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Häutungshormon als Abwehrwaffe - chemische Verteidigung bei Asselspinnen

Ein mariner Gliederfüßer wehrt sich mit einem Hormon, das er selbst zur Häutung benötigt, gegen eine räuberische Krabbe. Diese wiederum hat eigens Sensoren entwickelt, damit sie den Wirkstoff nicht mit der Nahrung aufnimmt und so zu unzeitigem Panzerwechsel veranlaßt wird.

Asselspinnen oder Pantopoden gehören zu den ungewöhnlichsten Tiergruppen, von denen selbst mancher Biologe nicht einmal den Namen kennt. Als Gliederfüßer (Arthropoden) aus der Verwandtschaft der Spinnentiere scheinen sie nur aus Beinen zu bestehen (Bild 2 links). Mit ungefähr 1000 Arten besiedeln sie die unterschiedlichsten Meereszonen vom Küstenbereich bis zur Tiefsee und ernähren sich überwiegend parasitisch, indem sie mit ihrem Rüssel an festsitzenden Tieren wie Seeanemonen oder Schwämmen saugen. Bei der Nahrungssuche staksen sie ungeschickt über den Meeresgrund und sollten deshalb eine leichte Beute für Freßfeinde sein.

Dennoch bleiben sie gewöhnlich verschont. In der Abteilung von Detlef Bückmann an der Universität Ulm, wo sich seit mehr als zehn Jahren die weltweit einzige kontinuierliche Pantopodenzucht befindet, konnte einer von uns (Tomaschko) kürzlich das Verteidigungssystem der Asselspinne Pycnogonum litorale aufklären. Das knapp zwei Zentimeter große Tier kommt zusammen mit der Strandkrabbe Carcinus maenas im Felswatt Helgolands vor. Versuche zeigten, daß der Krebs die Asselspinnen ebenso wie andere Beutetiere mit seinen Laufbeinen und Scheren ergreift und zum Munde führt (Bild 1). Doch dann geschieht Überraschendes: Die Mundwerkzeuge schleudern das dargebotene Tier schleunigst wieder weg. Dieses Wechselspiel kann sich noch mehrmals wiederholen, bevor die Krabbe schließlich von dem Opfer abläßt.

Biochemische Untersuchungen ergaben, daß Pycnogonum in den Zellen der Außenhaut beträchtliche Mengen an Ecdysteroiden anreichern kann. Zu dieser Stoffklasse gehört das Häutungshormon 20-Hydroxyecdyson, das Gliederfüßer für ihre Entwicklung unbedingt brauchen und aus Cholesterin selbst synthetisieren. Ohne Ecdysteroide kann sich kein Spinnentier, Krebs oder Insekt häuten und bis zur Geschlechtsreife heranwachsen. Aber auch zuviel von dem Hormon ist schädlich: Entweder stirbt das Tier unmittelbar, oder es häutet sich unablässig und ist, bis der neue Panzer aushärtet, jeweils Räubern schutzlos ausgeliefert. Pycnogonum scheidet bei einem Berührungsreiz 1000- bis 10000mal soviel Wirkstoff aus, wie Gliederfüßer üblicherweise als Häutungssignal benötigen. Mit chromatographischen und spektroskopischen Methoden vermochte Tomaschko acht verschiedene Ecdysteroide in dem Sekret zu identifizieren.

Die chemische Verteidigung der Asselspinnen macht auch die schon länger bekannten Poren verständlich, die den Körper des Tiers zu Tausenden überziehen (Bild 2 rechts). Sie sind jeweils mit Sensillen umgeben, die als Mechanorezeptoren jede Berührung registrieren. Als Reaktion auf den Reiz scheidet Pycnogonum aus lokalen Speicherzellen der Epidermis das Hormon durch die Poren aus. Drückt man die Asselspinne auf einen Untergrund, der zuvor mit Fluoreszenzfarbstoff beschichtet wurde, so kann man im ultravioletten Licht den Abdruck des Pantopoden sehen, weil das Sekret die Fluoreszenz löscht (Bild 2 Mitte).

Daß man die Abwehrreaktion künstlich auslösen kann ermöglichte einige einfache, aber aussagekräftige Experimente. Wurde zum Beispiel ein Futterbällchen mit abgesonderten Ecdysteroiden getränkt, verschmähten es selbst ausgehungerte Krabben. Dagegen verspeisten sie Asselspinnen unbesehen, wenn diese nach wiederholter künstlicher Reizung alle Wehrstoffreserven verausgabt hatten.

Üblicherweise entfalten Steroidhormone ihre Wirkung erst im Inneren der Zellen, was mehrere Minuten bis Stunden erfordert. Wieso reagieren Krabben trotzdem schon bei äußerem Kontakt innerhalb von Sekundenbruchteilen? Wie Tomaschko feststellte, enthalten sie an den Basisgliedern von Mundwerkzeugen und im Vorderdarmbereich membranständige Ecdysteroid-Rezeptoren. Offenbar haben sie also im Laufe der Evolution die Fähigkeit erworben, das Hormon zu schmecken, bevor sie sich daran vergiften. Andererseits macht diese Fähigkeit die chemische Verteidigungsstrategie der Asselspinnen überhaupt erst wirksam: In keinem Fall erlitten nicht vorbehandelte Tiere, die den Krabben zum Fraß vorgeworfen wurden, lebensgefährliche Verletzungen; meist entkamen sie völlig unversehrt.

Dennoch muß nicht unbedingt eine Koevolution zwischen Asselspinnen und Strandkrabben stattgefunden haben. Über ein Ecdysteroid-Erkennungssystem verfügen nämlich auch andere dekapode Krebse wie Hummer und Taschenkrebs. Es findet sich sogar bei dem heimischen Flußkrebs, der kaum je mit den ausschließlich im Meer lebenden Asselspinnen in Kontakt kommen dürfte.

Möglicherweise haben demnach zunächst andere Organismen die Abwehr mit Ecdysteroiden entwickelt. Tatsächlich entdeckte man schon in den sechziger Jahren in bestimmten Pflanzen (vor allem Farnen) große Mengen dieser Wirkstoffe; ebenso finden sie sich hochkonzentriert in manchen marinen Polypenstöcken. Viele pflanzenfressende Insekten stellen denn auch durch aufwendige Mechanismen im Darm sicher, daß Ecdysteroide in ihrer Nahrung inaktiviert oder ausgeschieden werden.

Somit scheinen sich die Asselspinnen die bereits eingespielte Ekelreaktion der Krebse nur zunutze gemacht zu haben. Der Vorteil war, daß sie kein besonderes Wehrsekret zu erfinden brauchten, sondern auf Stoffe zurückgreifen konnten, die in ihnen selbst wie auch in den Krebsen in geringen Konzentrationen als Hormone wirken. Sie mußten lediglich Wege entwickeln, diese Substanzen gefahrlos zu konzentrieren und auf Berührungsreize hin auszuscheiden.

Die Forschungen an Pantopoden haben mithin nicht nur Bedeutung für die chemische Ökologie, sondern bereichern auch evolutionsbiologische Diskussionen. Asselspinnen kennt man bereits aus dem Kambrium – also jener Zeit vor mehr als 500 Millionen Jahren, als sich die ersten Tiere mit Hartstrukturen entwickelten. Sie gehören damit zu den ältesten Gliederfüßern überhaupt. Wenn man bedenkt, daß die damals äußerst erfolgreichen Trilobiten restlos verschwanden, ist das Überleben dieser Arthropodengruppe bemerkenswert. Ihre ausgeklügelte chemische Abwehrstrategie könnte mit ein Grund dafür sein.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1996, Seite 31
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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