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Neuropsychiatrie: Herzhormon dämpft Panik



Menschen, die unter einer Panikstörung leiden, packt immer wieder urplötzlich die nackte Angst. Sie meinen zu ersticken, fühlen sich schweißgebadet und glauben, dass ihr Herz bis zum Zerspringen rast, während der Blutandrang fast den Kopf sprengt. Sie fürchten verrückt zu werden oder zu sterben. Das Erleben übertrifft an Intensität oft sogar die Angst, die Patienten bei einem Herzinfarkt durchmachen.

Nach zehn Minuten bis einer Stunde hören solche Anfälle in der Regel ebenso schnell wieder auf, wie sie gekommen sind. Obwohl sich die Patienten danach völlig normal fühlen, macht ihnen die Ungewissheit das Leben schwer. Oft trauen sie sich kaum noch aus dem Haus und unter Menschen, weil die Angstattacken sie jederzeit aus heiterem Himmel wieder überfallen können. Die Panikkrankheit führt dadurch meist zu Vermeidungsverhalten und sozialem Rückzug.

Die Symptome lassen sich zwar mit Verhaltenstherapie oder Antidepressiva behandeln, doch die ärztliche Hilfe reicht längst nicht aus, und nicht alle Patienten profitieren davon. Viele Betroffene greifen aus Verzweiflung zu Alkohol oder Beruhigungsmitteln und werden davon abhängig; oft entwickeln sie mit der Zeit Depressionen.

Normalerweise versetzt Angst den Körper in einen Alarmzustand. Adrenalin und andere Stresshormone sorgen dann für eine starke Durchblutung von Gehirn und Muskeln, sodass wir weglaufen oder uns mit aller Kraft zur Wehr setzen können. Bei Panikattacken geschieht nichts dergleichen. Die Kranken fühlen zwar ihr Herz jagen und den Puls rasen, als hätte ein Adrenalinstoß das sympathische Nervensystem in Hochspannung versetzt. Doch dies ist offenbar eine Fehlempfindung. Der Arzt misst meist nur einen mäßig erhöhten Puls wie bei einem leichten Ausdauertraining. Der Blutdruck steigt trotz der großen psychischen Erregung überhaupt nicht – desgleichen die Konzentration von Stresshormonen wie Cortisol im Blut.

Erleben und Körperzustand passen also nicht zusammen. Offenbar greift eine Erregung, die im Gehirn entsteht, nur minimal oder gar nicht auf den Körper über. Selbst äußerlich sieht man diesen Menschen einen Angstanfall auf den ersten Blick kaum an.

Herzhormon unterdrückt Wirkung von Stresssignalen

Neurobiologen und Stressforscher suchen seit langem nach einer Erklärung für diesen Widerspruch. Nun glauben wir die Lösung in einem Herzhormon gefunden zu haben, das man bisher in ganz anderen Zusammenhängen kennt. Zu Beginn eines Panikanfalls geben es die Herzmuskelzellen offenbar in großen Mengen ins Blut ab. Von dort gelangt das Hormon in die Nebennierenrinde und ins Gehirn, wo es die alarmierende Wirkung von Stresssignalen auf den Körper unterdrückt.

Naturgemäß ist es schwierig, Menschen während einer akuten Angstattacke medizinisch zu untersuchen. Das Paniksyndrom ist aber eine der wenigen psychischen Krankheiten, deren Symptome sich experimentell durch bestimmte Substanzen auslösen lassen – etwa Milchsäure beziehungsweise ihr Natriumsalz (Na-triumlactat). Ein Großteil der Kranken reagiert auf die Infusion mit einem Panikanfall, während nur wenige Gesunde danach gesteigerte Angst empfinden. Durch Milchsäure erzeugte Anfälle gleichen physiologisch und psychisch in vielem dem natürlichen Erleben. Ärzte nutzen dies mitunter zur Diagnose und im Rahmen einer Verhaltenstherapie.

Bei künstlich ausgelösten Attacken lassen sich dann die verschiedensten physiologischen Parameter messen. Auf diese Weise stellten wir zu unserer großen Überraschung fest, dass Panikkranke bei einem Anfall das "Herzhormon" ANP vermehrt ausschütten. Es ist schon seit fünfzehn Jahren bekannt – allerdings als Signalstoff, der Blutdruck und Nierentätigkeit reguliert. ANP steht für atriales natriuretisches Peptid. Das Hormon bildet sich nämlich in den Vorhöfen des Herzens (Atrien) und fördert die Ausscheidung von Natrium und damit die Harnbildung (Natriurese). Chemisch ist es ein Peptid, also eine kurze Kette anei-nander geknüpfter Aminosäuren.

Seltsamerweise haben Panikkranke im symptomfreien Zustand viel weniger ANP im Blut als Gesunde. Zu Beginn eines Anfalls schnellt der Hormonspiegel dann aber auf mehr als das Doppelte desjenigen von Gesunden empor.

Allerdings löst das Herzhormon die Attacke nicht etwa aus. Im Gegenteil: Es wirkt ihr in vieler Hinsicht entgegen. So kann es verhindern, dass die Nebennieren das Stresshormon Cortisol ausschütten. Auch bei Gesunden ist es Teil eines natürlichen Regelkreises: Steigt der Cortisolspiegel im Blut, werden die Herzzellen hormonell aktiv, sodass Cortisol seine eigene weitere Freigabe hemmt. Bei einer Panikattacke dürfte diese Rückkopplung allerdings kaum eine Rolle spielen, da die Cortisolmenge ja gar nicht erst zunimmt.

Zudem greift ANP, wie wir nachweisen konnten, zentral in die Hormonkaskade einer normalen Stressreaktion ein. Diese beginnt mit der Abgabe eines Signalstoffs im Hypothalamus. Er aktiviert die Hypophyse (Hirnanhangdrüse), die daraufhin ein Hormon ausscheidet, das die Nebennieren anregt. Auch diese übergeordneten Hormone können die Herzmuskelzellen dazu veranlassen, ANP auszuschütten – und damit ihre eigene weitere Produktion hemmen.

Der oberste Signalgeber dieser Kaskade trägt den Namen CRH – für "Corticotropin Releasing Hormon", also "Corticotropin freisetzendes Hormon". De-pressive und Patienten mit Angststörungen bilden wahrscheinlich zu viel davon. Vermutlich ist auch ein CRH-Schub der Auslöser einer Panikattacke. Das Hormon tritt ins Blut über, woraufhin das Herz, wie wir vermuten, ANP abgibt. Dieses verhindert dann im Gehirn, dass die weitere Stresshormonkaskade in Gang kommt, obwohl die erste Stufe schon ausgelöst wurde. Zudem hemmt ANP anscheinend übergeordnete Instanzen des sympathischen Nervensystems.

Doch das ist immer noch nicht alles. ANP kann auch die Angstempfindung mindern, indem es Erregungen in den Emotionszentren des Gehirns dämpft. Dies wiesen wir zunächst in Verhaltenstests an Nagetieren nach. Dabei setzten wir Ratten oder Mäuse zum Beispiel auf erhöhte schmale Bretter ohne Deckung, was ihnen nicht sehr behagt. Meist ducken sie sich an das eine Ende und wagen sich höchstens zögernd weiter vor. Hatten wir den Tieren aber vorher ANP ins Gehirn oder in die Bauchhöhle injiziert, benahmen sie sich weniger ängstlich.

Würden ANP-Injektionen auch bei Panikpatienten dafür sorgen, dass künstlich herbeigeführte Angstattacken milder verlaufen oder weniger leicht auslösbar sind? Genau dies konnten wir vor kurzem tatsächlich nachweisen.

Wir bildeten je eine Gruppe aus gesunden und kranken Versuchspersonen. Allen Probanden wurde in einem von zwei Tests vor dem chemischen Angstauslöser das Herzhormon intravenös injiziert, ohne dass sie wussten, in welchem. Daraufhin stellte sich in beiden Gruppen bei weniger Personen als im Kontrollversuch eine Panikattacke ein. Wenn trotzdem Angst aufkam, wurde sie als nicht so stark empfunden. Demnach unterdrückt ANP nicht nur die unteren Instanzen der Stresshormonkaskade, sondern trägt auch dazu bei, die Angst zu mildern und den Panikanfall wieder zu beenden.

Wie man inzwischen weiß, besitzt das Gehirn in mehreren Regionen Re-zeptoren, also Erkennungsmoleküle, für ANP. Zudem stellte sich heraus, dass dieses Peptidhormon außer in den Herzmuskelzellen auch im Gehirn entsteht. Das passt zu einer anderen Erkenntnis, die Neurobiologen für eine der wichtigsten der letzten Jahre halten: dass CRH nicht nur als Hormon fungiert, sondern auch als Neurotransmitter, der Signale zwischen Nervenzellen überträgt. Demnach könnte ANP als großer Gegenspieler des CRH im Gehirn wirken.

Bei Panikkranken sind offenbar emotionssteuernde Systeme entgleist. Immer-hin scheint ihr Organismus aber noch zu "wissen", wie er bei einer Attacke erreicht, dass die belastenden körperlichen Reaktionen gering bleiben und der furchtbare Zustand schnell wieder aufhört. Diese natürliche Reaktion sollte man auch therapeutisch nutzen können. Die molekulare Struktur von ANP und sein Gen sind inzwischen bekannt. Außerdem wurde kürzlich ein eng verwandtes Hormon entdeckt, das aber entgegengesetzt wirkt, also Angst und Stressreaktion verstärkt. Diese Moleküle könnten Ausgangspunkte für eine völlig neue Medikamentenklasse werden, die Panikpatienten wirksame Hilfe verspricht.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2002, Seite 11
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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