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Heilige Egoisten. Die Soziobiologie indischer Tempelaffen.

C. H. Beck, München 1996.
304 Seiten, DM 58,-.

Dieses Buch ist eine Chronik der Hanumans, der Tempelaffen von Jodhpur im Norden Indiens. Es berichtet von einer Feldstudie, die Christian Vogel, der frühere Inhaber des Lehrstuhls für Anthropologie an der Universität Göttingen, initiiert hat und die mittlerweile über fast 25 Jahre fortgeführt wurde. Und es ist zugleich ein wissenschaftliches Werk und eine Einführung in die Soziobiologie für Laien.

Volker Sommer, der Biologie, Chemie sowie Theologie studiert und sich in Göttingen im Bereich der Anthropologie und Primatologie habilitiert hat, wirbt darin für eine konsequent evolutionstheoretisch geleitete Deutung des sozialen Verhaltens aller Lebewesen einschließlich des Menschen. Damit schließt er bewußt an das grundlegende Werk "Sociobiology. The New Synthesis" von Edward O. Wilson (Harvard University Press, 1975) an. Über die Analyse des Sozialverhaltens der Hanumans hinaus stellt sich Sommer der Frage: "Können indische Tempelaffen ein Lehrstück für das Verständnis menschlicher Sozialbeziehungen sein?"

Diese Frage, die latent den Text über ein spezielleres Thema begleitet, wird im letzten Kapitel ausdrücklich aufgenommen und mit einem differenzierten "Ja und Nein" beantwortet: Mögliche Ursachen unseres Sozialverhaltens können wir, so der Autor, vielleicht besser verstehen und erklären, wenn wir über unsere Primatenverwandten mehr lernen; doch hilft uns das gar nichts, wenn wir unser Verhalten bewerten wollen. Normen müssen wir selber setzen und begründen, wir können und dürfen sie nicht aus der Naturgeschichte anderer Lebewesen ableiten. Diese Stellungnahme setzt der durchgehenden, zuweilen missionarisch anmutenden Werbung für die soziobiologische Interpretation von Verhalten einen klaren Rahmen.

Unter diesem Aspekt behandelt Sommer Nahrungsökologie und Reproduktionsstrategien einschließlich der heiß umstrittenen Kindstötung durch Männchen bei den Hanuman-Languren, die in dieser Hinsicht gar nicht heilig sind, und gibt schließlich auch eine sehr persönliche Stellungnahme zur Schutzwürdigkeit von Arten. Zur Einführung dient ihm das indische Nationalepos "Ramayana"; auch sonst versteht er es, die Feldstudie selbst im üblicherweise immer gräßlich trockenen methodischen Teil gut lesbar zu machen. So reichert er die Darstellung mit der Schilderung an, wie er gelegentlich von einem der Affen – einem frustrierten Haremshalter – geprügelt wurde, aber auch damit, daß er frustriert von der indischen Bürokratie die Feldarbeit in Indien aufgegeben hat.

Sommer bemüht sich, dem Leser das Gedankengut der Soziobiologie in leicht verständlicher Form nahezubringen – ohne zu verschweigen, daß sie recht umstritten ist, wie sich das für eine (nicht mehr ganz so) neue Forschungsrichtung gehört. Immer noch ist in Deutschland die Vorstellung weit verbreitet, Tiere verhielten sich so, wie sie es tun, weil das "gut für die Art" sei. Es ist genau umgekehrt: Die Art wird erhalten, weil Individuen dahingehend unter Selektion stehen, sich möglichst erfolgreich fortzupflanzen. Sommer prangert diese Verwechslung von Ursache und Wirkung immer wieder an und führt sie ad absurdum. Insofern sind die Languren sicherlich, wie im Buch herausgehoben, eine Parade-Art der modernen Soziobiologie.

Die schwierige Aufgabe, komplexe theoretische Zusammenhänge in überschaubarer Form darzustellen, bewältigt Sommer in achtbarer Weise. Dem interessierten Leser erschließt das ausführliche Literaturverzeichnis die Originalquellen. Die Anmerkungen bringen häufig komplexere Einzelheiten und machen auch auf abweichende Auffassungen zu den theoretischen Überlegungen im Text aufmerksam.

Es ist erstaunlich, wie viele der hier beschriebenen Phänomene schon in Alfred Brehms "Thierleben" von 1864 geschildert worden sind. An den Interpretationen haperte es dann freilich häufig, wie Sommer deutlich macht. Das lag zum Teil sicherlich an zu großer Anthropozentrik früherer Beobachter, was Sommer nicht daran gehindert hat, das Buch in einer anthropomorphisierenden Sprache zu verfassen. Er verteidigt diese Form, weil sie sehr viel anschaulicher sei als eine strikt objektivierende, rein wissenschaftliche Beschreibung, womit er meiner Ansicht nach recht hat. Sein Stil macht es dem Leser einfacher, der Argumentation zu folgen, erschwert es allerdings, das Gesagte in die Prozesse von Selektion und Evolution rückzuübersetzen.

Gelegentliche Einwände gegen Deutungen von Phänomenen wird man als kritischer Leser immer finden können. So kann ich Sommer nicht folgen, wenn er versucht, den gemeinsamen Kampf von Junggesellenbanden mit Haremshaltern um die Übernahme eines Harems als reziproken Altruismus zu interpretieren. Ebenso anfechtbar scheint mir die Erklärung der Tatsache, daß die Weibchen ihre Östren nicht synchronisieren, als eine Anpassung mit dem Ziel, die Übernahme eines Harems durch viele Männchen zu verhindern. Hier hat man den Eindruck, daß jeder Befund als Anpassung interpretiert wird, wie auch immer ein Test von Hypothesen ausfällt.

Gleichzeitig macht dieses Beispiel deutlich, wie schwer es ist, Hypothesen über die Evolution von Sozialverhalten zu überprüfen, wenn man keine wirklich entscheidenden Experimente machen kann. So ist die Interpretation häufig auf Korrelationen zwischen Faktoren angewiesen, deren kausaler Zusammenhang letztlich unklar bleibt. Dieses Problem nicht deutlicher herausgestellt zu haben ist vielleicht ein Vorwurf, den man dem ansonsten ausgezeichneten Buch machen kann. Ebenso hat Sommer das schwierige Problem, ob eine Anpassung im Verhalten phänotypisch (zum Beispiel durch Lernen) oder aber durch genetische Änderungen erfolge, kaum thematisiert.

Trotz dieser Einwände ist ihm eine klare, ungewöhnlich gut lesbare Einführung in das Gedankengut moderner Soziobiologie am Beispiel der Languren von Jodhpur gelungen, die ich jedem Interessierten zu bereichernder Lektüre empfehlen kann.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1997, Seite 136
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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