Griechischer Außenposten oder hethitischer Vasall?: Homers Troia
Troia, die Legende. Ein Kampf um Liebe und Ehre, von Göttern entfacht, eine Schlacht zwischen mächtigen Städten, die Helden das Leben kostete und durch List entschieden wurde. So schildert die "Ilias" den Kampf um die Königsstadt. Verfasst um 720 vor Christus von dem selbst legendären Dichter Homer, wurden das Epos vom Troianischen Krieg und die etwa dreißig Jahre später entstandene "Odyssee" – die Erzählung "Was danach geschah" – zu Bestsellern der antiken Welt. Jahrhunderte später dienten sie als Standardlektüre für den Griechischunterricht. Bis vor wenigen Jahren prägte diese Verwendung der Epen das Bild Troias, auch Ilios genannt, als durch und durch griechische Metropole. Mittlerweile zweifelt aber kaum noch ein Experte daran, dass der Ort dem anatolischen Kulturkreis angehört hat.
Noch in der römischen Antike glaubte jedermann fest daran, dass Homers Werke historische Ereignisse schilderten. Kaiser führten ihr Geschlecht auf Aeneas zurück, der die überlebenden Troianer nach Italien geführt haben soll. Ihren Traum, das Reichszentrum zurück in ihre "Heimat" zu verlegen, verwirklichte erst Konstantin der Große (306–337 nach Christus); dass er dabei Byzanz am Bosporus und nicht das römische Ilion an den Dardanellen wählte, hatte logistische Gründe. Selbst Ritter des 4. Kreuzzuges (1202–1204 nach Christus) zur Eroberung Konstantinopels verstanden ihr Unternehmen als Rache für Troia.
Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert verlor sich die Gewissheit geschichtlicher Realität, und die Ilias wurde in das Reich der Mythen verbannt. Erst 1863 nahmen der Engländer Frank Calvert (1828–1908) und 1870 der Großkaufmann Heinrich Schliemann (1822–1890) die Epen Homers wieder beim Wort und suchten nach dem vergangenen Herrschersitz. Der Deutsche war der Erfolgreichere. Finanziell besser gestellt und von enormer Energie brachte er Ruinen einer versunkenen Stadt wieder ans Licht und hob – seines Erachtens – den Goldschatz des Priamos.
Die Archäologie hat Schliemanns Hartnäckigkeit viel zu verdanken, obgleich sich nach nunmehr hundert Jahren Forschung vieles anders darstellt: Seine Schatzfunde dürften etwa 1250 Jahre älter sein als die mutmaßliche Epoche des Troianerkönigs. Zudem war die von einem Verteidigungssystem umschlossene Fläche mehr als zehnmal größer als früher angenommen. Mit der 1988 entdeckten Unterstadt betrug sie etwa 270000 Quadratmeter und bot Platz für fünf- bis zehntausend Menschen.
Auch die Methoden haben sich gewandelt. Heute wichtige Fundschichten gingen durch die anfangs wenig wissenschaftliche Vorgehensweise Schliemanns für immer verloren: Um möglichst schnell auf die gesuchte Burg zu stoßen, hatte er einen 40 Meter breiten und 17 Meter tiefen, bis auf den Fels reichenden Nord-Süd-Graben in den Hügel von Hirsalık treiben lassen, unter dem Calvert und er das Troia des Priamos vermuteten. Dabei wurden leider Gebäudereste der darüber liegenden Siedlungsschichten teilweise oder sogar völlig zerstört.
Ob es jemals den besagten Kampf um Troia gegeben hat, wissen wir nicht. Hinweise auf kriegerische Auseinandersetzungen gibt es durchaus, beispielsweise brandgeschädigte Mauern, Skelette und Haufen von Schleudersteinen in der Fundschicht Troia VIIa (um 1200 vor Christus). Doch kamen die Kontrahenten aus Mykene, wie es das Epos berichtet? Feinde und Neider dürften Troia niemals gefehlt haben, denn die Lage an den Dardanellen war strategisch günstig. Homer beschrieb die Stadt als "winddurchweht", und der Wind dürfte ihr Tribute eingebracht haben. Meist kam er von Nordosten und zwang ebenso wie eine starke Strömung die Kaufleute zum Anlegen und Warten im troianischen Hafen. Der war überdies sicherlich Teil eines hanse-artigen Verbundes von Küstenstädten, der beispielsweise Schutz in den jeweiligen Häfen garantierte, vermutlich aber nicht umsonst.
Doch ob nun Mykene Zerstörung nach Troia gebracht hatte, steht bei der heutigen Forschung nicht mehr im Zentrum des Interesses. Bedeutender scheint die Frage, ob und in welchem Umfang Troia im Verlauf seiner 3500-jährigen Kulturgeschichte in ägäische, südosteuropäische oder anatolische Zusammenhänge eingebunden war. Denn sicher ist, dass seine Wurzeln bis in den Anfang des dritten Jahrtausends vor Christus reichen und dort noch im 6. Jahrhundert nach Christus die römische Stadt Ilium stand. Weil die Bewohner stets mit luftgetrockneten Lehmziegeln gebaut hatten, konnten sie dem Platz treu bleiben: Verfallene Gebäude wurden eingeebnet und neue auf dem nun höheren Erdgrund errichtet; so entstand der Hügel von Hirsalık. Nicht weniger als neun verschiedene ”Pakete” von Siedlungsschichten belegen die Vorteile des Standortes.
Zu den großen Überraschungen der letzten Jahre gehört meines Erachtens, dass sich der Verdacht bestätigt hat, das von Homer beschriebene Troia des 2. Jahrtausends sei identisch mit Wilusa, einem Vasallenstaat der Hethiter. Damit kann die Troia-Forschung endlich auf historische Quellen etwa in Form von Inschriften zurückgreifen.
Eigentlich nimmt es wunder, dass sich Experten mit der Vorstellung so schwer getan haben, Troia sei nicht griechisch geprägt, sondern zum umgebenden Anatolien hin ausgerichtet gewesen. Allerdings herrschte bis vor wenigen Jahren noch weitgehend Unklarheit über die politische Geografie in der späten Bronzezeit Kleinasiens; klar war, dass das Hethiterreich den größten Teil ausmachte (siehe Karte Seite 67). Entzifferungen und Auswertungen verschiedener Textquellen insbesondere in den letzten fünf Jahren befürworten, dass die Landschaft Troas und ihr Herrschersitz (W)Ilios/Troia mit dem in hethitischen Schriften erwähnten Gebiet Wilusa/ Taruisa in Verbindung zu bringen ist. In akribischer Puzzlearbeit suchten Altorientalisten wie Frank Starke von unserer Universität nach Hinweisen beispielsweise auf die Lage von Flüssen und Orten, ordneten sie den Staaten der fraglichen Zeit zu, und grenzten so deren Gebiete voneinander ab. Und dabei bleibt für das in hethitischen Keilschrift-Texten erwähnte Wilusa nur die Gegend an den Dardanellen übrig – die Troas.
Auch die Ausgrabungen lieferten von Anfang an Indizien für eine "anatolische Prägung", zum Beispiel:
- In den Ruinen des 2. Jahrtausends vor Christus, genannt Troia VI und VIIa, fand unser international besetztes Team kaum "griechische" Artefakte, dafür aber die in diesem geographischen Raum üblichen Tonwaren.
- Die Architektur wie auch die Anlage eines Burgberges mit einer großen, dicht besiedelten Unterstadt sind typisch für Anatolien, weniger jedoch für Griechenland. Ein Graben vor einer Stadtmauer, erst 1993 identifiziert, sollte unseres Erachtens die damals in Kleinasien üblichen Streitwagen aufhalten.
- Grabhäuser und Hinweise auf Totenverbrennung passen eher zu anatolischen Gebräuchen.
- Ein 1995 gefundenes Bronzesiegel zeigte erstmals Schrift, nämlich die im Hethiterreich neben der Keilschrift verbreitete luwische Hieroglyphenschrift.
Den jüngsten Hinweis auf ein anatolisches Troia verdanken wir der Naturwissenschaft: die Datierung einer Quellhöhle 200 Meter südlich der Burgmauer. Etwa um 1280 vor Christus, also zur Zeit von Troia VIIa, schloss der hethitische Großkönig Muwatalli II. einen Staatsvertrag mit dem König Alaksandu von Wilusa. Er sicherte ihm Unterstützung zu, im Gegenzug wurde das Land ein Mitgliedsstaat des hethitischen Großreichs. Wie bei solchen Übereinkommen üblich, riefen die beiden Vertragspartner Gottheiten als Zeugen an. Die Muwatallis füllten 26 Zeilen. Auf der Seite Wilusas sind nur drei explizit benannt, die für das Königreich charakteristisch waren: der Wettergott der Armee, der Gott Apalunias und eine mit den Wortzeichen Kaskal.Kur bezeichnete Gottheit.
Wenn Ilios mit Wilusa identisch ist, dann sollten wir auch in den Ruinen von Troia Objekte finden können, die sich den Gottheiten zuordnen lassen. Das dürfte für den ersten schwer fallen. Vermutlich stellte man ihn als Stier dar, doch Steinreliefs waren in Troia anscheinend nicht gebräuchlich, so dass wir höchstens auf die Scherben entsprechender Kultgefäße hoffen können. Hingegen konnten wir Apalunias schon 1996 mit den an allen Toren und Plätzen Troias zu findenden steinernen Stelen identifizieren. Steinen wohnten im anatolischen Denken häufig Gottheiten inne. Erinnert sei daran, dass Homer zufolge Apollon einer der wichtigsten Schutzgötter Troias war, der deren Stadtmauer errichtet und die Tore gegen den Angriff der Griechen verteidigt hatte.
Die aktuelle Untersuchung konzentrierte sich auf den Dritten im Bunde. Die Kombination der beiden Wortzeichen bedeutet wörtlich "Weg (Kaskal) in der Unterwelt (Kur)". Auf diese Weise wurden im Boden von Karstgebieten verschwindende und wieder hervortretende Wasserläufe bezeichnet, doch verwendeten die Hethiter einen solchen Begriff auch für künstlich angelegte, wasserführende Stollen.
Tatsächlich haben wir während der Grabungskampagne 1997 im Bereich der ehemaligen Unterstadt ein entsprechendes Tunnelsystem gefunden (von dem schon Schliemann berichtet hatte, das aber im letzten Jahrhundert wieder verschüttet wurde). Es besteht aus einer 13 Meter langen Aushöhlung, die nahe der Unterstadt des 2. Jahrtausends beginnt. Von ihr aus führen drei weitere Stollen tiefer in den Fels. Dieses Tunnelsystem "förderte" Grund- und Tropfwasser, das an den Wänden Sintertapeten und in einem der Stollen Stalaktiten gebildet hat. Auch heute noch ist dieses "Bergwerk" ergiebig: Ende August, nach drei Monaten ohne Regen, flossen aus dem Hauptarm 30 Liter pro Stunde.
Vor dem Eingang fanden wir mehrere Wasserbecken aus römischer Zeit und vier kreisförmig in den Fels geschlagene Mulden, samt Verbindungsrinnen. Hier drängt sich das Bild des Waschplatzes der troischen Frauen auf, das Homer anlässlich des entscheidenden Kampfes zwischen dem Griechen Achilleus und dem troanischen Königssohn Hektor beschreibt.
Nach fast zwanzig Jahren Forschung in der Troas kann ich sagen: Homer hat die Landschaft und den Ruinenplatz Troia des ausgehenden 8. Jahrhunderts vor Christus recht gut beschrieben. Ihm mag sich ein unverfälschtes Bild der zerstörten Stadt dargeboten haben, betroffen freilich von 250 Jahren Verfall. In seiner "Rekonstruktion" der Ereignisse war der Dichter vermutlich um Authentizität bemüht: Das Umland war wieder besiedelt worden, und er wollte Ortskundige sicher nicht durch allzu große Abweichungen von den damaligen Gegebenheiten irritieren.
Wenn also das Wilusa des genannten Vertrages mit Troia VI oder VIIa identisch ist, erscheint es naheliegend, den göttlichen Kaskal.Kur mit jener Quellhöhle in Verbindung zu bringen – sofern die Anlage im 2. vorchristlichen Jahrtausend schon existiert hat. Wir brauchten uns freilich keine Hoffnung zu machen, sie auf klassische Weise zu datieren, nämlich anhand von zeittypischen Artefakten wie etwa Bruchstücken von Keramik. Eine Anlage dieser Art war sicher regelmäßig gereinigt worden, nicht zuletzt beim Bau der römischen Becken.
Deshalb versuchten die Physiker Norbert Frank und Augusto Mangini von der Forschungsstelle Radiometrie der Heidelberger Akademie der Wissenschaften eine Datierung mit physikalischen Mitteln. Es gelang ihnen, die "radioaktive Uhr" des Kalksteins abzulesen, der die Höhlenwände bedeckte (siehe Kasten unten). Demnach ist das Stollensystem der Quellhöhle sogar schon am Anfang des 3. Jahrtausends angelegt worden, also in der frühen Bronzezeit (Troia I bis III, so genannte Maritime Troia-Kultur).
Für die Troianer der uns interessierenden Zeit war die Anlage demnach schon ein Relikt der Vergangenheit, um dessen Entstehung sich vielleicht Mythen rankten. In der Vorstellung der Bewohner Anatoliens war es gewiss nicht abwegig, mit ihr eine Gottheit samt Kultplatz zu verbinden.
Homer lebte und wirkte im ausgehenden 8. Jahrhundert in Kleinasien. Er war demnach nicht nur mit der Kultur der ersten griechischen Siedler bestens vertraut, sondern auch von einer altanatolischen Gesellschaft umgeben, die vermutlich noch in der Tradition des 2. Jahrtausends stand. In seinem für das Selbstverständnis der Griechen so wichtigen Epos hat Homer die griechische und die anatolische Welt einander gegenübergestellt und miteinander verbunden. So mag die Ilias noch manches Zeitzeugnis enthalten, das uns die Menschen jener Jahrhunderte näher bringt.
Literaturhinweise
Troia und Homer. Von Joachim Latacz, DVA, Mün-chen, 2000 (im Druck).
Troia-Ausgrabungen 1999. Von Manfred Korfmann. Studia Troica, Band 10, 2000 (in Druck),Verlag Philipp von Zabern, Mainz.
Troia-Ausgrabungen 1998. Herausgegeben von Manfred Korfmann. In: Studia Troica, Band 9, 1999. S. 22 – 25, Verlag Phil-ipp von Zabern, Mainz.
Das Drama von Troia. Von Caroline Alexander und James L. Stanfield in: National Geographic Deutschland, Dezember 1999, S. 98 – 123.
Troia. Ein historischer Überblick und Rundgang. Von Manfred Korfmann und Dietrich Mannsperger. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart, 1998.
Stelen vor den Toren Troias, Apaliunas-Apollon in Truisa/Wilusa? Von Manfred Korfmann in: Light on Top of the Black Hill. Her-aus-ge-ge-ben von Güven Arsebük, Machteld J. Mellinik und Wulf Schirmer. Ege Yayinlari , Ista-bul, 1998.
Troia im Kontext des historischpolitischen und sprachlichen Umfeldes Kleinasiens im 2. Jahrtausend. Von Frank Starke in: Studia Troica, Band 7, 1997, Verlag Philipp von Zabern, Mainz.
Stichworte "Hattusa", "Luwisch" und "Mira". Von Frank Starke in: Der Neue Pauly – Enzyklopädie der Antike, Bände 5, 7 und 8, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart und We-mar, 1998 – 2000.
Per Gammastrahl in die Bronzezeit. Von Ulrich Eberl, Thomas Pflaum und Johanna Romberg in: Geo, Juni 1995, S. 14.
Troia, Geschichte, Grabungen, Kontroversen. Von Michael Siebler. Verlag Philipp von Zabern, Mainz, 1994.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2000, Seite 64
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben