Hitzeschockprotein hilft der Evolution auf die Sprünge
Ein neu entdeckter Mechanismus sorgt dafür, daß verborgene Mutationen im Erbgut sich nur unter Streß ausprägen.
Zwei der bekanntesten populärwissenschaftlichen Autoren im Bereich der Biologie unterhielten ihr Publikum im vergangenen Jahr mit einem zwar nur aus der Ferne und meist schriftlich ausgetragenen, aber dennoch deftigen Streit. Richard Dawkins, seines Zeichens Evolutionsbiologe und seit einigen Jahren Professor für Wissenschaftsvermittlung in Oxford, befand die Schriften seines werten Kollegen für "schädlich". Der so beschimpfte Paläontologe Stephen Jay Gould von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) gab zurück, Dawkins Argumente seien nicht nur unzureichend, sondern schlicht falsch.
Die berühmten Gelehrten sind sich über Vieles uneins, nicht zuletzt über die Frage der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion, die Dawkins verneint und Gould bejaht. Doch was die bisher nur indirekt geäußerten Meinungsverschiedenheiten bis in ganz und gar untypische Angriffe eskalieren ließ, war die Frage, ob die Evolution hauptsächlich durch die Darwinschen Prozesse der Mutation und Selektion von Genen bestimmt wird, wie Dawkins unbeirrt verkündet, oder ob bisher nicht näher bekannte Mechanismen einen sprunghaften Wechsel zwischen schneller Veränderung und langer Stagnation erlauben – so das Credo von Gould.
Anhänger der Dawkinsschen Auffassung beschuldigen den Erfinder der Theorie vom unterbrochenen Gleichgewicht (punctuated equilibrium), mit dem schwer faßbaren Konzept der Sprunghaftigkeit denjenigen Vorschub zu leisten, die mystische oder religiöse Ideen in die Evolutionslehre einschmuggeln wollen. Doch vor kurzem hat eine überraschende Entdeckung an Hitzeschockproteinen der Taufliege (Drosophila melanogaster) eine mögliche biochemische Erklärung für Evolutionssprünge geliefert, die Goulds Theorien mit einem soliden genetischen Fundament versehen könnten.
Daß eine Überhitzung von Zellen biochemische Gegenreaktionen auslöst, hat man in den sechziger Jahren zunächst an Fliegenchromosomen entdeckt. Später zeigte sich, daß dabei bestimmte Eiweißstoffe produziert werden, die folglich als Hitzeschockproteine bezeichnet wurden. Sie kommen in allen Lebensformen vor. Wie sie Hitzeschäden vermeiden helfen, blieb aber lange unklar. Erst vor etwa zehn Jahren stellte sich heraus, daß sie als "molekulare Anstandsdamen" (Chaperone) anderen Proteinen, die entweder frisch synthetisiert oder vom Hitzeschock aus der Fasson gebracht worden sind, dabei helfen, ihre schickliche, sorgsam gefaltete dreidimensionale Gestalt anzunehmen. Bei einigen Hitzeschockproteinen wie dem besonders ausgiebig untersuchten HSP60 (bei Bakterien GroEL genannt) bildet diese Chaperonfunktion wohl die wichtigste Aufgabe (Spektrum der Wissenschaft, März 1994 und April 1995, jeweils Seite 16). Was andere Mitglieder der Gruppe bewirken, ist noch nicht bis ins einzelne geklärt. Zu diesen ziemlich unbeschriebenen Blättern gehört das HSP90, von dem jetzt überraschende Fähigkeiten ans Licht kamen.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Hitzeschockproteinen, die nur im Notfall synthetisiert werden und unter streßfreien Bedingungen gewöhnlich ganz fehlen, ist HSP90 im Cytoplasma der Zellen höherer Lebewesen auch im Normalzustand schon eines der am häufigsten anzutreffenden Proteine. Bei erhöhten Temperaturen wird seine Produktion noch gesteigert. Tatsächlich kann HSP90, wie das Team von Johannes Buchner an der Universität Regensburg 1995 nachwies, auch als Chaperon andere Proteine davor schützen, zu einem hoffnungslos verworrenen Aminosäureknäuel zu verklumpen. Was aber tut es bei Normaltemperatur?
Schon früh fanden sich Hinweise darauf, daß HSP90 mit der Übermittlung von Signalen zu tun hat. So spielt es bei der Wirkung von Steroidhormonen wie Androgen, Östrogen und Glucocorticoid eine Rolle. Sie dringen in ihre Zielzelle ein und lagern sich dort, um ihre Botschaft zu übermitteln, an einen sogenannten Rezeptor an. Mit ihm zusammen wandern sie daraufhin zur DNA im Zellkern und sorgen dort dafür, daß bestimmte Gene abgelesen werden. Der Rezeptor ist aber nur dann für die Hormone "aufnahmebereit", wenn er sich zuvor mit zwei Molekülen HSP90 und, wie drei Arbeitsgruppen 1996 unabhängig voneinander herausfanden, weiteren Chaperonen zu einem komplizierten Gebilde vereinigt hat. Zu letzteren gehören unter anderem die Eiweißstoffe Cyclophilin und FKBP, die am Zustandekommen einer Immunreaktion beteiligt sind und deshalb die Bezeichnung Immunophiline erhalten haben. Sie werden von den Medikamenten Cyclosporin beziehungsweise FK-506 gebunden und dadurch abgefangen; darauf beruht die immunsuppressive Wirkung dieser Arzneimittel, die einer Abstoßung transplantierter Organe vorbeugen.
Dies alles schien darauf hinzudeuten, daß HSP90 – zusammen mit anderen Proteinen – die Rezeptoren der Steroidhormone in einen auf bestimmte Weise strukturierten Zustand bringen. Eine solche Funktion ist sicherlich wichtig für die Zelle, geht aber nicht wesentlich über die wohlbekannte Wirkungsweise anderer Chaperone hinaus. Demgegenüber eröffnen die jüngsten Ergebnisse über HSP90 völlig neue Dimensionen und weisen diesem Hitzeschockprotein eine entscheidende Rolle sowohl in der Embryonalentwicklung als auch in der Evolution zu ("Nature", Band 396, Seite 336, 26. November 1998).
Suzanne Rutherford und Susan Lindquist von der Universität Chicago untersuchten Taufliegen, deren HSP90-Gen durch Mutation in einem der zwei Chromosomensätze außer Gefecht gesetzt war. Homozygote Mutanten, in denen beide Kopien des Gens defekt sind, sterben bereits im Embryonalstadium, doch heterozygote Fliegen mit einer intakten Version sind nicht nur überlebensfähig, sondern auch fruchtbar und können deshalb für Kreuzungsexperimente verwendet werden. Überrascht stellten die beiden Wissenschaftlerinnen fest, daß bei den heterozygoten Tieren ungewöhnlich oft morphologische Mißbildungen auftraten, etwa in den Strukturen der Augen oder der Flügel (siehe Bild).
Mehrere Indizien legten nahe, daß die HSP90-Mutation die Ursache sein mußte. So ergaben Mutanten verschiedener Herkunft mit ähnlichen Mutationen in HSP90 ähnliche Mißbildungen. Zugleich wiesen Doppelmutanten, in denen beide Exemplare des Gens auf verschiedene Weise gestört waren, besonders schwere Fehler im Körperbau auf. Außerdem brachten Fliegenstämme mit intakten Genen Nachkommen mit Mißbildungen hervor, wenn sie mit einem Wirkstoff gefüttert wurden, der HSP90 spezifisch hemmt. Derselbe Effekt ließ sich auch durch Anzucht der Wildtyp-Stämme bei besonders hohen oder niedrigen Temperaturen erzielen.
Offenbar kommt es immer dann, wenn HSP90 nicht in ausreichender Menge vorhanden, in seiner Funktion gehemmt oder durch seine zweite Aufgabe in der Streßantwort in Beschlag genommen ist, abnorm häufig zu morphologischen Störungen. Das ließe die Schlußfolgerung zu, das Chaperon habe die bisher unbekannte Aufgabe, Fehler bei der Vervielfältigung der DNA vermeiden zu helfen.
Weitere Kreuzungsexperimente legten jedoch eine verblüffendere Deutung nahe. Demnach waren die beobachteten Veränderungen schon als "stumme" genetische Variabilität in den gesunden Vorfahren der betroffenen Fliegen angelegt – etwa in Gestalt von Zufallsmutationen in den Transkriptionsfaktoren, die wesentlich an der Steuerung der Embryonalentwicklung beteiligt sind. HSP90 muß also die möglichen Auswirkungen der Mutationen unterdrückt haben – vielleicht indem es in Chaperon-Manier den betroffenen Faktoren trotz ihrer veränderten Sequenz bei der Ausbildung der richtigen Struktur half. Wurde nun das Helferprotein durch Mutation, Hemmstoffe oder Umweltstreß an dieser Aufgabe gehindert, so kamen die möglicherweise bereits über viele Generationen angesammelten Mutationen in Gestalt von Mißbildungen zum Tragen.
Puffer für genetische Variabilität
Nach dieser Interpretation, die durch die vorliegenden Befunde zumindest für Drosophila überzeugend belegt ist, dient HSP90 als Puffer für genetische Variabilität. Unter Normalbedingungen unterdrückt es die Auswirkungen von Mutationen und ermöglicht so die Bewahrung eines Veränderungspotentials auf der Gen-Ebene bei gleichzeitiger Einheitlichkeit auf der Umsetzungs-Ebene, das heißt beim Phänotyp. Kommt es durch veränderte Umweltbedingungen hingegen zu extremen Belastungen, wird die Variabilität freigesetzt und manifestiert sich in einer Vielzahl von neuen Phänotypen. Das Besondere daran: Die veränderten morphologischen Eigenschaften sind vererblich und können – über mehrere Generationen hinweg – von der Unterdrückung der HSP90-Funktion unabhängig werden.
Obwohl diese Mutationen für die Mehrzahl der betroffenen Individuen nachteilig sein dürften, erhöht der Mechanismus dennoch die Überlebenschancen der Spezies insgesamt. Wenn Umweltbedingungen sich schlagartig in einer Weise ändern, daß die Schockproteine praktisch permanent gebraucht werden, käme die langsame, über Millionen von Generationen vollzogene Anpassung durch graduelle Evolution zu spät. Eine rasche Aufspaltung in viele verschiedene Typen mit drastisch verschiedenen Eigenschaften eröffnet hingegen die Möglichkeit, daß einer von ihnen unter den neuen Bedingungen gedeihen kann, selbst wenn alle anderen zum Aussterben verurteilt sind. Mithin wäre HSP90 die molekulare Sprungfeder, die der Evolution in Krisenzeiten die von Gould schon lange postulierten Spurts ermöglicht.
Noch bleibt zu prüfen, ob auch andere Arten sich diesen Mechanismus zunutze machen. Prominente Chaperon-Forscher haben dazu allerdings bereits optimistische Prognosen abgegeben. Und wahrscheinlich steht HSP90 mit der neu entdeckten Funktion auch nicht allein. Es sieht also ganz so aus, als ob die molekularen Anstandsdamen, deren Erforschung erst vor zehn Jahren richtig begonnen hat, nicht nur Proteinen beim Falten, sondern auch der Evolution auf die Sprünge helfen können.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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