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Herrscher in virtuellen Welten - die Ausübung von Macht



Es ist nicht zu leugnen: Medien beeinflussen zunehmend unsere Erfahrungswelt. Film und Fernsehen eröffnen neue Welten, die mit Bereichen der realen Welt eng verwoben sind und sich letztlich davon nicht unterscheiden. Aus der Sicht des Kognitionswissenschaftlers sind tatsächlich alle diese Welten nicht mehr und nicht weniger als Konstruktionen menschlicher Gehirntätigkeit. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit sich die Wahrnehmung von Wirklichkeit durch die Erfahrung medialer Welten mehr und mehr verändert.

Noch hat die Forschung keine definitiven Anworten, da taucht ein neues und sehr eindringliches Medium auf – das Computerspiel. Im Unterschied zu Film oder Buch ist es interaktiv, das heißt, der Spieler muß wachsam sich verändernde, graphisch und akustisch dargebotene Informationen wahrnehmen und danach handeln.

Je nach Spiel und technischer Ausstattung des Computers sind die Bilder mehr oder weniger perspektivisch korrekt und reichhaltig; meist erreichen sie bereits das Niveau von Zeichentrick- und Spielfilmen. Spezielle Texte, Tabellen, Schaubilder und Menüleisten ermöglichen, das Geschehen in der fiktiven Welt auch aus anderen Perspektiven zu verstehen und so in seinen Ursachen und Zusammenhängen angemessen einzuordnen. In sogenannten Action-Spielen gibt es beispielsweise die Sicht des Akteurs – auf dem Bildschirm ist dann meist eine Waffe zu sehen, die auf potentielle Gegner gerichtet wird.

Akustische Signale ergänzen die der Graphik: Musikuntermalungen, Stimmung machende Geräusche und Sprache begleiten die Spielfigur und schaffen einen graphisch-akustischen Ablauf, wie er sonst nur in Zeichentrick- und Spielfilmen dargeboten wird.



Ein jeder ein Held, ein jeder ein Herrscher


Computerspiele bedienen sich also typischer und wichtiger Elemente der herkömmlichen Medienwelt. Durch deren Wahrnehmung und weitere Lernprozesse erkennt der Spieler die Bedeutungen der Figuren und ihre Funktionen im Kontext des Spiels. Dieses Verständnis ist eine wichtige Voraussetzung, um im Spiel wirkungsvoll handeln zu können und Befriedigung zu finden.

Um diese emotionale Gratifikation geht es beim Computerspiel. Sie besteht in der Regel darin, daß man durch eigene Leistung die Spielwelt unter Kontrolle hat, sich ein Bleiberecht in ihr erstreitet – und sei es erst nach vielen Stunden. Wer häufig an dieser Aufgabe scheitert, wird das Spiel bald aufgeben.

Bildschirmspiele bieten Erfolgserlebnisse in Leistungsbereichen und zu Spielinhalten, die sich der Spieler selbst aussuchen und deren Schwierigkeitsgrad er selbst bestimmen kann. In einer miniaturisierten und auf wenige Elemente reduzierten Welt erlebt er Macht und Kontrolle (Bild 1). Ob er dazu eine Figur als elektronischen Stellvertreter seiner selbst mit Joystick oder Maus steuert und somit sein eigenes Körperschema erweitert oder ob er sich bei Strategie- und anderen Denkspielen als Staaten- und Schlachtenlenker außerhalb des unmittelbaren Geschehens befindet: Dieses Gefühl von Macht und Kontrolle ist die wesentliche Quelle der Faszination von Computerspielen.

Denn für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ist einer der wichtigsten Wünsche überhaupt, das eigene Leben selbst zu bestimmen; daß es durch andere bestimmt wird, erleben sie ständig. Von daher suchen viele ihre Bewährung in der "Welt am Draht". Hier gewinnen sie einen Spielraum, in dem sie Macht und Herrschaft ausüben. Zwar dienen Computerspiele als Mittel gegen Langeweile und mangelnde Anregungen in der Lebenswelt, sie sind jedoch auch Selbstmedikation gegen Mißerfolgsängste, mangelnde Lebenszuversicht und das Gefühl von Abhängigkeit. Mit dem Erfolg in der virtuellen Welt wächst die Zuversicht des Spielers, sich auch in seiner Lebenswelt behaupten zu können. Das Bildschirmspiel fasziniert, weil sein wesentliches Angebot die stärksten Bedürfnisse des Lebens anspricht.

Indem Computerspiele diese Brücke zwischen ihrer eigenen Welt und der des Spielers schlagen, indem sie zumindest scheinbar Bedürfnisse erfüllen, schaffen sie wiederum die Grundlage des Erlebens einer zwar virtuellen, aber doch in sich "wirklichen" Welt. Denn jede Welt wird real, wenn man ihr genug Aufmerksamkeit zuwendet. Viele von uns befragte Spieler versenken sich offensichtlich so intensiv in ein Computerspiel, daß sich ihnen eine Welt eröffnet. Die Aufenthalte dort wurden mit Begriffen beschrieben wie: ausklinken, mich vergessen, abtauchen, fesseln, reinversetzen, reinfinden, drin sein, ausleben, verfallen, ganz dabei sein, abschalten, vertiefen. Die Intensität des Erlebens wird dadurch gesteigert, daß die Spielwelt ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration fordert – nur der Schnellste oder Klügste überlebt.

Die von uns durchgeführten Interviews bestätigen diese Überlegungen. Folgende Äußerung einer 13jährigen Schülerin illustriert beispielsweise, daß der Ausgangspunkt intensiven Erlebens die Erfahrung der eigenen Kompetenz ist: "Wie ich mich fühle, kommt darauf an, was für ein Spiel es ist. Wenn es eins ist, was ich gut kann und was mir Spaß macht, dann ist es schön, es gespielt zu haben. Und wenn nicht, wenn ich mich aufrege oder wenn ich gerade etwas spiele, das ich nie geschafft habe, mein Herz läuft dann eben ...".

Das Gefühl, etwas wirklich zu können und das auch bestätigt zu bekommen, ist für manche Mädchen und Jungen so befriedigend, daß sie es möglichst lange genießen wollen. So entsteht eine Sogwirkung. Eine 17jährige Schülerin dazu: "Ich will irgendwann nicht mehr aufhören, ich will immer weiter. Ich weiß, daß ichirgendwann ans Ziel komme und dann nichts mehr zu lösen ist."

Hinter dieser Empfindung steht das Bedürfnis, die Grenzen der eigenen Kompetenz zu erfahren und immer weiter auszudehnen. Das Computerspiel bietet diese Erfahrung auf einer symbolischen Ebene: Ist ein Teilziel geschafft, taucht auch schon das nächste auf. Mit jedem Erfolg wird die Zuversicht gestärkt, ans Ziel zu kommen, dorthin, wo keine Aufgaben mehr warten.

Um das Gefühl der Kompetenz genießen zu können, muß man ganz und gar in der Tätigkeit aufgehen, wie es dieser 17jährige Schüler beschrieb: "Eigentlich ist das reizlos, wenn man zuviel Abstand hat vom Computerspielen, finde ich. ... Wenn man sich da wirklich hinsetzt und denkt: Ja das ist irgend ein blödes Spiel, da läuft jetzt irgend ein blödes Teil 'rum, du steuerst das irgendwie von ganz außen, dann wird es irgendwo uninteressant. Für mich liegt auf jeden Fall der Reiz darin, sich da reinzuversetzen und zu versuchen, sozusagen in diese Welt einzutauchen."

Verminderung der Distanz schafft für viele Spieler einen Reizschutz, das heißt die Spiele schirmen den Akteur von seiner mentalen Welt ab, indem sie das Reizniveau des Spiels – etwa durch permanente Bedrohungssituationen, Zeitstress oder Ausweitung der zu durchdenkenden Komplexität – so anheben, daß der Spieler auf keine anderen Gedanken mehr kommt. So wurde für diesen 13jährigen Schüler die Notwendigkeit zur Konzentration zum eigentlichen Spielreiz: "Mir gefällt, daß ich, wenn ich ein Spiel spiele, immer nur an das Spiel denken muß und nur mit dem Spiel verbunden bin und gar nichts anderes." Von daher wird es für die Programmierteams zu einer zentralen Aufgabe, die emotionale Intensität und Erlebnisdichte zu erhöhen. Je stärker die Faszinationskraft, desto höher der Verkauf.

Macht, Herrschaft und Kontrolle sind also zentrale Begriffe für Computerspiele, emotionale Intelligenz hingegen bleibt ausgeklammert. Der Spieler muß sich nie in die Gefühlswelt eines Gegenübers hineinversetzen oder Situationen unter emotionalen Gesichtspunkten verstehen. Der gesamte Bereich der Empathie bleibt ausgespart – und damit ein entscheidender Aspekt des menschlichen Zusammenlebens. Die den Menschen kennzeichnende Interaktivität, also das Bewußtsein, wechselseitig aufeinander bezogen zu sein, ist bei Computerspielen um die emotionale und empathische Dimension verkürzt. Interaktivität heißt dort lediglich, strategisch und taktisch angemessene Verhaltenssequenzen auszubilden, um in der virtuellen Welt zu überleben.

Beim Computerspiel kommt es nicht auf Bedeutungen, sondern auf Wirkzusammenhänge an. Um die dargebotenen Bilder zu deuten, fehlt dem Spieler – zumindest bei Action-Spielen – ohnehin die Zeit. Er erlebt keinen Film, dessen Deutungsmustern zu folgen wäre, sondern funktional angelegte Handlungssequenzen, die zu bewältigen sind. Graphik und Ton werden lediglich nach Hinweisen überprüft, die Überleben und Vorankommen in der virtuellen Welt sichern.

Es gibt dementsprechend auch kein personales Gegenüber, sondern Figuren ohne Gefühle und Leidenschaft. Daran ändert sich auch nichts, wenn ihre Verhaltensweisen mittels umgebungsabhängiger Parameter gesteuert werden. Auch eine Figur, die dank eines neuronalen Netzes lernfähig ist, verhält sich nur getreu einer vorprogrammierten Kosten-Nutzen-Erwägung. Kein noch so putziges virtuelles Lebewesen besitzt Gefühle. Computerspiele erfordern derzeit das Verstehen und Beherrschen von Reiz-Reaktions-Sequenzen, kein Einfühlen in eine emotional getönte Situation.

Spielentscheidend ist das instrumentelle und rationale Kalkül: Sieger ist, wer schneller schießt und öfter trifft oder schneller plant und klarer denkt. Andere Gedanken sind hier störend. Dies gilt für moralisch-emotionale Auseinandersetzungen mit dem Spielinhalt ebenso wie für Identifikationen mit Spielfiguren und Situationen. Feinde sind klar vorgegeben und mit allen Mitteln zu vernichten. Das Niederschießen einer anderen Spielfigur bedeutet nur das Vorankommen im Spiel – nicht Tötung, Schmerz und Leid.

Eine derartige Orientierung fällt um so leichter, als diese Figuren der virtuellen Welt keine ausdifferenzierten Charaktere sind, die sich auch emotional weiterentwickeln und verändern. Selbst in sogenannten Rollenspielen bleiben sie klischeehaft und auf ihre funktionalen Aspekte begrenzt. Sie mögen zwar "Erfahrungspunkte" hinzugewinnen, an "Kampfkraft" zulegen und weitere "magische Fähigkeiten" erwerben – eine Persönlichkeit mit Tiefe, Individualität und Prägnanz werden sie nicht erlangen (Bild 2); wenn dem Spieler Emotionen und Persönlichkeit wichtig sind, muß er sie hineindeuten.

Computerspiele, wie sie derzeit auf dem Markt sind, fördern also rationale und technische Fertigkeiten. Zwar scheinen die Spielinhalte keine Entsprechungen zur realen Welt zu haben und die zu lernenden Handlungsmuster auf das Spiel begrenzt zu bleiben, die fehlende Auseinandersetzung mit der emotionalen Seite erscheint mir aber problematisch.

Erhöht beispielsweise der Zwang zu aggressiver Handlung in Actionspielen die Bereitschaft, Gewalt als probates Mittel der Auseinandersetzung zu akzeptieren (siehe Kasten Seite 110)? Die Computertechnik macht auch Spiele möglich, die Toleranz und Verständnis fördern oder schlicht von der Notwendigkeit zur Kooperation überzeugen. Entscheidend wird es sein, die virtuellen Welten in einen angemessenen sozialen Kontext einzubinden. Freilich reicht es dazu nicht, sich online zum Spiel im Cyberspace zu treffen, wie eine neuere Studie der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh (Pennsylvania) zeigte: Eine verstärkte Nutzung des Internets ging oft einher mit einer verminderten Kommunikation, kleinerem Freundeskreis und zunehmender Einsamkeit; feste Beziehungen im wirklichen Leben wurden gegen schwache Online-Freundschaften getauscht. Gemeinsame Spiele mit Gesprächen über das Erlebte in der wirklichen Welt sind erforderlich, denn erst sie ergänzen die fehlende menschliche Komponente.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1998, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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