Kulturgeschichte: Himmelsscheibe, Keltenfürsten
Archäologische Forschung hat mehr zu bieten als Pergamon, Pompeji und Pyramiden: Spektakuläre Funde in Deutschland und hier entwickelte Verfahren zeichnen ein neues Bild europäischer Geschichte.
Archäologie – wer denkt da nicht an Heinrich Schliemann, der Troja und Mykene ausgrub, den "Schatz des Priamos" und die "Maske des Agamemnon" fand und damit antike Orte und Personen aus dem nebligen Reich der Mythen in die begreifbare, reale Welt überführte? Oder an C.W. Cerams "Götter, Gräber und Gelehrte", den wunderbaren Roman der Archäologie, der seit fünfzig Jahren die Neugier einer breiten Öffentlichkeit an den spannenden Abenteuern der Archäologie weckt?
Es ist diese Mischung aus spektakulären Funden und Einblicken in unsere kulturelle Vergangenheit, die das Faszinierende an der Archäologie ausmacht. Die Artefakte, die Archäologen aus den unterschiedlichsten Zeiten und Räumen der menschlichen Entwicklungsgeschichte ans Licht holen, liefern die materielle Basis, aus der die Lebensverhältnisse unserer Ahnen rekonstruiert werden können. Auf jene Weise erhalten und ergänzen die Archäologen unser kulturelles Gedächtnis. Dennoch ist das Bild dieser Wissenschaft in der Öffentlichkeit ambivalent.
Denn hartnäckig haftet der Archäologie einerseits der Mythos an, vor allem nach kostbaren Objekten aus Edelmetall zu graben, also Schätze zu suchen. Andererseits hat sich die Archäologie aufgrund der rasanten Entwicklung spezieller Grabungstechniken (wie etwa der Fotogrammetrie) sowie differenzierter Restaurierungs- und Untersuchungsmethoden schon seit langem von eben diesem Klischee emanzipiert. Einzelne, in Deutschland entwickelte Verfahren wie etwa die geomagnetische Prospektion, gehören inzwischen zum internationalen Standard der Archäologie. Doch sind die bemerkenswerten Errungenschaften der archäologischen Forschung mit jeder Präsentation von Artefakten stets aufs Neue der Gefahr ausgesetzt, in der Öffentlichkeit auf eben diesen Mythos der Schatzsuche reduziert und damit verkannt zu werden.
Phänomenaler Erkenntnisgewinn
Tatsächlich ist die Archäologie heute aufgrund jahrzehntelanger Arbeit, dem Einsatz komplexer Technologien (wie beispielsweise dem Laserpantographen) sowie interdisziplinärer Forschungsprojekte bestens in der Lage, genaue Aussagen über die Kultur- und Entwicklungsgeschichte des Menschen zu treffen. Sie gewährt Einsichten in unsere Vergangenheit, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Dabei zeigt sich, dass insbesondere das Bild der europäischen Frühgeschichte nicht nur in wesentlichen Punkten präzisiert, sondern teilweise sogar korrigiert werden konnte. Denn Archäologie ist nicht nur die Wissenschaft von den frühen Hochkulturen im Mittelmeerraum. Dass sie mehr zu bieten hat als Pergamon, Pompeji und Pyramiden, haben Aufsehen erregende Funde auf deutschem Boden in jüngster Zeit verdeutlicht.
Einen geradezu phänomenalen Erkenntnisgewinn erbrachten beispielsweise Luftbildprospektionen, die ab 1990 in den neuen Bundesländern durchgeführt wurden. Aufgrund der gegenüber Westdeutschland verschiedenen Bewirtschaftung riesiger landwirtschaftlicher Areale konnten die Wissenschaftler hier mehrere hundert Kreisgrabenanlagen und spätkeltische Viereckschanzen relativ leicht aus der Luft identifizieren. Während die Archäologen diese Viereckschanzen noch vor etwa zehn Jahren als Tempelanlagen mit Opferhäusern deuteten, so führte ihre massenhafte Entdeckung nun zur Erkenntnis, dass derartige Anlagen sowohl als Lagerplatz für Waren, als Zufluchtsort für Mensch und Vieh, aber auch als Wohnplatz dienten. Offenbar waren diese Gebiete stärker besiedelt als bislang angenommen.
Auch das vertraute Bild der Völkerwanderung erweist sich heute als zu allgemein – zeigen doch archäologische Forschungen mehr und mehr, dass trotz etlicher kriegerischer Konflikte durch alle Zeiten eine Kontinuität der Bevölkerung vorherrschte. Vor diesem Hintergrund sowie der Tatsache, dass der römische Limes keine feste Kulturscheide war, lässt sich sehr gezielt nach den Vorgängen der Romanisierung Mitteleuropas fragen.
In der Bundesrepublik Deutschland ist die Anzahl bekannter archäologischer Plätze seit 1975 – dem Jahr der letzten umfassenden archäologischen Gesamtschau in Deutschland – gewaltig angewachsen und wird auf gegenwärtig über 350000 veranschlagt. Die Zahl der noch unbekannten archäologischen Fundstellen dürfte freilich um ein Vielfaches höher liegen. Jedes Jahr werden Tausende von Bodendenkmälern entdeckt.
Der wissenschaftlichen Aufarbeitung hierbei anfallender immenser Daten- und Fundmengen sind inzwischen allerdings immer öfter finanzielle Grenzen gesetzt. Statistisch gesehen können sogar nur zwei bis fünf Prozent der durch Baumaßnahmen bedrohten archäologischen Plätze rechtzeitig ausgegraben werden. Die rund 2000 hauptberuflichen Archäologinnen und Archäologen in Deutschland stehen hierbei in ständigem Wettlauf mit der Zeit.
Wendepunkte der archäologischen Forschung in den vergangenen 25 Jahren in Deutschland markieren – neben vielen anderen – die bedeutenden Funde aus der Keltenzeit: das Fürstengrab in Hochdorf an der Enz (Baden-Württemberg), das 360 Hektar große Oppidum von Manching an der Ilm (Bayern) sowie die vier Statuen vom Glauberg (Hessen) und die dort entdeckte lange Prozessionsstraße, der nördlich der Alpen nichts Vergleichbares entgegenzustellen ist (vergleiche Spektrum der Wissenschaft 05/2002, S. 96). Als bahnbrechend erwiesen sich jene Projekte vor allem auch deshalb, weil bei ihnen neue archäologische Methoden und Techniken erfolgreich zum Einsatz gelangten, die bei Grabungen nur wenige Jahre später dann bereits selbstverständlich waren wie etwa das Prinzip der Blockbergung.
Im Laufe der letzten 25 Jahre konnte so das Bild der europäischen Frühgeschichte durch bedeutende Funde kontinuierlich erweitert werden. Hierzu ge-hören die beiden 7000 Jahre alten Tiefbrunnen in den linearbandkeramischen Siedlungen von Eythra (Sachsen) und Erkelenz (Nordrhein-Westfalen) ebenso wie die Funde bei Kalkriese (Niedersachsen), anhand derer der Ort der legendären Varusschlacht identifiziert werden konnte, und die mehr als 600 heute bekannten slawischen Burganlagen zwischen Elbe und Oder.
Mit der Vielzahl der materiellen Zeugnisse einhergehend gelangten erstmals auch Fragen nach den Vorstellungen, die sich Menschen zu verschiedenen Zeiten und Orten über das Jenseits bildeten, in den Blick der Archäologen. Anhand der Beigabensitten in den Gräbern ließen sich, wenngleich keine Beweise, so doch immerhin vielfältige diesbezügliche Einsichten gewinnen. Vierrädrige Wagen in keltischen Gräbern und kleine Wagenmodelle könnten auf die auch aus der Antike bekannte Vorstellung einer Überfahrt der Seele in das Reich der Toten hindeuten. Ein in Manching gefundenes, mit Blattgold überzogenes Kultbäumchen – es zeigt Holzeicheln und Efeublätter – ist gewiss zu Recht mit der den Kelten von antiken Autoren attestierten Verehrung heiliger Haine in Verbindung gebracht worden.
Schwieriger und demgegenüber auch gewagter scheint die Interpretation der flächendeckenden Ornamente des "Berliner Goldkegels" oder "Berliner Goldhuts" aus der Zeit um 1000 v. Chr. als astronomisches Kalenderwerk. Das Wissen um den Mondzyklus und seine Bedeutung im Kalenderwesen wäre dieser These zufolge schon rund 500 Jahre vor den Berechnungen des griechischen Astronomen Meton von Athen in Mitteleuropa bekannt gewesen. Derartige Überlegungen scheinen mit der jüngst erfolg-ten Entdeckung der frühbronzezeitlichen "Himmelsscheibe von Nebra" unerwartet bestätigt.
Die rund zwei Millimeter dicke und zwei Kilo schwere Bronzescheibe, deren Echtheit nach vielfältigen Laboranalysen inzwischen als gesichert gilt, wird auf die Zeit um 1600 v. Chr. datiert. Sie weist – neben Sonne und Mond – insgesamt 32 kleine Goldblättchen auf. Sieben dieser wohl als Sterne anzusehenden Goldeinlagen, die mittels Tauschiertechnik befestigt sind, könnten den Sternhaufen der Plejaden darstellen. Doch anders als im Falle des Berliner Goldkegels, dessen Fundort nicht genau bekannt ist, lassen sich für die Himmelsscheibe von Nebra konkrete Anhaltspunkte dafür finden, dass dieser "Schlüsselfund der Archäoastronomie" den Menschen im zweiten vorchristlichen Jahrtausend zur Bestimmung des Zeitpunktes von Aussaat und Ernte diente.
Vielleicht liegt das Besondere archäologischer Schätze gerade darin, dass die archäologische Forschung in der Gegenwart an einem Punkt angelangt ist, von dem aus es in nicht allzu ferner Zeit möglich sein wird, über die Objekte hinaus bis zur einzelnen Person vorzudringen. Der Weg dahin scheint viel versprechend.
Veranstaltungshinweis
Die erste nationale deutsche Archäologieausstellung "Menschen, Zeiten, Räume – Archäologie in Deutschland" ist vom 6.12. 2002 bis zum 31.3.2003 im Martin-Gropius-Bau Berlin, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin, zu sehen; geöffnet mittwochs bis montags 10-20 Uhr. Vom 9.5.-24.8. 2003 wird sie in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn gezeigt. Der 400 Seiten starke Begleitband zur Ausstellung ist im Theiss Verlag, Stuttgart, erschienen und kostet als Buchhandelsausgabe 34,90 &€;.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2002, Seite 92
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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