Medizingeschichte: Auf den Schultern von Hippokrates und Galen
Wer im Zusammenhang mit esoterischen oder alternativen Heilmethoden vor einem »Rückfall ins finstere Mittelalter« warnt, verkennt die Leistung und Dynamik dieser Epoche. Mochte es italienischen Gelehrten des 14. Jahrhunderts auch so vorgekommen sein, als habe sich ein düsteres »mittleres Zeitalter« zwischen eine strahlende Antike und ihre neuerlich leuchtende Gegenwart geschoben, war das Wissen der Geistesgrößen Griechenlands und Roms doch nie vollständig verschwunden. Manches wurde überliefert, in christliche Denkweisen transformiert und um neue Erfahrungen ergänzt. Das brachte niemand so treffend zum Ausdruck wie der Philosoph Bernhard von Chartres (gestorben nach 1124): »Wir sind Zwerge, auf den Schultern von Riesen sitzend, um mehr und weiter als sie sehen zu können.«
Einer dieser antiken Riesen war Hippokrates von Kos (zweite Hälfte des 5. bis erste Hälfte des 4. Jahrhundert v. Chr.), der bereits in der Antike als Erfinder der Medizin galt. Die heutzutage als »Corpus Hippocraticum« bezeichneten Schriften – ursprünglich allesamt anonym überliefert, aber bereits in der Antike unter den Namen des großen Vorbilds gestellt – deckten zahlreiche Fächer ab wie Chirurgie und Frauenheilkunde, aber auch zeittypische Themenfelder wie Prognostik und Semiotik, also die Vorhersage von Krankheitsverläufen und das Deuten von Zeichen. Im Unterschied zur modernen Prognose, die auf statistischen Daten beruht wie etwa den Fünf-Jahres-Überlebensraten bestimmter Krebserkrankungen, ging es in der hippokratischen Prognostik um die Vorhersage des individuellen Verlaufs. Einige Schriften beschäftigten sich mit den Grenzen der Heilkunst, waren also gleichsam Vorläufer einer Medizinethik. In diesen Kontext gehört auch der hippokratische Eid, der seit dem 10. Jahrhunderts zum »Corpus« gehört, in der Antike aber wohl unbekannt war …
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