Nuklearwaffen: Indien, Pakistan und die Bombe
Beide Staaten rüsten sich seit langem mit Nuklearraketen für eine militärische Auseinandersetzung. Durch den Anschlag auf das indische Parlament eskalierten die Spannungen bis an den Rand eines Krieges der beiden Atommächte.
Seit die USA auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 gegen Pentagon und World Trade Center mit einer Militäraktion gegen die Taliban in Afghanistan reagierten, sind der gesamte Mittlere Osten und der indische Subkontinent zur hochbrisanten Krisenregion geworden. Afghanistans Nachbar Pakistan diente den Taliban stets als Rekrutierungs- und Rückzugsgebiet, und der pakistanische Staatschef Musharraf regiert ein Land, dessen Bevölkerung teilweise offen mit den islamistischen "Gotteskriegern" sympathisiert. Entsprechend geschwächt ist sein Regime, seit er offiziell mit den Taliban brach und sich dem "internationalen Kampf gegen den Terrorismus" anschloss.
In dieser instabilen Lage fühlten sich aus Pakistan stammende muslimische Extremisten offenbar ermutigt, mit einer spektakulären Terroraktion gegen den Erzfeind Indien loszuschlagen, der seit jeher mit Pakistan um die Grenzregion Kaschmir streitet. Um ein Haar hätten die Attentäter am 13. Dezember Hunderte indische Abgeordnete ausgerottet, die gerade im Parlament von Neu-Delhi tagten. Nun balancieren beide Staaten am Rande eines großen militärischen Kon-flikts, der letztlich sogar in einen Nuklearkrieg ausarten könnte – denn nicht nur Indien, sondern auch Pakistan verfügt über Kernwaffen.
Beide Länder treiben praktisch seit 1947 (dem Jahr der Unabhängigkeit von Großbritannien) eigene Nuklearprogramme voran, die im Wesentlichen auf – teils unter der Hand beschaffter – westlicher Technologie beruhen. Schon Indiens erster Premier Nehru forcierte die Entwicklung indischer Kernreaktoren für friedliche Zwecke, fügte aber hinzu: "Falls wir als Nation gezwungen werden, Atomenergie für andere Zwecke einzusetzen, werden uns wohl keine frommen Gefühle daran hindern." Bald fühlte Indien sich vom nördlichen Nachbarn China nuklear bedroht: Nach der Niederlage im Grenzkrieg gegen China 1962 und dem ersten chinesischen Nukleartest 1964 gab Indien grünes Licht für die Entwicklung einer eigenen Bombe. Der theoretische Physiker Homi Bhabha, Leiter der Indischen Atomenergiekommission, behauptete, das sei "binnen 18 Monaten" zu schaffen. Doch erst zehn Jahre später, am 11. Mai 1974, detonierte eine indische Plutonium-Waffe, deren Explosivkraft in etwa der amerikanischen Hiroshima-Bombe entsprach.
Im Jahre 1983 forcierte die indische Premierministerin Indira Gandhi ein Programm zur Entwicklung von ballistischen Raketen und Lenkwaffen. Der Raketenantrieb beruhte auf sowjetischer Technologie aus den sechziger Jahren; Gyroskope, Beschleunigungsmesser und Bewegungssimulatoren kaufte man bei Firmen aus Frankreich, Schweden, den USA und Deutschland.
"1988 testete Indien seine erste Boden-Boden-Rakete kurzer Reichweite", berichtet der indische Physiker und Konfliktforscher M. V. Ramana, der an der Princeton University lehrt und die Indische Vereinigung für nukleare Abrüstung und Frieden mitbegründete: "Ein Jahr später kam eine Rakete mittlerer Reichweite, im April 1999 eine, die immerhin 2000 Kilometer weit fliegen kann – bis tief in chinesisches Gebiet hinein." Indiens militärische, Plutonium produzierende Reaktoren haben bisher Material für fünfzig bis hundert Sprengköpfe geliefert. Allerdings könnte dieses Arsenal, wie Ramana einräumt, auch erheblich größer sein, falls Indiens "friedliche" Kernreaktoren nicht nur Strom produzieren, sondern auch Plutonium für Waffen.
Pakistan versuchte hartnäckig, mit dem größeren Nachbarn Indien nuklear gleichzuziehen: 1965 nahm der erste Forschungsreaktor den Betrieb auf, 1970 das erste kommerzielle Kernkraftwerk. Der theoretische Physiker Abdus Salam (Nobelpreis 1979) spielte dabei von Anfang an eine wichtige Rolle als Regierungsberater.
Nach dem zweiten Kaschmir-Krieg mit Indien von 1965 – der erste brach bereits unmittelbar nach der Unabhängigkeit aus und endete mit der bis heute prekären Teilung Kaschmirs zwischen Indien und Pakistan – drängten viele pakistanische Politiker und Wissenschaftler auf die Entwicklung eines nuklearen Waffenarsenals. Der damalige Außenminister Zulfikhar Ali Bhutto erklärte: Falls Indien eine Atombombe entwickle, werde Pakistan das auch tun, "selbst wenn wir Gras und Blätter essen oder hungrig bleiben müssen". Nach der Niederlage im dritten indisch-pakistanischen Krieg im Dezember 1971 – er endete mit der Abtrennung Ost-Pakistans, das sich seither Bangladesh nennt – wurde Bhutto Premierminister; im Januar 1972 gab er den Auftrag zum Bau der Bombe.
Wie A. H. Nayyar, Physik-Professor an der Quaid-e-Azam-Universität in Islamabad (Pakistan) und Mitbegründer der Pakistanischen Friedensvereinigung, zu berichten weiß, verfolgten die pakistanischen Forscher eine Doppelstrategie. Einerseits versuchten sie, von Frankreich fertige Plutonium-Wiederaufbereitungsanlagen zu kaufen. Nachdem Frankreich unter amerikanischem Druck den Handel platzen ließ, gingen einige pakistanische Wissenschaftler nach Belgien, verschafften sich dort das nötige Know-how und konstruierten in Pakistan Anfang der achtziger Jahre eine kleine Versuchsanlage. Dieses Labor ist fähig, aus dem verbrauchten Brennmaterial eines seit 1998 betriebenen Reaktors jährlich das für zwei bis vier Bomben nötige Plutonium zu erzeugen.
Andererseits erforschten die Wissenschaftler Techniken zur Anreicherung des bombentauglichen Uran-Isotops U-235. Die zentrale Figur war hierbei A. Q. Khan, ein pakistanischer Metallurg, der bis 1975 in einer niederländischen Anreicherungsanlage gearbeitet hatte.
Der Feind meines Feindes ist mein Freund
Er brachte geheime Konstruktionspläne heim sowie Kontakte zu westlichen Lieferanten, die bereit waren, geltende Ausfuhrregelungen zu verletzen. Seit 1979 hat Pakistan, so Nayyar, auf diese Weise angereichertes Uran für schätzungsweise zwanzig bis vierzig Bomben produziert, und pro Jahr kommt Material für vier bis sechs Bomben hinzu. Außerdem sprechen unbestätigte Indizien dafür, dass China – das nach der Devise "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" Pakistan gegen Indien zu unterstützen pflegt – dem kleineren der beiden Streithähne bei der Entwicklung der Technik für nukleare Raketen unter die Arme gegriffen hat.
Mit dem Ende des Kalten Krieges nahmen die Spannungen in der Dritten Welt erst recht zu. Die fünf erklärten Nuklearmächte – USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China – einigten sich 1996 auf ein umfassendes Verbot von Testexplosionen, ohne jedoch auf die eigenen Nukleararsenale zu verzichten. Das empfanden die Bomben-Lobbys in Indien und in Pakistan als Zementierung des Nuklearmonopols der Industrienationen. 1998 kamen in Indien Hindu-Nationalisten an die Regierung und ordneten sofort Kernwaffentests an.
In Pakistan riefen islamistische Gruppen zum Heiligen Krieg für Kaschmir und zum forcierten Bau von Atomwaffen auf: Gegen ein nuklear hochgerüstetes Pakistan würde Indien trotz seiner drückenden konventionellen Überlegenheit gewiss stillhalten. Schon drei Wochen nach den indischen Tests führte Pakistan – trotz diplomatischer Bemühungen von USA und China – eigene Versuchsexplosionen durch.
Seit den Nukleartests von 1998 hat sich das Wettrüsten im Süden Asiens enorm beschleunigt. Trotz bitterer Armut in weiten Teilen der Bevölkerung werden Raketen, U-Boote, Überwachungs- und Abwehrsysteme entwickelt. Indien plant, nukleare Waffensysteme auf Flugzeugen und mobilen Abschussrampen zu Lande und zu Wasser zu stationieren; das Ganze würde insgesamt rund 10 Milliarden Euro verschlingen. Pakistan kündigte im Vorjahr an, zumindest eines seiner U-Boote mit Nuklearraketen zu bestücken.
Allein schon das Stationieren nuklearer Waffen auf relativ kleinem Gebiet erhöht die Gefahr eines unabsichtlich ausgelösten Atomkriegs. Angesichts einer Raketenflugdauer von drei bis fünf Minuten zwischen den verfeindeten Staaten sind Frühwarnsysteme nutzlos. Der oben bereits zitierte indische Experte Ramana hat 1998 durchgerechnet, was ein pakistanischer Erstschlag mit einer einzigen Bombe von eher bescheidener Hiroshima-Sprengkraft anrichten würde, wenn sie auf Bombay niederginge: In den ersten Monaten würden 150000 bis 850000 Menschen sterben.
Tatsächlich bereitet sich das indische Militär auf solche Eventualitäten vor. Im Mai des Vorjahres führte es unter dem Titel "Operation Vollständiger Sieg" umfangreiche Manöver an der Grenze zu Pakistan durch, bei denen unter anderem das Verhalten bei einer nuklearen Attacke trainiert werden sollte.
Bereits lange vor dem 11. September war die Region ein nuklear bestücktes Pulverfass. Der Krieg in Afghanistan, der Dauerkonflikt um Kaschmir und der Anschlag auf das indische Parlament vom 13. Dezember haben eine Lunte entfacht, die nur durch eine internationale Friedensanstrengung bis auf den letzten Funken ausgetreten werden kann.
Der indische Rüstungsexperte Ramana und sein pakistanischer Kollege Nayyar betonen übereinstimmend, dass der Westen einsehen muss, wie untauglich seine bisherige Politik der Nichtweitergabe von Nuklearwaffen war: Weder Indien noch Pakistan wurden dadurch an der Herstellung der Bombe gehindert. Beide Forscher sehen einen engen Zusammenhang zwischen Nichtweitergabe und globaler Abrüstung: Solange die Nuklearmächte der Ersten Welt auf ihren Arsenalen beharren, werden die Länder der Dritten Welt versucht sein, ihre Konflikte ebenfalls mit Atomwaffen zu lösen – und sie werden Mittel und Wege finden, sich die erforderliche Technologie zu verschaffen.
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Die nuklearen Raketen
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Literaturhinweise
Pakistan. Von W.-P. Zingel in: Rüstung statt Entwicklung? In: V. Büttner, J. Krause (Hg.), Internationale Politik und Sicherheit, Bd. 45, S. 160, Nomos, Baden-Baden, 1995.
Out of the Nuclear Shadow. Von Smitu Kothari und Zia Mian (Hg.). Zed Books, 2001. India?s Nuclear Bomb: The Impact of the Global Proliferation. Von George Perkovich. University of California Press, 1999.
The Making of the Indian Atomic Bomb: Science, Secrecy and the Postcolonial State. Von Itty Abraham. Zed Books, 1998.
Fissile Material Production Potential in South Asia. Von A. H. Nagyyar, A. H. Toor und Zia Mian in: Science and Global Security, Bd. 6, Nr. 2, S. 189, 1997.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2002, Seite 92
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