ergriffen als beim Myoglobin; je mehr Zellen aber bereits ein Sauerstoff-Molekül geladen haben, desto bereitwilliger nehmen die anderen auch noch eines auf. Insgesamt hat Hämoglobin dadurch eine geringere Affinität zum Sauerstoff als Myoglobin. Deshalb werden bei den hohen Sauerstoff-Konzentrationen, die typischerweise in den Lungen vorliegen, zwar alle vier Speicherplätze besetzt; unter den gasärmeren Bedingungen im Muskel aber tritt Hämoglobin den Stoff ohne weiteres an das Myoglobin ab. Diese Übergabe wird auch dadurch erleichtert, dass stark beanspruchtes Muskelgewebe erhebliche Mengen des "Abgases" Kohlendioxid sowie Wasserstoff-Ionen erzeugt. Beide zusammen verdrängen den Sauerstoff aus dem Hämoglobin und reisen mit diesem zurück zur Lunge, wo sie wiede-rum frischem Sauerstoff Platz machen.
Obwohl alle vier Un-tereinheiten des Hämoglobins eine sehr ähnliche Struktur haben und auf dieselbe Weise je ein Sauerstoff-Molekül an ihre Hämgruppe binden, handelt es sich doch, genau besehen, um ein Paar von zwei (ungleichen) Paaren. Beim einem erwachsenen Menschen besteht die überwiegende Mehrheit der Sauerstofftransporter aus zwei alpha- und zwei beta-Untereinheiten. Über die Kombination dieser Bausteine kann die Natur noch einmal ganz subtil am Sauerstoffhahn drehen. Der Fötus im Mutterleib muss zum Beispiel dem mütterlichen Hämoglobin Sauerstoff entreißen, um ihn seinem eigenen Stoffwechsel zuzuführen. Deshalb treten während der Embryonalentwicklung eine ganze Reihe von Hämoglobinvarianten nacheinander auf, deren Untereinheiten sich von denen eines Erwachsenen unterscheiden und – dem griechischen Alphabet folgend – mit gamma, delta, epsilon, zeta etc. bezeichnet werden. Die für Erwachsene typische alpha-Kette gewinnt zwar bereits in der frühen Entwicklung die Oberhand, die beta-Kette aber erst einige Monate nach der Geburt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2001, Seite 21
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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