Paläoanthropologie: Hat die Menschheit doch mehrere Wurzeln?
Neue anatomische Untersuchungen sprechen dafür, dass es in Australien und Europa eigenständige Entwicklungslinien zum Homo sapiens sapiens gegeben hat.
Entstand der moderne Mensch vor rund 200000 Jahren in Afrika, breitete sich vor 100000 Jahren innerhalb weniger zehntausend Jahre über die Erde aus und verdrängte alle älteren Populationen vollständig? Oder entwickelten sich alteingesessene Menschheitsgruppen in ihren Regionen weiter zum heutigen Homo sapiens, wobei sie sich mit neueren Populationen vermischt haben könnten, die aus Afrika einwanderten? Diese Frage spaltet die Anthropologen seit langem in zwei unversöhnliche Lager. In den letzten Jahren hatten die Verfechter des "Out-of-Africa"-Modells die Nase vorn. So legen DNA-Untersuchungen an Neandertaler-Knochen nahe, dass diese Menschheitsform sich schon vor mehr als 500000 Jahren abgespalten hat und daher nicht in un-sere direkte Ahnengalerie gehört. Auch spricht das sehr frühe Auftreten von anatomisch modernen Menschen in Afrika für die Vermutung, dass die direkten Vorfahren der heutigen Menschen sich nur auf diesem Kontinent und nicht parallel in anderen Regionen entwickelt haben. Dieser Auffassung ist jedenfalls Günter Bräuer vom Institut für Humanbiologie der Universität Hamburg.
Doch dank neuer Arbeiten können die Befürworter einer multiregionalen Entstehung jetzt wieder Punkte für sich verbuchen. Wissenschaftler um den Anthropologen Milford Wolpoff von der Universität von Michigan in Ann Arbor haben Merkmale an 13000 bis 30000 Jahre alten Schädeln von modernen Menschen analysiert, die teils aus Mladec in Tschechien und teils von den australischen Willandra-Seen stammen, und sie mit älteren Schädeln aus diesen Regionen sowie mit jüngeren aus dem Nahen Osten und Afrika verglichen. Ihre Idee: Wenn die Out-of-Africa-Hypothese stimmt, müssten die Funde von Mladec und den Willandra-Seen größere Ähnlichkeiten mit den modernen Homo-sapiens-Schädeln aus dem Nahen Osten und Afrika aufweisen als mit ihren Vorgängern vor Ort – falls nicht, spräche das für eine regionale Weiterentwicklung zu den modernen Kopfformen.
Die Anthropologen untersuchten die beiden am besten erhaltenen fossilen Schädel aus Tschechien – Mladec 5 und Mladec 6 – sowie den auf 13000 bis 15000 Jahre datierten australischen Fund WLH 50 (Willandra Lakes Hominid 50). Zum Vergleich dienten typische Neandertaler aus Europa wie die von La Chapelle oder dem belgischen Spy; als Referenz für den australischen Schädel wurden – in Ermangelung älterer Exemplare auf dem Kontinent selbst – Funde aus Ngandong auf Java herangezogen, die als archaische Vertreter des Homo sapiens oder sogar späte Überlebende des Homo erectus gelten. Als Vertreter jüngerer, moderner Menschen wählten die Wissenschaftler Fossilien von Fundorten im Nahen Osten wie Qafzeh und Skhul sowie solche aus Afrika, zum Beispiel aus Omo oder Laetoli.
Wolpoff und seine Mitarbeiter registrierten das Vorhandensein oder Fehlen von bis zu dreißig Merkmalen – je nachdem wie vollständig die Schädel erhalten waren – und leiteten daraus statistische Verwandtschaftsbeziehungen ab.
Das Ergebnis war bemerkenswert. Im Durchschnitt unterschied sich der australische Schädel von den Ngandong-Exemplaren in nur 3,7 Merkmalen, von jenen aus dem Nahen Osten dagegen in 7,3 und von den afrikanischen sogar in 9,3 Charakteristika. Demnach ist WLH 50 eindeutig näher mit den regionalen Vorfahren in Asien verwandt als mit den späteren modernen Hominiden.
Haben sich Adam und Eva gar nicht gekannt?
Die Auswertung der Schädel aus Tschechien lieferte kein so klares Bild. Mla-dec 5 ist mit 14,8 Unterschieden gegenüber den Neandertalern von diesen etwa genauso weit entfernt wie von den Funden aus dem Nahen Osten (14,0 Differenzen). Mladec 6 hingegen offenbart mit nur 7,8 Differenzen wiederum eine größere Nähe zu den Neandertalern als zu den modernen Homo-sapiens-Formen im Vorderen Orient (11,6 Differenzen). Für Wolpoff ist damit erwiesen, dass die heutige Menschheit nicht allein von einer kleinen, vor rund 100000 Jahren aus Afrika ausgewanderten Gruppe des Homo sapiens abstammen kann.
Auch die Ergebnisse einer neueren DNA-Untersuchung sind schlecht mit der reinen "Out-of-Africa"-Hypothese vereinbar. Wissenschaftler um Gregory J. Adcock von der Universität Pierre und Marie Curie in Paris sowie Alan Thorne von der Australischen National-Universität in Canberra analysierten die Erbsubstanz von zehn Fossilien moderner Menschen aus Australien und verglichen sie mit der von lebenden Menschen, europäischen Neandertalern, Schimpansen und Bonobos. Während neun australische Funde im Alter zwischen 8000 und 15000 Jahren gut in den Schwankungsbereich der heutigen Menschen passten, fiel ein Fund heraus: Die DNA des "Mungo Man", der bereits 1974 am Mungo-See im Südosten Australiens gefunden worden war und nach einer Neudatierung auf ein Alter von 60000 Jahren geschätzt wird, unterscheidet sich stärker von den heute lebenden Menschen als das Erbgut der untersuchten Neandertaler. Anatomisch hingegen gehört der Mungo Man zum modernen Homo sapiens sapiens.
Wolpoff hält die genetischen Analysen deshalb grundsätzlich für fragwürdig. Er glaubt, dass sie ganz verschiedene Ergebnisse liefern können, je nachdem welche Abschnitte des Genoms man betrachtet. Für Analysen von weiblichen Abstammungslinien dient in der Regel DNA aus den Mitochondrien – Energie liefernden Strukturen außerhalb des Zellkerns, die direkt von der Mutter auf die Tochter weitervererbt werden. Analog wird zur Suche nach dem männlichen Urahn gewöhnlich das Y-Chromosom herangezogen, das Väter unverändert an ihre Söhne weitergeben. Wie sich unlängst herausstellte, stimmen die Ergebnisse der beiden Analysen aber nicht überein. So berichtete Peter Underhill von der Universität Stanford im vergangenen Jahr, dass Untersuchungen am menschlichen Y-Chromosom zufolge der letzte gemeinsame Vorfahr aller Männer vor 59000 Jahren durch die afrikanischen Savannen zog. Dagegen deuten die genetischen Spuren der Mitochondrien auf eine Urmutter aller heutigen Menschen hin, die bereits vor 143000 Jahren lebte. Demnach hätten sich – paradoxe Situation – Adam und Eva gar nicht gekannt. Tatsächlich erklärt sich die Diskrepanz wohl damit, dass die Evolutionsgeschichte einzelner Teile des menschlichen Erbguts unterschiedlich verlaufen ist.
Nimmt man hinzu, dass auch die Kalibrierung der molekularen Uhr – die ja eine konstante Mutationsrate sowohl über die Zeit als auch für die verschiedenen Gene voraussetzt – umstritten ist, so bleibt das Gesamtbild verworren. Erst umfangreichere DNA-Analysen sowie mögliche weitere Fossilfunde können die Ausbreitungsgeschichte des modernen Menschen eindeutig klären – und den Streit darüber beilegen, ob unser aller Vorfahren erst kürzlich aus Afrika auswanderten oder ob nicht doch auch ältere Gene in uns schlummern.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2001, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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