Geistesblitze - Moral: Im Zweifel gegen den Angeklagten
Wer unabsichtlich ein Übel begeht oder gewichtige Gründe für seine Tat hat, kommt meistens mit einer milderen Strafe davon. Das gilt aber nicht in allen Kulturen gleichermaßen, wie eine Studie von Anthropologen um H. Clark Barrett von der University of California in Los Angeles zeigt. Die Wissenschaftler ließen mehr als 300 Probanden aus zwei westlichen und acht traditionellen, nichtindustriellen Gesellschaften moralische Urteile fällen. In einem Szenario sollten sich die Teilnehmer etwa vorstellen, jemand hätte die kommunale Wasserversorgung vergiftet und Dutzenden Dorfbewohnern geschadet. Während Teilnehmer aus westlichen Ländern ihre moralischen Urteile abmilderten, wenn es sich bei der Tat um einen Unfall handelte, spielte dies in vielen nichtindustriellen Ländern kaum eine Rolle. Der Akt des Wasservergiftens "wurde als so verwerflich beurteilt, dass alle Probanden das volle Strafmaß ausschöpften – egal ob die Tat mit Absicht oder versehentlich geschah", erklärt Barrett. "Die Versuchspersonen akzeptierten in letzterem Fall zwar, dass es ein Unfall war, aber sie waren der Meinung, jeder müsse eben entsprechend vorsichtig sein, wenn die Gefahr besteht, derart viel Schaden anzurichten."
Industrienationen, so die Schlussfolgerung der Forscher, berücksichtigen mildernde Umstände stärker als traditionelle Gesellschaften. Das könnte damit zusammenhängen, glaubt Barrett, dass Menschen in westlichen Nationen mit einem komplexen Satz an Regeln aufwachsen; Richter und Gesetzesbücher seien nur die Spitze des Eisbergs. "In kleineren Gesellschaften mag die Rechtsprechung ähnlich anspruchsvoll sein, aber sie ist nicht so kompliziert verschlüsselt." (df)
Proc. Natl. Acad. Sci. USA 113, S. 4688–4693, 2016
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