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HIV-Vermehrung - Entdeckung natürlicher Botenstoffe mit Hemmwirkung

Warum bleiben vom AIDS-Virus befallene Afrikanische Grüne Meerkatzen gesund? Auf der Suche nach der Antwort hat man vier Proteine identifiziert, die von bestimmten Blutzellen ausgeschieden werden und die Vermehrung des Virus unterdrücken.

Human-Immunschwäche-Viren (HIV) infizieren eine bestimmte Sorte von weißen Blutkörperchen – T-Lymphocyten, die den sogenannten CD4-Rezeptor auf ihrer Oberfläche tragen – und vermehren sich darin. Dadurch geht nach mehrjähriger Latenzzeit die Zahl der CD4-Lymphocyten stark zurück, und es kommt zur erworbenen Immunschwäche AIDS.

Die genaue Art und Weise, wie HIV letztlich das menschliche Abwehrsystem zerstört, ist bis heute unbekannt. Untersuchungen, die zumeist an Zellkulturen durchgeführt wurden, haben inzwischen zwar eine Fülle von möglichen Mechanismen aufgezeigt; es ist jedoch unklar, welche davon im Körper tatsächlich von Bedeutung sind.

Statt direkt nach den Erkrankungsmechanismen zu forschen, kann man sie allerdings auch indirekt zu erschließen suchen, indem man Fälle erfolgreicher Krankheitsabwehr betrachtet. So studieren meine Mitarbeiter und ich am Paul-Ehrlich-Institut in Langen seit Jahren systematisch Afrikanische Grüne Meerkatzen (AGM), die in ihrem natürlichen Lebensraum chronisch mit dem HIV-analogen Simian-Immunschwäche-Virus SIV infiziert sein können, aber niemals Anzeichen einer Immunschwäche erkennen lassen. Wird SIVagm dagegen auf andere Affenarten übertragen, die in der Wildnis nicht nachweisbar befallen sind, kann simianes AIDS (SAIDS) auftreten. Demnach ist SIVagm potentiell pathogen, aber der natürliche Wirt hat während der Evolution wirksame Verteidigungsmechanismen dagegen entwickelt.

Bei der Suche nach diesen Mechanismen waren wir zunächst überrascht, daß die spezifische antivirale Immunabwehr der Meerkatzen sehr schlecht entwickelt ist – schlechter als bei HIV-infizierten Menschen. Virus-neutralisierende Antikörper oder cytotoxische TLymphocy-ten, die infizierte Zellen abtöten, konnten bisher nicht überzeugend nachgewiesen werden. Auch andere Merkmale einer erfolgreichen Immunreaktion sind eher schwach ausgeprägt.

Dennoch bleibt die Virusbelastung im Organismus der infizierten Affen gering. Während beim Menschen in der durchschnittlich zehnjährigen Latenzzeit zwischen primärer Infektion und AIDS-Diagnose die Virusmenge stark ansteigt und im Spätstadium bis zu 10 Milliarden neue HIV-Partikel pro Tag gebildet werden, nimmt die Konzentration des Erregers in den Meerkatzen auch über mehr als ein Jahrzehnt hinweg weder im Blut noch in den Lymphknoten merklich zu. SIVagm wird demnach offenbar an der Vermehrung gehindert, und dies muß – angesichts der schlecht entwickelten spezifischen Immunabwehr – durch unspezifische Mechanismen oder Faktoren geschehen.

Schon 1986 fanden Jay Levy und seine Mitarbeiter an der Universität von Kalifornien in San Francisco erste Hinweise, daß eine andere Sorte von Lymphocyten, die den CD8-Rezeptor tragen und normalerweise infizierte Zellen abtöten, außerdem die HIV-Vermehrung zu unterdrücken vermögen. Im Jahre 1989 wies Levy nach, daß sie dies über einen löslichen Faktor (oder auch mehrere) tun, der von mitogen- oder antigen-aktivierten CD8-Zellen ausgeschieden wird und sich an CD4Lymphocyten bindet (Mitogene sind Stoffe, welche die Zellteilung fördern). Durch diese Anlagerung drosselt er in Gewebekulturen die HIV-Vermehrung oder unterbindet sie sogar völlig.

In den folgenden Jahren wurden Levys Beobachtungen mehrfach bestätigt. Besonders faszinierend war die 1994 von uns gemachte Feststellung, daß der Überstand einer Kultur von aktivierten CD8-Lymphocyten – gleich ob sie vom Menschen oder von Afrikanischen Grünen Meerkatzen stammen – die Vermehrung aller untersuchten HIV- und SIV-Stämme unterdrückt; denn dies bedeutete, daß das Virus der Hemmung nicht durch Mutation entgehen kann. (Normalerweise entwickeln sich aufgrund der hohen Mutationsrate sehr schnell Varianten, die gegen einen bestimmten Hemmstoff resistent sind.) Außerdem fanden sich Anzeichen dafür, daß CD8-Zellen von verhältnismäßig gesunden Virusträgern und sogenannten Langzeitüberlebenden möglicherweise mehr von diesem Faktor produzieren als die Lymphocyten von kranken.

Die molekulare Identifizierung des Stoffs erwies sich indes als schwierig. Wir selbst gingen zweigleisig vor. Zum einen machten wir uns daran, sämtliche Proteine aufzuspüren, die von CD8-Lymphocyten ausgeschieden werden. Solche Eiweißstoffe sind an einer bestimmten Sequenz zu erkennen, die als Sekretionssignal dient. Wir klonierten deshalb alle Boten-RNA-Moleküle mit einem Abschnitt, der für dieses Signal codiert. (Wenn eine Zelle ein Protein herstellt, wird von dem zugehörigen Gen in der Erbsubstanz DNA zunächst eine Abschrift – die Boten-RNA – angefertigt, die dann als Anleitung für den Aufbau des Proteins dient.) Diese sehr arbeitsintensive Suche erbrachte bisher rund 20 unbekannte Sequenzen, die jedoch erst noch genauer charakterisiert werden müssen.

Bereits jetzt zum Erfolg führte dagegen der andere Ansatz. Ihm lag die Vermutung zugrunde, daß sich der gesuchte Faktor vielleicht direkt an den CD4-Rezeptor anlagern könne. Dafür sprach die Beobachtung, daß HIV/SIV nach dem Befall eines T-Lymphocyten einiges unternimmt, den CD4-Rezeptor von der Zelloberfläche verschwinden zu lassen. So sorgen immerhin drei Virus-Proteine dafür, daß die Zelle nur noch möglichst wenig davon produziert. Tatsächlich vermehren sich die Viren besser in Lymphocyten mit geringer und kaum in solchen mit hoher Rezeptordichte, und einige CD4-spezifische monoklonale Antikörper können die HIV-Vermehrung ebenfalls hemmen. Wir durchsuchten deshalb Datenbanken nach Proteinen, die von aktivierten CD8-Lymphocyten ausgeschieden werden und sich an den CD4-Rezeptor zu binden vermögen.

Dabei stießen Michael Baier, Albrecht Werner, Karin Metzner, Norbert Bannert und ich unter anderem auf den Lymphocyte-Chemoattractant Factor (LCF), den William W. Cruikshank und seine Mitarbeiter an der Medizinischen Fakultät der Universität Boston (Massachusetts) bereits 1983 als Stoff beschrieben hatten, der aktivierte CD4-Lymphocyten anlockt. Wir stellten die Substanz in Bakterien her und überprüften in Labortests, ob sie die Vermehrung von HIV/SIV zu unterdrücken vermochte. Tatsächlich zeigte sich eine deutliche Hemmwirkung.

Die genauere Untersuchung ergab, daß LCF, das 1995 in Interleukin16 umbenannt wurde, offenbar CD4-Rezeptoren miteinander vernetzt, indem es sich zu Di- oder Tetrameren (Verbänden aus zwei oder vier LCF-Molekülen) zusammenlagert. Diese Vernetzung löst anscheinend eine bislang unbekannte Signalkette aus, die infizierte CD4-Lymphocyten veranlaßt, die Virusproduktion auf ein Zehntel oder noch weniger zu drosseln.

Die genaue Wirkungsweise muß allerdings noch untersucht werden. Zudem läßt sich derzeit nicht sagen, inwieweit die Hemmfunktion auch darauf beruht, daß Interleukin16 mit HIV/SIV um den CD4-Rezeptor konkurriert und so Se-kundärinfektionen in der Gewebekultur verhindert. Immerhin aber wirkt es bereits in physiologischen (also äußerst geringen) Konzentrationen.

War damit der langgesuchte Faktor gefunden? Interessanterweise erschien fast zeitgleich mit unserer Publikation ("Nature", Band 378, Seite 563, 7. Dezember 1995) ein Bericht der Arbeitsgruppe von Robert C. Gallo und Paolo Lusso (damals noch am Nationalen Krebsinstitut der USA) über die Entdeckung von drei miteinander verwandten Chemokinen, die gleichfalls von CD8-Lymphocyten ausgeschieden werden und die HIV-Vermehrung hemmen ("Science", Band 270, Seiten 1811 bis 1815, 15. Dezember 1995).

Die amerikanischen Wissenschaflter hatten eine andere experimentelle Strategie verfolgt als wir. Sie erzeugten zunächst Klone (Verbände identischer Zellen) aus CD8-Lymphocyten, die besonders viel lösliche HIV-Hemmstoffe produzierten. Die Überstände dieser Gewebekulturen trennten sie chromatographisch auf und testeten die einzelnen Fraktionen mit einer neu etablierten Linie von HIV-infizierten CD4-Zellen, die sehr empfindlich auf antivirale Aktivität reagieren. Die Proteine in den wirksamen Fraktionen identifizierten die Forscher schließlich, indem sie einen Teil der Aminosäuresequenz ermittelten und ihn mit bekannten Sequenzen verglichen. Es handelte sich um RANTES und die beiden Makrophagen-Inhibitorproteine MIP1 alpha und MIP1 beta. Alle drei waren als Chemokine bekannt, die an Infektionsherden produziert werden, dort wahrscheinlich weitere Immunzellen anziehen und dadurch entzündungsfördernd wirken.

Statt eines Faktors kennt man nun also gleich vier, von denen keiner zuvor mit Virusinfektionen in Zusammenhang gebracht worden war. Was ist von diesem Ergebnis zu halten?

Anders als in manchen Medien vorschnell verkündet, sind die neu entdeckten Faktoren jedenfalls nicht direkt einsetzbare Arzneimittel oder gar die Lösung des AIDS-Problems. Bisher ist nicht einmal geklärt, ob ihre natürliche Synthese beim Menschen den Ausbruch der Immunschwäche hinauszögert oder verhindert. Außerdem dürfte es nicht so leicht sein, die Proteine unbeschadet an ihren Wirkort – wahrscheinlich die Lymphknoten – zu bringen. Ferner ist zu erwarten, daß sie auch andere Effekte haben und somit unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen. Vielleicht benötigt man statt der vollständigen Faktoren allerdings nur Teile davon, oder es finden sich Substanzen, welche die Bildung der Faktoren im Körper auslösen oder fördern. All dies muß aber erst an Tiermodellen erforscht werden, bevor an eine Therapie am Menschen zu denken ist.

Außerdem sind viele weitere grundlegende Fragen zu klären. Welche Faktoren werden wann und wo von welchen Zellen in welchen Mengen produziert? Wie hoch sind ihre Konzentrationen im Blut? Unterscheiden sich die Blutspiegel bei Meerkatze und Mensch oder zwischen Langzeitüberlebenden und solchen Infizierten, bei denen sich relativ rasch AIDS-Symptome entwickeln? Werden die Faktoren auch in den Lymphknoten ausgeschieden, in denen sich nach heutigem Verständnis die Auseinandersetzung zwischen Virus und Immunabwehr primär abspielt? Wirken sie gegen andere Viren ebenfalls? Gibt es weitere körpereigene Faktoren oder Botenstoffe mit antiviraler Aktivität?

Inzwischen haben wir für unser Labor rund zwei Dutzend wissenschaftliche Projekte zur Untersuchung von Interleukin-16 definiert. Wichtig ist insbesondere die Entwicklung von Testsystemen, um die Konzentration des Botenstoffs im Blutplasma zu bestimmen. Daran wird bereits mit Hochdruck gearbeitet.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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