Moral: In realen Zwickmühlen entscheiden wir anders
Wenn Forscher untersuchen wollen, wie es um die Moralvorstellung ihrer Versuchspersonen bestellt ist, konfrontieren sie diese oft mit hypothetischen Dilemmata. Einer der Klassiker lautet in etwa so: Stellen Sie sich vor, ein Zug ist außer Kontrolle geraten und rast auf fünf Gleisarbeiter zu, die bei einem Zusammenstoß getötet würden. Sie können allerdings eine Weiche betätigen und den Zug auf ein Nebengleis umleiten, auf dem sich nur ein Arbeiter befindet. Würden Sie den Hebel umlegen?
Womöglich lassen sich die Ergebnisse solcher Gedankenexperimente allerdings nicht besonders gut auf das Handeln von Menschen in realen moralischen Zwickmühlen übertragen, sagt ein Team um Dries Bostyn von der Universität Ghent in Belgien. Die Forscher ließen zunächst 190 Studenten einen Onlinefragebogen ausfüllen, in dem diese mehrere hypothetische moralische Dilemmata lösen mussten. Außerdem sollten sie Auskunft über persönlichen Variablen wie antisoziale Tendenzen, ihr Moralempfinden und ihre Empathiefähigkeit geben.
Wenige Wochen später stellten Bostyn und seine Kollegen die Teilnehmer im Labor vor ein echtes Dilemma: Die Probanden sahen einen Metallkäfig, in dem fünf Mäuse saßen. Dieser war mit einer Elektroschockmaschine verbunden, die einen Countdown von 20 Sekunden anzeigte. Bei null angekommen, würden die fünf Nager einen äußerst schmerzhaften, nicht jedoch tödlichen Elektroschock erhalten, erklärte der Versuchsleiter. Per Knopfdruck konnten die Teilnehmer den fünf Tieren den Schmerz ersparen – und den Stromschlag stattdessen in einen zweiten Käfig umleiten, in dem sich nur eine Maus aufhielt.
Tatsächlich kam keines der Tiere zu Schaden, worüber der Versuchsleiter die Probanden anschließend auch aufklärte. Dennoch entschieden sich deutlich mehr Versuchspersonen dafür, aktiv nur eine Maus zu quälen, als bei einer Kontrollbedingung, bei der 83 andere Probanden gebeten wurden, sich das Experiment lediglich vorzustellen: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person den Knopf drückten, war angesichts der echten Tiere doppelt so hoch!
"Bei hypothetischen Entscheidungen fühlen wir uns frei, die Option zu wählen, die in unseren Augen sozial am ehesten akzeptiert wird, weil wir nicht mit den Konsequenzen leben müssen", glaubt Bostyn. "Im echten Leben ist der Druck, ›das Richtige zu tun‹, deutlich größer." Die Forscher halten Gedankenexperimente nach wie vor für ein wichtiges Instrument. Man dürfe aber nicht vergessen, die Ergebnisse auch in realen Situationen zu überprüfen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben