Herrscher aus der Steppe
"Nördliche Barbaren" und "minderwertige Kreaturen": Das Urteil der zeitgenössischen chinesischen Geschichtsschreiber war unerbittlich. In ihren Augen war das Nomadenvolk der Kitan unzivilisiert und rückständig. Ihr Eheleben sei ohne Moral, wenn nicht sogar inzestuös. Sie würden seltsame und blutige Totenrituale pflegen, sich unzivilisiert kleiden und ihr Haar in exotischer Weise tragen. Zudem lebte das Volk – so die Berichte – in einer Stammesgemeinschaft, die nur aus zwei Klanen bestand. Ihr Kaiser würde rastlos das ganze Jahr lang durch sein Reich reiten, begleitet von einem Gefolge aus Kamel- und Ochsenwagen, die mit einer tragbaren Stadt aus großen und kleinen Zelten beladen waren. Es gebe fünf Hauptstädte, obwohl die Nomaden doch viel lieber in ihren Jurten als an einem festen Wohnsitz lebten.
Die von chinesischer Seite also wenig geschätzten Kitan wurden bereits in Quellen aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. erwähnt und als Nachkommen der Xianbei beschrieben, einer mächtigen Volksgruppe aus dem Nordosten des heutigen Chinas, die die Nördliche Wei-Dynastie (386 – 554) begründet hatte.
Die Geschichte des Nomadenvolks als Herrscher über Nordchina begann jedoch erst im Jahr 907, als die dort führende Tang-Dynastie zusammenbrach – und sich der Anführer der Kitan, Abaoji, den Titel kaghan (Herrscher) verlieh. Den Thron bestieg er aber erst im Jahr 916, nachdem er mit "Säuberungen" in den eigenen Reihen seine Position gesichert hatte. Erst damit war es ihm gelungen, seine Macht endgültig zu festigen. Wenig später gründete er in der Inneren Mongolei die "Erhabene Hauptstadt" Shangjing.
Bis nach Peking
Obwohl Abaojis Heer überaus schlagkräftig war, konnte er das chinesische Kerngebiet nicht erobern. Mehr Glück hatte er im Westen und im mongolischen Norden sowie schließlich auch in der Mandschurei, wo er das Königreich Bohai zum Vasallenstaat machte. In seiner größten Ausdehnung erstreckte sich das Reich der Kitan von der Mandschurei über die Mongolei bis in das Gebiet des heutigen Peking. Abaojis Nachfolger Deguang, der von 927 bis 947 regierte, unterwarf schließlich sogar die weit im Süden gelegene chinesische Stadt Kaifeng, aus der er aber nach heftigem Widerstand bald wieder vertrieben wurde.
Immerhin konnte er dort kurzfristig seinen Regierungssitz einrichten und im Jahr 947 eine neue Dynastie begründen, die er "Große Liao" nannte. Dieser Name, der sich von einem Fluss im Nordosten Chinas ableitet, sollte fortan als Bezeichnung für die Dynastie der Nomadenfürsten gelten ...
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