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Immunologie: Handschellen für das Aids-Virus

Mit einer Tarnkappe aus Zuckermolekülen, die es bei seinem Wirt entleiht, versteckt sich das Aids-Virus vor dem Immunsystem. Doch ein neu entdeckter Antikörper mit ungewöhnlicher Struktur lässt sich nicht täuschen.


Es ist ein Meister des Versteckspiels: Permanent verändert das Human-Immunschwäche-Virus (HIV), der Erreger von Aids, jene Bereiche seiner Hülle, an denen das Immunsystem den Eindringling als fremd erkennt. Dieser unablässige Wechsel der Verkleidung lässt die Abwehrmaschinerie des Opfers ins Leere laufen. Zugleich hat er als Miniatur-Evolution im Zeitraffer weltweit innerhalb kürzester Zeit eine Reihe von Subklassen des Erregers entstehen lassen. Selbst ein und dieselbe Person kann gleichzeitig mehrere verschiedene Virustypen beherbergen.

Auch die Bekämpfung des Krankheitserregers mit Medikamenten gestaltet sich dadurch problematisch: Das überaus wandlungsfreudige HI-Virus wird gegen die gängigen Pharmaka sehr schnell resistent. Umso wichtiger ist es, die Infektion überhaupt zu vermeiden.

Deswegen wird seit Jahren intensiv an einem Impfstoff geforscht. Doch auch das ist ein schwieriges Unterfangen. Denn ein geeignetes Vakzin muss zahlreiche Bedingungen erfüllen. So sollte es möglichst gegen alle HIV-Subtypen wirken. Zudem müsste es sämtliche Übertragungswege abdecken, also sowohl eine Infektion über die Schleimhäute beim Geschlechtsverkehr als auch eine Ansteckung über direkten Blutkontakt verhindern. Da das Virus nicht nur frei im Körper vorliegt, sondern sich auch in Blutzellen einnistet, sollte der Impfstoff außer der humoralen auch die zelluläre Immunantwort aktivieren; während Erstere mit Antikörpern (Immunglobulinen) und so genannten B-Lymphocyten operiert, führt letztere T-Lymphocyten in Form von Helfer- und Killerzellen ins Feld. Nicht zuletzt wäre dafür zu sorgen, dass das Virus keine Fluchtmechanismen entwickeln kann, die das Vakzin innerhalb kurzer Zeit wirkungslos machen.

Angesichts so vieler Anforderungen wundert es kaum, dass der große Durchbruch bisher ausblieb. Hoffnung machen jedoch die wenigen HIV-Infizierten, deren Immunsystem das Virus dauerhaft in Schach hält, sodass sie keine Krankheitssymptome zeigen. Eine Immunisierung ist also möglich.

Die resistenten HIV-positiven Personen sind für die Impfstoff-Jäger natürlich von größtem Interesse. Worauf beruht ihre erfolgreiche Virusabwehr? Offenbar erzeugen sie besonders schlagkräftige Antikörper; denn es ist gelungen, drei verschiedene Immunglobuline aus ihnen zu isolieren, die hoch effektiv mehrere Virus-Subtypen eliminieren. Bei Versuchen im Tiermodell sorgten diese Antikörper für eine passive Immunisierung: Damit geimpfte Affen waren vor einer Infektion geschützt, wenn sie danach mit SHI-Viren – der für Affen pathogenen Form des HIV, die Merkmale von dessen Hülle trägt – in Kontakt gebracht wurden.

Ein besonders potenter Antikörper

Einer ersten klinischen Studie mit sieben HIV-Positiven zufolge vertragen Menschen solche Antikörper-Infusionen gut. Allerdings wirkt die passive Immunisierung nur kurze Zeit, da die injizierten Fremd-Antikörper innerhalb weniger Wochen abgebaut werden. Außerdem ist sie sehr teuer, und der Impfstoff lässt sich nur in kleinen Mengen gewinnen. Deshalb bleibt es vorrangiges Ziel, eine aktive Immunisierung zu erreichen, welche die Bildung hoch wirksamer Antikörper durch das Immunsystem stimuliert.

Doch auch hier gab es jüngst beachtliche Fortschritte. So ließ sich für den besonders potenten Antikörper 2G12, den ein internationales Team um Hermann Katinger an der Universität für Bodenkultur in Wien vor rund zehn Jahren aus einem resistenten HIV-positiven Menschen isoliert hatte, im vergangenen Jahr die Angriffsstelle entschlüsseln (Journal of Virology, Bd. 76, S. 7306). Demnach handelt es sich um bestimmte Ketten aus Zuckermolekülen auf der Virushülle.

Indem sich 2G12 an solche Kohlenhydrate heftet, unterläuft er eine zentrale Verteidigungsstrategie des kleinen Eindringlings. Um sich vor Angriffen des Immunsystems zu schützen, operiert das HI-Virus nämlich nicht nur mit den schon erwähnten Verwandlungstricks, sondern maskiert sich zusätzlich mit Zuckerketten, die auf menschlichen Zellen häufig vorkommen. Es hängt sie an die Proteine an, die seine Hülle aufbauen und vom Verteidigungssystem des Wirtes als fremd erkannt würden. So zieht sich HIV gewissermaßen eine süße Tarnkappe über.

Normalerweise sind Antikörper nur auf Proteine scharf und lassen Kohlenhydrate links liegen. Warum 2G12 aus dem Rahmen fällt, war deshalb zunächst ein Rätsel. Doch nun fand sich die Erklärung in der besonderen Struktur seiner Antigen bindenden Region. Ein internationales Team um Dennis Burton und Ian Wilson vom Scripps Research Institute in La Jolla hat sie gemeinsam mit Katinger per Röntgenstrukturanalyse aufgeklärt (Science, Bd. 300, S. 2065).

Verschränkte Arme erzeugen zusätzliche Bindungsstelle

Die üblichen Antikörper sehen aus wie ein Y. Sie bestehen aus zwei Paaren identischer Proteinketten, von denen die längere als schwere, die kürzere als leichte Kette bezeichnet wird. Das Standbein des Y und die an der Gabelung ansetzenden unteren Bereiche der kurzen Arme sind konstant, also bei allen Immunglobulinen einer Klasse gleich. Die äußeren Enden der Arme dagegen bilden die Hände zum gezielten Ergreifen einer charakteristischen Zielstruktur (Epitop) auf dem Fremdkörper (Antigen). Diese Antigen bindenden Regionen sind deswegen variabel, also bei jedem Antikörper individuell gestaltet.

Das jetzt untersuchte 2G12 weicht von diesem Grundbauplan entscheidend ab. Bei ihm öffnen sich die beiden Bindungsarme nicht wie beim Y, sondern verzahnen sich zu einer lang gestreckten Struktur, die eher einem I gleicht. Schuld daran sind minimale Abweichungen im chemischen Aufbau des Antikörpers: An einzelnen Punkten sind die üblichen Aminosäuren durch andere ersetzt.

Beispielsweise befindet sich in der Kontaktregion zwischen der leichten und der schweren Kette am äußeren Ende des Bindungsarms an entscheidender Stelle statt eines Glutamins ein Arginin. Dieses ist auf Grund seiner räumlichen Struktur von seinem normalen Bindungspartner zu weit entfernt, um mit ihm in Kontakt zu treten. Die beiden Ketten werden an dieser Stelle folglich nicht mehr richtig zusammengehalten. Außerdem nimmt jeweils am Scharnier zwischen dem variablen und dem konstanten Bereich der schweren Kette ein Prolin die Stelle des sonst vorhandenen Serins ein. Dadurch knicken die beiden schweren Ketten an diesem Punkt ab und folgen nun nicht mehr der leichten Partnerin am eigenen Arm, sondern wenden sich deren Gegenstück auf dem anderen Ast zu.

Dieser kuriose Partnertausch verzahnt die beiden Bindungsarme miteinander und sorgt für die lang gestreckte Form des Antikörpers. Zugleich rücken die variablen Enden der beiden schweren Ketten so dicht zusammen, dass auch zwischen ihnen nun anziehende Kräfte auftreten: Es bilden sich mehrere Wasserstoffbrücken-Bindungen und Van-der-Waals-Kontakte. Dadurch wird die ungewöhnliche, gestreckte Konfiguration zusätzlich stabilisiert.

Es ist diese ausgefallene Struktur, die den Antikörper zu einer so außergewöhnlich effektiven Waffe gegen HIV macht. Mit seinen beiden Bindungsarmen greift sich 2G12 je eine Zuckerkette, die das Hüllprotein des Virus kaschiert. Zusätzlich entsteht beim Verzahnen der beiden Bindungsarme ein schmaler Spalt, in den ein weiterer Zuckerrest wie angegossen passt.

Der Clou dabei ist, dass die drei Kohlenhydratketten, an die sich der Antikörper heftet, zwar vom Menschen entliehen, auf dem Virus aber anders angeordnet sind. Mit seiner ungewöhnlichen räumlichen Struktur fügt sich 2G12 exakt an diese spezifische Konstellation an, entlarvt so die Maskerade des Virus und markiert es als Angriffsziel für die Immunzellen.

Die neuen Einsichten in den Funktionsmechanismus von 2G12 sollten die Entwicklung eines Impfstoffs einen großen Schritt voranbringen. Die besondere Struktur des Antikörpers kann nun als Vorlage dienen, um aus Kohlenhydraten ein Antigen zu konstruieren, welches das Immunsystem zur Produktion von 2G12 anregt. Dieses Immunglobulin enthält zwar mehrere ausgefallene Mutationen, doch ist das grundsätzlich nichts Außergewöhnliches. Die meisten hoch wirksamen Antikörper weisen Abweichungen vom genetischen Grundbauplan auf. Daher sollte das Immunsystem eines jeden Menschen fähig sein, bei der Präsentation eines geeigneten Antigens auch diese ungewöhnliche Abwehrwaffe zu produzieren. Allerdings bleibt vorerst offen, ob sie allein ausreicht, HIV in Schach zu halten.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2003, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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