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Inseln im Chaos. Die Erforschung komplexer Systeme


Hier wird eine wirklich spannende Geschichte erzählt: die Entstehung einer neuen Wissenschaft und eines neuen Forschungsinstituts. Aus der Perspektive der beteiligten Wissenschaftler erlebt der Leser all die Schwierigkeiten einer solchen Neugründung mit. Streckenweise fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen – so lebendig und einfühlsam erzählt M. Mitchell Waldrop, ehemals Redakteur und Autor der Wissenschaftszeitschrift "Science", heute freier Journalist, von der Niedergeschlagenheit eines Forschers, dessen geschätzte Kollegen über seine neuen Ideen nur lachen oder bestenfalls verständnislos dreinschauen, oder von der begeisterten Freude über den Nachweis, daß die eigenen Ideen stimmig sind und sich in der Realität bestätigen lassen. Die Blickrichtung wechselt unmerklich von einem Forscher und seinem Spezialgebiet zum nächsten.

Es beginnt damit, daß William Brian Arthur, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Stanford (Kalifornien), sich mit der klassischen Theorie nicht mehr wohlfühlt. Irgendwie ist das alles zu statisch, zu linear; Phänomene des täglichen Lebens lassen sich damit nicht erklären. Aber Brian Arthur steht mit dieser Auffassung allein auf weiter Flur. Also sucht er nach Gleichgesinnten, die er durch die Wechselfälle des Lebens denn auch findet – in völlig anderen Fachgebieten wie der entstehenden Computertechnik, der Biologie, insbesondere der Molekularbiologie, und der Physik. Überall suchen vereinzelt Wissenschaftler nach einer umfassenden Sichtweise, einer Theorie, die nicht immer nur einen kleinen Teilaspekt erfaßt.

Dann taucht die Idee auf, für die neue Wissenschaft, die noch keiner so recht benennen kann, ein eigenes Institut zu gründen. Wer aber soll dort worüber forschen? Und wer soll das alles bezahlen? Schließlich gibt es die neue Forschungsstätte tatsächlich: Sie heißt Santa-Fe-Institut – nach ihrem Standort in der Hauptstadt des US-Bundesstaates New Mexico – und befaßt sich mit der Erforschung komplexer Systeme.

Dies hat, auch wenn das Titelbild es anders suggeriert, nur sehr wenig mit Fraktalen oder Chaos-Theorie zu tun. Vielmehr geht es um Systeme, in denen sehr viele kleine Komponenten, Agenzien genannt, durch ihr Zusammenwirken auf höherer Ebene andere Verhaltensweisen erzeugen. Beispiele sind neuronale Netze, Wirtschaftssysteme, biologische Zellverbände und zelluläre Automaten. In all diesen Systemen ist das Verhalten der kleinen Agenzien sehr einfach und wohlbestimmt, aber das des Gesamtsystems läßt sich darauf nicht zurückführen. Dieses "emergente" Verhalten ist gerade das, was das Ganze mehr sein läßt als die Summe seiner Teile. Deshalb hilft zu seinem Verständnis auch der reduktionistische Ansatz nicht weiter. Neue Wege müssen gesucht werden.

Dabei spielen Computer eine große Rolle. Das liegt hauptsächlich daran, daß komplexe Systeme sich in der Regel einer analytischen Erforschung entziehen, so daß nur die Simulation bleibt. Wenn sie gelingt und das simulierte komplexe System realitätsgetreue Verhaltensweisen zeigt, kann man es erforschen, indem man zum Beispiel Parameter oder ganze Teile des Systems verändert. So findet man heraus, welche Eigenschaften des Systems wirklich relevant sind, wie stabil es ist und welche Parameter auf welche Verhaltensweisen wirken.

Es ist kein Wunder, daß auch die Vertreter der Forschungsrichtung künstliches Leben im Santa-Fe-Institut ihren Platz haben. Sie haben bei der Entstehung des Instituts sogar maßgeblich mitgewirkt, und die erste große Tagung zu diesem Thema fand unter dessen Schirmherrschaft statt. Hier treffen sich die Erforscher künstlichen Lebens mit ihren Kollegen von der natürlichen Fachrichtung: den Biologen und Genetikern. Berührungsängste schlagen oft recht schnell in Begeisterung um, wenn beide Seiten feststellen, daß sie auf verschiedenen Wegen zum selben Ziel gelangt sind. Diese Interdisziplinarität war und ist eines der höchsten und erfolgreich angestrebten Ziele des Santa-Fe-Instituts.

In den Zusammenhang von komplexen Systemen und Emergenz gehört auch das Thema Selbstorganisation. In dem Bestreben, sich äußeren Einflüssen anzupassen, strukturieren sich komplexe Systeme auf verschiedenen Organisationsebenen selbst. Dies kann man sowohl in neuronalen Netzen nachweisen als auch etwa in der Biologie sehen: Die einzelne Zelle ist bereits ein komplexes System und gleichzeitig Agens eines weiteren Systems auf höherer Ebene, nämlich eines Organismus. Die einzelnen Organismen wiederum sind Agenzien in einem komplexen System noch höherer Ordnung, der Wirtschaft eines Landes zum Beispiel. Auf jeder Ebene treten ähnliche Phänomene auf: Anpassung an die gegebenen Umstände, emergentes Verhalten als Folge von innerer Strukturierung und Selbstorganisation.

Deswegen ist auch Adaptation ein zentrales Thema des Instituts. In den meisten komplexen Systemen ist das Verhalten der Agenzien darauf ausgerichtet, in ihrer Umwelt möglichst gut zurechtzukommen; am deutlichsten ist dies in (echten oder künstlichen) Wirtschafts- oder Ökosystemen. Aber auch die Zellen im Körper müssen sich ihrer Umwelt anpassen. Systeme, die Wissen speichern oder nach Regeln arbeiten, müssen anpassungsfähig sein, um neues Wissen aufzunehmen, neue Regeln zu erlernen und ungültig gewordene zu verändern oder zu vergessen.

Daß das Buch keine Bilder enthält, hat mich nicht weiter gestört. Alles in allem ist es wirklich lesenswert, geschrieben als Roman einer aufregenden Wissenschaft, die uns vielleicht mehr als jede andere die Komplexität unserer Welt verstehen hilft.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1995, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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