Heike Kamerlingh-Onnes und die Supraleitung
Um die Jahrhundertwende suchten Forscher in aller Welt dem absoluten Nullpunkt der Temperaturskala möglichst nahe zu kommen. Als es einem niederländischen Experimentalphysiker erstmals gelang, Helium zu verflüssigen, entdeckte er zufällig, daß manche Materialien jeweils unterhalb eines kritischen Werts den Strom völlig widerstandsfrei leiten.
Die Supraleitung – das gänzliche Verschwinden des elektrischen Widerstands in tiefgekühlten Substanzen – ist ein merkwürdiges Naturphänomen mit vielen überraschenden Facetten. Im März 1987 drängten sich Hunderte von Teilnehmern eines wissenschaftlichen Kongresses in und vor einem Ballsaal des New Yorker Hilton-Hotels, um erste Berichte über eine weitere, besonders spektakuläre Entdeckung auf diesem Gebiet mitzubekommen – die sogenannte Hochtemperatur-Supraleitung: Der Schweizer K. Alexander Müller und sein deutscher Kollege J. Georg Bednorz vom IBM-Forschungslabor in Rüschlikon bei Zürich hatten nachgewiesen, daß die keramische Substanz Lanthan-Barium-Kupferoxid schon bei Kühlung auf die relativ hohe Temperatur von -238 Grad Celsius (etwa 35 Kelvin) jeglichen elektrischen Widerstand einbüßt. Noch im selben Jahr erhielten sie den Nobelpreis (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1987, Seite 12); aber über die physikalische Deutung wird weiterhin gestritten (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1996, Seite 86). Bereits dreißig Jahre zuvor hatten die Amerikaner John Bardeen, Leon N. Cooper und J. Robert Schrieffer die theoretische Erklärung für die herkömmliche Supraleitung in tiefgekühlten Metallen geliefert (sie erhielten den Nobelpreis 1972). Unterdessen ist die Leistung des brillanten Experimentalphysikers, der verlustfreien Stromfluß 1911 erstmals beobachtete, fast in Vergessenheit geraten (Bild 1).
Heike Kamerlingh-Onnes erforschte Phänomene unter Kälte, und daß er mit dem Nobelpreis in Stockholm an einem eisigen Dezembertag des Jahres 1913 ausgezeichnet wurde, mag ihm als recht passend erschienen sein. Sein ursprüngliches Ziel war die exakte Messung des Verhaltens von Gasen bei extrem tiefen Temperaturen; dabei entdeckte er die Supraleitfähigkeit eher zufällig.
Geboren wurde er 1853 als Sohn eines Dachziegelfabrikanten in Groningen, einer alten Universitätsstadt im Nordosten der Niederlande. Die musisch veranlagte Mutter prägte die ganze Familie: Heikes Bruder und sein Neffe wurden angesehene Maler, seine Schwester heiratete den Künstler Floris Verster aus Leiden, und Heike selbst versuchte sich in jungen Jahren als Dichter. Eine poetische Spur findet sich noch in seinem späteren Labormotto "Door meten tot weten", zu deutsch: Durch Messen zum Wissen.
Im Jahre 1870 schrieb Kamerlingh-Onnes sich an der Universität Groningen für Physik ein. Doch schon ein Jahr später wechselte er an die Universität Heidelberg, wo er bei dem Chemiker Robert Wilhelm Bunsen (1811 bis 1899) und dem Physiker Gustav Kirchhoff (1824 bis 1887) studierte. Drei Jahre später kehrte er nach Groningen zurück und promovierte dort 1878 über den Einfluß der Erdrotation auf ein Kurzpendel; angeblich haben ihm seine Prüfer nach dem Rigorosum spontan applaudiert.
Gegen Ende seiner Promotionszeit lernte er Johann Diderik van der Waals (1837 bis 1923; Nobelpreis 1910) kennen, der damals als Professor für Physik an der Universität Amsterdam das Verhalten von Gasen erforschte. In groben Zügen war es seit Ende des 17. Jahrhunderts bekannt: Der Brite Robert Boyle (1627 bis 1691) und der Franzose Edme Mariotte (1620 bis 1684) hatten das dann nach ihnen benannte Gesetz aufgestellt, wonach bei konstanter Temperatur der Druck eines Gases umgekehrt proportional zu seinem Volumen ist. Das gilt freilich streng genommen nur für ein ideales Gas, dessen Moleküle keinen Raum einnehmen und keinerlei Kräfte aufeinander ausüben.
Van der Waals suchte nun eine mathematische Beschreibung realer Gase zu entwickeln, indem er sowohl das tatsächlich von den Molekülen beanspruchte Volumen als auch die zwischen ihnen wirkenden Kräfte in Rechnung stellte. Im Jahre 1873 formulierte er die nach ihm benannte Zustandsgleichung für das Verhalten realer Gase. Sieben Jahre später veröffentlichte er sein Gesetz über korrespondierende Zustände, dem zufolge sich das Verhalten sämtlicher realen Gase mit einer einzigen Gleichung beschreiben läßt.
Kaskadenkühlung
Obwohl Kamerlingh-Onnes in der Mechanik Hervorragendes zu leisten versprach, wandte er sich wie van der Waals der Erforschung der Gase zu. Im Jahre 1882 wurde er Professor für Physik an der Universität Leiden. Damals verwendete man zwar schon exakte Meßmethoden für die Untersuchung mechanischer und elektromagnetischer Kräfte, doch bei der Erforschung der Materie und ihrer Aggregatzustände ging man oft noch recht qualitativ vor. Der junge Professor setzte sich das Ziel, auch in diesem Bereich quantitative Analyse und mathematische Strenge einzuführen.
Um die van der Waalssche Theorie zu überprüfen, mußte man das Verhalten von Gasen unter extremen Bedingungen messen. Zum Beispiel weicht es bei sehr tiefen Temperaturen immer stärker von dem idealer Gase ab, folgt dafür aber erstaunlich gut dem van der Waalsschen Modell. Darum richtete Kamerlingh-Onnes in Leiden ein Tieftemperaturlabor ein (es trägt seit 1932 seinen Namen). Für die Herstellung der komplizierten und empfindlichen Instrumente war er auf besonders fähige Facharbeiter angewiesen; deshalb gründete er eine Gesellschaft zur Förderung der Ausbildung von Feinmechanikern, die der Universität angegliedert war. Daraus gingen hochqualifizierte Handwerker – unter anderem Glasbläser – hervor, die für Kamerlingh-Onnes und viele andere Wissenschaftler in aller Welt Präzisionsinstrumente herstellten.
Im Jahre 1877 hatten der Franzose Louis Paul Cailletet (1832 bis 1913) und der Schweizer Raoul Pierre Pictet (1846 bis 1929) unabhängig voneinander erstmals Sauerstoff und Stickstoff verflüssigt (Bild 3a). Zuvor war strittig gewesen, ob diese beiden Gase sowie Wasserstoff bei noch so starker Kühlung überhaupt kondensieren würden. (Helium war damals zwar schon in Sonnenspektren – daher sein Name – gesichtet worden, wurde auf der Erde aber erst 1895 nachgewiesen.) Mit ihrer Apparatur konnten Cailletet und Pictet allerdings nur kleinste Flüssigkeitsmengen erzeugen – viel zu wenig für das, was Kamerlingh-Onnes vorhatte.
Im Jahre 1892 gelang ihm schließlich die Kondensierung größerer Mengen. Sein Apparat arbeitete nach dem Mehrstufen- oder Kaskadenverfahren: Man nimmt mehrere Gase mit immer niedrigerer Kondensationstemperatur, komprimiert das erste, kühlt es bis auf den Verflüssigungspunkt und läßt es dann expandieren (Bild 2a). Der Dampf der verdunstenden Flüssigkeit kühlt nun das komprimierte Gas der nächsten Stufe. Beginnend mit Methylchlorid, das bei 21 Grad Celsius unter fünffachem Atmosphärendruck (atm) kondensiert, verflüssigte Kamerlingh-Onnes sukzessive Ethylen (-87 Grad bei 3 atm), Sauerstoff (-145 Grad bei 17 atm) und schließlich Luft (-193 Grad bei 1 atm).
Für die Verflüssigung von Wasserstoff brauchte man aber noch raffinierteres Gerät, um noch viel näher an die theoretisch tiefste Temperatur – den absoluten Nullpunkt – heranzukommen. Nach der Zustandsgleichung für ein ideales Gas nimmt bei konstantem Volumen der Druck mit fallender Temperatur ab und müßte theoretisch bei -273,15 Grad Celsius gänzlich verschwinden (während ein reales Gas schon vorher kondensiert). Da es somit prinzipiell keine tiefere Temperatur geben kann, ist sie der Ausgangspunkt der Kelvin-Skala – nach dem englischen Physiker Lord Kelvin of Largs, gebürtig William Thomson (1824 bis 1907).
Im Jahre 1898 gewann der schottische Chemiker und Tieftemperaturphysiker James Dewar (1842 bis 1923) den Wettlauf um die Verflüssigung des Wasserstoffs. Er machte sich dabei einen nach den englischen Physikern James Prescott Joule (1818 bis 1889) und Thomson benannten thermodynamischen Effekt zunutze: Wird ein reales Gas durch ein Drosselventil entspannt, so ändert sich seine Temperatur. Auch die Kaskadenverflüssigung beruht auf dem Joule-Thomson-Effekt; doch erst Dewar vermochte damit Wasserstoff zu verflüssigen, indem er das Gas zuerst auf weniger als -80 Grad kühlte und dann expandieren ließ. Dabei sank die Temperatur noch weiter ab, obgleich Wasserstoff sich seltsamerweise bei Expansion oberhalb von -80 Grad erwärmt (weshalb man diesen Punkt seine Inversionstemperatur nennt). Auf diese Weise gelang es Dewar, Wasserstoff auf seine Kondensationstemperatur von etwa -253 Grad (20 Kelvin) abzukühlen.
Zwar lieferte Dewars Apparat nur wenig flüssigen Wasserstoff; doch das dürfte ihm wenig ausgemacht haben, denn ihm ging es vor allem um einen Tieftemperatur-Rekord. Kamerlingh-Onnes wollte hingegen das Verhalten extrem abgekühlter Gase untersuchen und brauchte dafür viel größere Mengen. Die vermochte er freilich erst acht Jahre nach Dewar zu gewinnen.
Daran waren auch Befürchtungen der Bürger von Leiden schuld. Im Jahre 1807 – während der Besetzung der Niederlande durch Napoleon – war auf einer Gracht mitten in der Stadt ein Munitionsschiff explodiert. Kamerlingh-Onnes hatte sein Labor auf den Ruinen des zerstörten Stadtteils errichtet. Als der Stadtrat 1896 erfuhr, daß dort beträchtliche Mengen komprimierten Wasserstoffs – eines an Luft hochexplosiven Gases – lagerten, geriet er in Panik. Man berief einen Untersuchungsausschuß ein, und obwohl ihm van der Waals angehörte und Dewar brieflich dringend um die Weiterführung der Forschung bat, mußte Kamerlingh-Onnes die Arbeit mit Wasserstoff zwei Jahre lang einstellen.
Flüssiges Helium
Bis zum Jahre 1906 hatte Kamerlingh-Onnes einen Apparat entwickelt, der aufgrund des Joule-Thomson-Effekts relativ große Mengen flüssigen Wasserstoffs lieferte, indem er das Gas komprimierte, durch ein mit flüssiger Luft gekühltes Gefäß führte und dann expandieren ließ. Dabei sank die Temperatur so weit, daß ein Teil sich als Flüssigkeit niederschlug. Der gasförmige Rest wurde aufgefangen und erneut durch das Kühlsystem geleitet. Mit diesem Gerät ließen sich zunächst vier und nach einigen Verbesserungen sogar 13 Liter flüssigen Wasserstoffs pro Stunde herstellen (Bild 2b).
Schon 1895, während Kamerlingh-Onnes und Dewar noch mit Wasserstoff experimentierten, hatte der englische Chemiker William Ramsay (1852 bis 1916; Nobelpreis 1904) Helium in Uranpecherz nachgewiesen. Die Atome dieses leichtesten Edelgases üben aufeinander nur äußerst schwache Kräfte aus; darum ist seine Kondensationstemperatur extrem niedrig. Wie zuvor flüssiger Wasserstoff, wurde nun kondensiertes Helium das Traumziel der Tieftemperaturphysik. Kamerlingh-Onnes beschloß sofort, nicht zu ruhen, bis er es erreicht hätte.
Zunächst mußte er sich eine ausreichende Menge des Elements beschaffen. Glücklicherweise war sein Bruder Direktor des Amtes für Handelsinformation in Amsterdam und veranlaßte die Lieferung großer Mengen heliumhaltigen Monazitsandes aus dem US-Bundesstaat North Carolina. Daraus konnte Kamerlingh-Onnes etwa 300 Liter Gas (bei Atmosphärendruck) gewinnen.
Zu dessen Verflüssigung brauchte er außerdem ausreichend viel flüssigen Wasserstoff. Kamerlingh-Onnes konstruierte einen neuen Apparat, in dem flüssige Luft und sodann flüssiger Wasserstoff als Kältemittel dienten (Bild 2c). Wieder infolge des Joule-Thomson-Effekts sollten auf diese Weise zumindest einige Tropfen flüssigen Heliums entstehen. Am 10. Juli 1908 begann der erste Versuch. Weil sich das sogleich in der Universität herumsprach, kam eine kleine Gruppe von Forschern zusammen, um das Ereignis zu verfolgen.
Am Nachmittag begann Heliumgas durch den Kreislauf zu strömen, aber bis zum frühen Abend schien nichts davon zu kondensieren, und das Thermometer sank nicht unter 4,2 Kelvin. Schließlich äußerte der Chemieprofessor Fransiscus Schreinemakers, vielleicht falle die Temperatur gerade deshalb nicht weiter, weil bereits flüssiges Helium vorhanden sei – nur lasse es sich eben schwer erkennen. Also beleuchtete Kamerlingh-Onnes das Sammelgefäß von unten. Später erzählte er gern von diesem wunderbaren Augenblick: Plötzlich hob sich die Oberfläche der Flüssigkeit hell glänzend wie eine Messerkante von der Glaswand des Gefäßes ab. Überglücklich konnte er seinem Mentor van der Waals das erste Helium in diesem Aggregatzustand zeigen.
Durch Verminderung des Drucks vermochte Kamerlingh-Onnes die Temperatur sogar bis auf 1,7 Kelvin zu senken – für damalige Verhältnisse unglaublich nahe dem absoluten Nullpunkt. Zur Messung solch extrem tiefer Temperaturen dienten Heliumgasthermometer. (Bei konstantem Volumen und niedrigem Druck verhält sich das Element fast exakt wie ein ideales Gas und ermöglicht darum eine genaue Messung: Weil das Produkt aus Druck und Volumen für ein ideales Gas stets proportional zur Temperatur ist, läßt sich die Temperatur aus dem Druck bei konstantem Volumen bestimmen.)
In den folgenden drei Jahren verbesserte Kamerlingh-Onnes seine Gerätschaften. Schon das Überführen der Flüssigkeit aus dem Kondensationsgefäß in einen Vorratsbehälter war technisch äußerst schwierig. Schließlich war 1911 ein Kryostat fertig, der das mühsam kondensierte Edelgas auf konstant niedriger Temperatur halten konnte. Damit ließ sich nun das Verhalten anderer Substanzen bei der Temperatur flüssigen Heliums untersuchen.
Kälte und Strom
Damals war wohlbekannt, daß der elektrische Widerstand eines Metalls mit sinkender Temperatur abnimmt. Heftig diskutiert wurde jedoch, wie sich der Widerstand in der Nähe des absoluten Nullpunktes verhalten würde.
Der deutsche Physiker Heinrich Friedrich Ludwig Matthiessen (1830 bis 1906) glaubte, dort bleibe ein konstanter Restwiderstand übrig. Lord Kelvin zufolge käme der Fluß der Elektronen, obwohl er sich anscheinend – wie der abnehmende Widerstand zeigte – mit sinkender Temperatur verbesserte, sogar völlig zum Erliegen, weil die Elektronen gleichsam an Ort und Stelle festfrören; demnach müßte der Widerstand bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt gegen unendlich streben. Kamerlingh-Onnes und Dewar vermuteten hingegen, er würde mit sinkender Temperatur immer weiter abnehmen, und zwar stetig, um erst direkt am absoluten Nullpunkt gänzlich zu verschwinden.
Allerdings hatte der deutsche Physiker Walter Nernst (1864 bis 1941) im Jahre 1905 bewiesen, daß sich der absolute Nullpunkt aufgrund der Gesetze der Thermodynamik niemals erreichen läßt. (Seitdem hat man mit Hilfe des seltenen Isotops Helium-3 Temperaturen von 0,3 Kelvin erzielt und mittels Entmagnetisierung von Atomkernen sogar 0,00001 Kelvin; siehe Spektrum der Wissenschaft, Februar 1990, Seite 72.) Doch was dann wirklich geschah, war verblüffend und – bei dem Kenntnisstand der Festkörperphysik im Jahre 1911 – völlig unvorhersehbar (Bild 3c).
Da gewöhnlich Verunreinigungen in Metallen ihre elektrische Leitfähigkeit beeinträchtigen und somit die experimentellen Resultate verfälschen, arbeitete Kamerlingh-Onnes mit Quecksilber: Es ist bei Raumtemperatur flüssig, läßt sich also auf einfache Weise mehrfach destillieren, um es in der für Tieftemperaturexperimente erforderlichen Reinheit herzustellen. Solches Quecksilber füllte er in ein U-förmiges Glaskapillarröhrchen mit an den Enden eingeschmolzenen Elektroden; so ließ sich während des Kühlens Strom durchleiten und der Widerstand messen.
Schließlich gefror das Quecksilber zu einem festen Draht. Zunächst beobachtete Kamerlingh-Onnes, daß der Widerstand wie erwartet kontinuierlich abnahm. Doch bei der Temperatur flüssigen Heliums – immerhin noch meßbar oberhalb des absoluten Nullpunkts – schien der Widerstand vollständig verschwunden zu sein.
Das erweckte keineswegs Entdeckerglück, sondern Mißtrauen. Bei den Experimenten beaufsichtigten nämlich Kamerlingh-Onnes und der technische Leiter Gerrit Flim den Kälteapparat für das Quecksilber, während die Mitarbeiter Gilles Holst und Cornelius Dorsman in einem 50 Meter entfernten Dunkelraum an einem Galvanometer den Widerstand ablasen. Wo war der Haken?
Jacobus de Nobel, der später am Leidener Tieftemperaturlabor tätig war, gab kürzlich die Geschichte zum besten, wie er sie dort 1931 als Neuankömmling von Flim gehört haben will: Als bei neuerlichen Versuchen immer wieder herauskam, daß der Widerstand am Helium-Verflüssigungspunkt verschwand, vermuteten die vier Forscher als Ursache eine Art Kurzschluß. Darum nahmen sie anstelle der U-förmigen Röhre eine W-förmige mit zusätzlichen Elektroden an den Knicken, so daß es nun vier verschiedene Meßabschnitte gab (Bild 3b). Doch auch jetzt trat auf, was keiner glauben mochte: null Widerstand.
Daraufhin wurde das Experiment nochmals mehrfach wiederholt. Dabei sollte ein Lehrling der Feinmechanikerschule ein Druckmeßgerät am System im Auge behalten; denn der Heliumdampfdruck mußte stets ein wenig unter Atmosphärendruck liegen, damit eventuelle winzige Lecks sofort durch einströmende und gefrierende Luft abgedichtet würden. Einmal aber nickte der junge Mann über seiner langweiligen Aufgabe ein. Der Druck stieg langsam an, und mit ihm die Temperatur; als sie einen Wert von rund 4,2 Kelvin überschritt, bemerkte Holst, daß das Galvanometer plötzlich reagierte und elektrischen Widerstand anzeigte.
Falls de Nobels Bericht aus zweiter Hand stimmt, hatte Holst unwissentlich in zeitlich umgekehrter Reihenfolge den Übergang von normalem Leitungsverhalten zu demjenigen Zustand beobachtet, den Kamerlingh-Onnes später Supraleitfähigkeit nannte. Durch wiederholte Versuche überzeugte sich Kamerlingh-Onnes, daß tatsächlich stets ein Sprung in der elektrischen Eigenschaft des untersuchten Metalls auftrat. Er veröffentlichte die Entdeckung im November 1911 unter dem Titel "Über die plötzliche Veränderung der Rate, mit welcher der Widerstand von Quecksilber verschwindet". Experimente mit Zinn und Blei zeigten bald, daß auch andere Metalle als Quecksilber bei ausreichender Kühlung supraleitend werden.
Im Jahre 1914 vermochte Kamerlingh-Onnes in einer supraleitenden Bleispule einen Dauerstrom – er sprach von persistierendem Suprastrom – fließen zu lassen, den ein äußeres Magnetfeld induziert hatte. Nach einer Demonstration dieses Systems schrieb der österreichische Physiker Paul Ehrenfest (1880 bis 1933) seinem niederländischen Kollegen Hendrik A. Lorentz (1853 bis 1929; Nobelpreis 1902), es sei geradezu unheimlich, den Einfluß dieser permanenten Ströme auf eine Magnetnadel zu sehen; man könne fast spüren, wie der Ring der Elektronen immerfort in der Spule kreise – langsam und reibungslos.
Doch Kamerlingh-Onnes mußte zu seiner Enttäuschung feststellen, daß er einem recht flüchtigen Phänomen auf die Spur gekommen war. Mit seinen Mitteln vermochte er nur schwache Dauerströme zu erzeugen – sonst machten die vom widerstandslosen Elektronenfluß selbst erzeugten Magnetfelder, so schwach sie auch waren, die Supraleitfähigkeit zunichte. Dies war zu des Entdeckers Lebzeiten das größte Hindernis für eine praktische Anwendung.
Erst ein halbes Jahrhundert später entwickelte man Materialien, die auch bei starken Strom- und Feldstärken supraleitend bleiben. Die in der medizinischen Diagnostik inzwischen unentbehrliche Kernspintomographie ist die wohl bekannteste technische Nutzung dieser späteren Fortschritte (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1994, Seite 56).
Heike Kamerlingh-Onnes starb im Jahre 1926. Seine Leistung ist um so bemerkenswerter, als ein chronisches Bronchialleiden ihn immer wieder zu langen Kuren in der Schweiz zwang. Doch selbst aus der Ferne dirigierte er die Mitarbeiter – einer Leidener Legende zufolge sogar noch nach seinem Tode: Der Gedenkgottesdienst dauerte länger als erwartet; und während der Trauerzug sich beeilen mußte, um zur Beerdigung im nahegelegenen Voorschoten nicht zu spät zu kommen, soll Gerrit Flim gesagt haben: "Das sieht dem alten Herrn ähnlich – sogar jetzt läßt er uns rennen."
Obwohl die Supraleitung zu seinen Lebzeiten ein eher esoterisches Forschungsgebiet blieb, war Kamerlingh-Onnes überzeugt, daß sie schließlich viele praktische Anwendungen finden würde. Supraleitende Führungsmagnete für Teilchenbeschleuniger, reibungslos geführte Magnetschwebebahnen und widerstandsfreie Stromleitungen sind mittlerweile Stand der Technik oder in der Entwicklung. Bei der intensiven Suche nach Materialien mit immer höheren Sprungtemperaturen wird die Entdeckung des holländischen Naturforschers vielleicht doch noch alltäglich genutzte Physik werden.
Literaturhinweise
- Supraleitung. Grundlagen und Anwendungen. Von Werner Buckel. VCH, Weinheim 1993.
– The Quest for Absolute Zero: The Meaning of Low-Temperature Physics. Von Kurt Mendelssohn. Taylor and Francis, 1977.
– Superconductivity: Discoveries during the Early Years of Low Temperature Research at Leiden 1908-1914. Von Rudolf de Bruyn Ouboter in: IEEE Transactions on Magnetics, Band Mag-23, Heft 2, Seiten 355 bis 370, März 1987.
– The Path of No Resistance: The Story of the Revolution in Superconductivity. Von Bruce Schechter. Simon & Schuster, 1989.
– Superconductivity: The Next Revolution? Von Gianfranco Vidali. Cambridge University Press, 1993.
– The Discovery of Superconductivity. Von Jacobus de Nobel in: Physics Today, Band 49, Heft 9, Seiten 40 bis 42, September 1996.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1997, Seite 84
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben