Indikatoren für eine nachhaltige Entwicklung in Baden-Württemberg
In einer neuen Studie hat die Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg die dringlichsten Handlungsfelder identifiziert, um auch auf Landesebene das umweltpolitische Ziel einer nachhaltigen Entwicklung erreichen zu können.
Im Jahre 1987 forderte die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung in ihrem Bericht "Unsere gemeinsame Zukunft" eine neue Ära wirtschaftlichen Wachstums, die unsere Ressourcen erweitert, statt sie zu schmälern. Seit Erscheinen dieses Brundtland-Reports – so benannt nach der Vorsitzenden der Kommission, der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland – wurde in zahlreichen Studien untersucht, wie eine nachhaltige Entwicklung eingeleitet werden könnte.
Wesentliche Voraussetzung dafür ist das Ermitteln von Nachhaltigkeit; denn um ein Wirtschaftssystem umweltverträglicher und damit zukunftstüchtiger zu gestalten, sind für jeden Problembereich geeignete Größen – sogenannte Indikatoren – erforderlich, die eine quantitative Bewertung ermöglichen. Die Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg hat sich vorgenommen, ein derartiges Indikatorensystem regional für dieses Bundesland zu erarbeiten und erstmals anzuwenden.
Grundlegendes Problem ist dabei, daß Nachhaltigkeit vielfältig interpretierbar ist. In unserer Studie verstehen wir darunter eine gerechte Verteilung von Potentialen zur Befriedigung der Bedürfnisse aufeinanderfolgender Generationen; gerecht soll wiederum bedeuten, daß diese Potentiale sich im Zeitverlauf nicht verringern.
Mit dieser begrifflichen Festlegung sind zunächst weitere Fragen verbunden: Welche Bedürfnisse werden nachfolgende Generationen haben? Und welche Möglichkeiten wird es künftig geben, diese Bedürfnisse zu befriedigen? Das läßt sich prinzipiell nicht vorhersagen; wir können lediglich als Annahme voraussetzen, daß die Ressourcen, welche die heutige Generation als bedürfnisbefriedigend erachtet , auch in Zukunft vorhanden sein sollten. Unter diesem Ansatz wären folglich für eine Nachhaltigkeitsmessung die für die heutige Bedürfnisbefriedigung maßgeblichen Bestände zu erfassen.
Meßgrößen für künstliches und natürliches Kapital
Unserem Konzept haben wir zunächst zwei Klassen von bedürfnisbefriedigenden Beständen zugrunde gelegt: künstliches und natürliches Kapital. Die erste Klasse umfaßt alle Güter, die von Menschen selbst geschaffen werden, also sowohl materielle wie etwa Maschinen und Gebäude als auch immaterielle wie beispielweise Wissen. Unter einigen Voraussetzungen läßt sich die Bestandsentwicklung des künstlichen Kapitals anhand des volkswirtschaftlichen Nettoanlagevermögens zumindest näherungsweise ermitteln. Diese Größe wird in der jährlich erstellten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung statistisch ausgewiesen. Um die Bevölkerungsentwicklung zu berücksichtigen, verwenden wir sie als Pro-Kopf-Größe, indem wir uns auf ihren Anteil je Einwohner beziehen.
Die zweite Klasse, das natürliche Kapital, besteht aus Elementen, die ohne Zutun des Menschen vorhanden sind und seine Bedürfnisse befriedigen können. Für sie läßt sich nur schwerlich eine aggregierte Meßgröße finden. Darum haben wir es in diesem Falle vorgezogen, die wichtigsten Bestände einzeln zu ermitteln, und zwar in Anlehnung an das Umweltbeobachtungssystem der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organization of Economic Cooperation and Development, OECD), das wir für unsere Aufgabenstellung in Baden-Württemberg modifiziert haben.
Als besonders aussagekräftig erschienen uns zehn Kategorien des natürlichen Kapitals: Abfall, Boden, Forstressourcen, Wasserressourcen, Eutrophierung/Nitratgehalt im Grundwasser, Versauerung, Verschmutzung/Umwelttoxizität, Artenvielfalt/Vielfalt von Landschaften und Ökosystemen, Ozonschicht und Klimastabilität. Um den Import von natürlichen Ressourcen nach Baden-Württemberg berücksichtigen zu können, haben wir als exemplarische Größe die Einfuhr von fossilen Energieträgern mit einbezogen. Diese Auswahl von Indikatoren ist freilich bei allem Bemühen um objektive Argumente und sachlich begründeter Relevanz zweifelsohne von subjektiven Gewichtungen geprägt.
Die von uns verwendeten physischen Meßgrößen für das natürliche Kapital gliedern sich in drei unterschiedliche Arten. Am geeignetsten sind Zustandsmeßgrößen, welche die Potentiale zur Bedürfnisbefriedigung hinreichend genau abbilden. Belastungsmeßgrößen, die den Einfluß des Menschen auf die Umwelt berücksichtigen, sowie Reaktionsmeßgrößen, die Veränderungen der Umwelt nach den gesellschaftlich getroffenen Entscheidungen über ihre Nutzung beschreiben, vermögen hingegen nur indirekte Hinweise auf die Veränderungen der Potentiale zu geben. Für die Quantifizierung selbst mußten wir auf solche Daten zurückgreifen, die in Baden-Württemberg bereits seit einiger Zeit regelmäßig erhoben und dokumentiert werden.
Starke und schwache Nachhaltigkeit
Wann kann nun anhand dieser Indikatoren eine Entwicklung als nachhaltig bezeichnet werden? Den Vertretern der sogenannten starken Nachhaltigkeit zufolge dann, wenn die Bestände des natürlichen Kapitals absolut gesehen nicht abnehmen. In diesem Sinne würde beispielsweise eine Zunahme der Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre eine nicht-nachhaltige Entwicklung anzeigen, weil sie die Stabilität des Klimas bedrohte (Kasten auf Seite 130, Bild oben). Für die Vertreter der schwachen Nachhaltigkeit hingegen ist eine Entwicklung bereits dann als nachhaltig anzusehen, wenn natürliche Ressourcen im Zeitablauf immer effektiver genutzt werden. In dieser Vorstellung läßt sich der Begriff nicht in absoluten Größen messen, sondern nur relativ zur Entwicklung des künstlichen Kapitals. Übertragen auf das Beispiel der Klimastabilität bedeutete dies, daß ein von Jahr zu Jahr kleiner werdendes Verhältnis von Kohlendioxid-Emissionen zu Nettoanlagevermögen pro Kopf den Übergang zu einer nachhaltigen Entwicklung aufzeigen würde (Kasten auf Seite 130, Bild unten rechts).
Welcher von beiden Auffassungen man zuneigt, das mag vom persönlichen Standpunkt abhängen. Wir meinen, daß die zu bevorzugende Position irgendwo dazwischen liegt. Wenn eine natürliche Ressource in ihrem Bestand als unerläßlich angesehen wird wie zum Beispiel die Ozonschicht, deren irreversible Schädigung das irdische Leben schutzlos der energiereichen ultravioletten Strahlung der Sonne aussetzen würde, ist sicherlich die Auffassung von starker Nachhaltigkeit vorzuziehen. Andererseits wird im Wirtschaftsprozeß natürliches Kapital in künstliches umgewandelt; das eine wird dadurch vermindert, das andere vermehrt. Dies ist selbstverständlich nur vernünftig, wenn man sich davon eine höhere Bedürfnisbefriedigung verspricht. Beispielsweise ist ein gewisser Landschaftsverbrauch unvermeidbar, wenn man auf diesen Flächen die Voraussetzungen für noch höher geschätzte Infrastrukturleistungen schaffen möchte. Ob hier nun die Position von der schwachen oder der starken Nachhaltigkeit zutreffend ist, hängt im konkreten Einzelfall von den Präferenzen der Betroffenen ab.
Identifizieren von Handlungsfeldern
Ein weiteres Kennzeichen unseres Konzeptes ist es, daß die für die Bedürfnisbefriedigung als relevant erachteten Bestände in ihrem Zeitverlauf beobachtet werden. Grenzwerte, an deren Erreichen oder Nichterreichen sich die Beurteilung der Nachhaltigkeitssituation orientiert, haben wir nur dort vorgesehen, wo nicht ersetzbare natürliche Ressourcen auf dem Spiel stehen. Ansonsten ist eher die Richtung der Entwicklung entscheidend: hin zu größerer Nachhaltigkeit. Quantitative Zielvorgaben würden zusätzliche Werturteile über die Zumutbarkeit von Umweltzuständen voraussetzen, die sich häufig als wenig konsensfähig erweisen.
Unter diesen Umständen ist eine Politik, die darauf abzielt, Nachhaltigkeit in immer mehr Bereichen des Wirtschaftssystems durchzusetzen, ohne einen Endpunkt bestimmen zu wollen, intellektuell redlicher und vermutlich auch konsensfähiger als die Vorgabe fest einzuhaltender Zielwerte. Schließlich soll unser Konzept politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit nicht nur ein praktikables, sondern auch ein intersubjektiv nachvollziehbbares und konsensfähiges Kontrollinstrument anbieten, das zumindest einen Überblick über die Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit für die Region Baden-Württemberg ermöglichen kann. Damit lassen sich die dringlichsten Handlungsfelder einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Politik identifizieren sowie die Erfolge und Mißerfolge auf dem Weg dorthin aufzeigen und effektiv kommunizieren.
Wendet man das Konzept auf die Situation in Baden-Württemberg an, so ergibt sich als wesentliche Aussage, daß insbesondere in drei Bereichen – Energieverbrauch, Bodenverbrauch und Nitratbelastung – Handlungsbedarf besteht. Beispielsweise würde der tatsächliche Umgang mit Energie keinesfalls dem Wunsch entsprechen, eine Vorreiterrolle für den Klimaschutz spielen zu wollen. Zu dieser Einschätzung trägt auch die Einfuhr fossiler Energieträger bei. Deren Reduzierung würde nicht nur die Ressourcen der exportierenden Regionen schonen, sondern auch die Stickoxid-Emissionen in Baden-Württemberg vermindern, wodurch bereits eine wesentliche Ursache für die Eutrophierung von Böden und Gewässern sowie für die neuartigen Waldschäden in diesem Bundesland entfiele. Um die Stickstoffbelastung weiter verringern zu können, müßten zudem umweltverträgliche landwirtschaftliche Bewirtschaftungsweisen stärker gefördert werden.
Mit der Frage des Bodenverbrauchs ist zwangsläufig das Problem der Versiegelung durch Straßen- und Städtebau verbunden. Der Nutzen aus der Umwandlung dieser Flächen mag zwar derzeit noch größer sein als der Nutzenverlust durch ihre Versiegelung; doch scheint insbesondere aus Sicht des Natur- und Landschaftsschutzes eine vorausschauende Politik ratsam, damit diese positive Nutzenbilanz auch künftig aufrechterhalten werden kann.
Die Ergebnisse des Projekts sind in dem Statusbericht "Nachhaltige Entwicklung in Baden-Württemberg" veröffentlicht. Die Methodik des Konzeptes ist im Arbeitsbericht Nr. 64 der Akademie für Technikfolgenabschätzung "Ein Indikatorensystem zur Messung einer nachhaltigen Entwicklung in Baden-Württemberg" eingehend erörtert. Expertenstudien zu einer Entwurfsfassung sowie daran angelehnter Konzepte enthält die Dokumentation Nr. 65 "Indikatoren einer regionalen nachhaltigen Entwicklung". Alle Berichte können gegen eine Gebühr von jeweils 15 Mark bei der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg, Industriestraße 5, 70565 Stuttgart, bezogen werden.
Kasten: Natürliches Kapital – Beispiel Klimastabilität
Die Stabilität des Klimas ist eine von zehn Kategorien des natürlichen Kapitals, die wir untersucht haben. Eine Erhöhung der mittleren Temperatur gefährdet wiederum die Stabilität der Ökosysteme. Als Zustandsmeßgröße ist dafür die Konzentration des als Treibhausgas wirkenden Kohlendioxids in der Atmosphäre gewählt worden. Dieser Wert, gemessen in ppm (parts per million, Teilen pro Million), stieg in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich an – ein Beispiel für eine nicht-nachhaltige Entwicklung (oben).
Das Verhältnis von Kohlendioxid-Konzentration und Nettoanlagevermögen pro Einwohner in Baden-Württemberg, gemessen in ppm pro tausend Mark, ergibt hingegen einen fallenden Verlauf (Mitte); die Zunahme der Konzentration in absoluten Einheiten ist also möglicherweise durch eine Erhöhung von künstlichem Kapital ausgeglichen worden.
Als Belastungsmeßgröße können die Kohlendioxid-Emissionen dienen. Im Zeitverlauf insgesamt betrachtet liegen diese – konjunkturabhängig sehr stark schwankenden – Emissionen seit 1986 auf einem höheren Niveau als in den Jahren zuvor (unten links). Bezogen auf das künstliche Kapital – wiederum ausgedrückt in Nettoanlagevermögen pro Kopf der Bevölkerung – ergibt sich zwar bis etwa 1982 eine abnehmende Kurve; seitdem stagnieren die Werte jedoch (unten rechts). Diese nahezu konstante Ressourcenintensität zeigt auch hier eine nicht-nachhaltige Entwicklung an.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1997, Seite 128
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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