Forschungsgeschichte: Von der Schädellehre zum Neuroimaging
Herr Professor Hagner, Sie haben eingehend die Geschichte der Physiognomik erforscht, also Versuche von Forschern, Zusammenhänge zwischen Körpermerkmalen wie der Gesichts- oder Schädelform und dem Charakter eines Menschen zu finden. Steckt tief in uns ein Bedürfnis, vom Äußeren auf geistige Eigenschaften zu schließen?
Wir Menschen sind tatsächlich Zeichenleser. Das heißt, wir neigen dazu, aus einigen Informationen weit reichende Schlüsse zu ziehen. Für unsere Vorfahren war das überlebenswichtig. Anhand von Abdrücken auf dem Boden musste sich eine Gruppe von Jägern einst entscheiden, ob sie die Spur aufnehmen und hinterhergehen oder sich schleunigst davonmachen sollte. Auch für uns heute ist es zum Beispiel sehr wichtig, die Gesichtsausdrücke unserer Mitmenschen richtig zu deuten. So unterscheiden wir zwischen Freund und Feind oder erkennen, ob Gefahr im Verzug ist. Zeichen zu interpretieren, ist also ein biologisches Grundbedürfnis. Bei der Physiognomik jedoch wird das kulturell überformt. Hier wollen wir sogar an den Gesichtszügen eines Menschen oder an der Schädelform seinen Charakter ablesen. Das hat mit Biologie und Überleben nichts mehr zu tun.
Seit wann gibt es diese kulturelle Überformung?
Bereits in der Antike brachten Ärzte und Philosophen die Persönlichkeit eines Menschen mit seiner Physiologie in Zusammenhang. Das war die so genannte Säftelehre. Je nachdem, ob im Körper Schleim, schwarze Galle, gelbe Galle oder Blut vorherrschte, sollte das bestimmte Temperamentsmerkmale bedingen. So entstanden der Choleriker, der Melancholiker, der Phlegmatiker und der Sanguiniker – Charaktertypen, die es in unserem Alltagsdenken bis heute gibt. Das, was wir gemeinhin unter Physiognomik verstehen, beginnt im 18. Jahrhundert mit dem Züricher Pfarrer Johann Caspar Lavater. Er glaubte erstmals, dass man die Persönlichkeit eines Menschen an äußerlichen, anatomischen Gegebenheiten festmachen kann, nämlich an den Gesichtszügen ...
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