Intelligente Gele
Netze aus langkettigen Molekülen schrumpfen oder schwellen auf äußere Reize hin. Dadurch könnten sie die Grundlage neuartiger Maschinen bilden, die angemessen auf Umgebungsbedingungen reagieren und geschmeidig wie Muskeln sind.
Industrieprodukte bestehen zumeist aus Metall, Keramik oder Plastik – Werkstoffen, die fest, hart, trocken und leicht zu bearbeiten sind. Gewöhnlich meiden Konstrukteure feuchte Materialien wie Flüssigkeiten und Gele, die überhaupt keine beständige Form haben oder so weich sind, daß sie bei geringer Belastung bereits nachgeben. Außerdem sind Gele oft chemisch nicht sehr stabil und verlieren ihre besonderen Eigenschaften, wenn sie austrocknen. Derzeit werden sie daher nur für wenige Spezialprodukte wie Nahrungsmittel, Wasserabsorber oder weiche Kontaktlinsen verwendet.
Mit Blick auf die Natur erkennen jedoch immer mehr Forscher die konstruktiven Möglichkeiten, die in diesem Material stecken. Schließlich bestehen biologische Systeme zum allergrößten Teil aus weichen, feuchten Stoffen. Manchen Lebewesen fehlt sogar jede feste Struktur. So ist die Seegurke im Grunde nichts weiter als ein mit Wasser vollgesogenes Gel, in das einige primitive Organe eingebettet sind. Trotzdem vermag sie Nahrung aufzunehmen, sich zu vermehren und Feinde abzuwehren. Bei Berührung versteift sie in Sekundenschnelle ihren sonst biegsamen Körper. Wird ihr weiter zugesetzt, kann sie einen Teil ihrer Körperwand in eine glitschige Masse verwandeln, so daß sie sich nur schwer packen läßt.
Inzwischen versteht man es, solche Biosysteme durch sogenannte Polymergele in gewissem Grade nachzuahmen. Vertreter dieser Stoffklasse, die in Hochschul- und Industrielabors hergestellt wurden, können zum Beispiel ihre Größe und Form ändern und dabei chemische Energie direkt in mechanische Arbeit umsetzen. Sie bieten sich für Anwendungen an, bei denen die Energieversorgung herkömmlicher Geräte problematisch oder unmöglich wäre: unter Wasser, im Weltraum oder im menschlichen Körper.
Noch haben die mit Gelen konstruierten Vorrichtungen nicht annähernd die sensorischen und selbstregulierenden Fähigkeiten einer Seegurke – von der komplexen Choreographie von Muskeln, Fühlern und anderen Organen höherer Lebensformen ganz zu schweigen. Unserer Ansicht nach aber wird es in nicht allzu ferner Zukunft gelingen, Maschinen aus weichen Materialien zu bauen, die flexibel auf ihre Umgebung reagieren können. Schon jetzt lassen sich speziell entworfene Gele direkt in Chemie, Maschinenbau und Medizin einsetzen.
Was ist ein Gel?
Wie die Chemikerin Dorothy Jordan Lloyd schon vor fast 70 Jahren bemerkte, sind Gele "leichter zu erkennen als zu definieren". Allgemein kann man sicherlich sagen, daß sie aus zwei Komponenten bestehen: einer Flüssigkeit und einem Netzwerk aus langen Polymermolekülen, das die Flüssigkeit bindet und dem Gel die ihm eigene Stabilität verleiht.
Zum Verständnis der Gelbildung betrachte man eine Lösung, die typische synthetische Polymermoleküle wie etwa Polystyrol enthält. Jedes davon besteht aus einer Kette von etwa 10000 aneinandergehängten Monomer-Einheiten (in diesem Falle Styrol) mit einem Gesamtmolekulargewicht von ungefähr einer Million. In gestrecktem Zustand wäre die Molekülkette etwa drei Mikrometer (tausendstel Millimeter) lang. Weil sie sehr biegsam ist, liegt sie allerdings normalerweise mehr oder weniger verknäuelt vor. Deshalb beträgt der mittlere Abstand zwischen den beiden Enden nur rund ein Zehntel der Kettenlänge.
In einer verdünnten Lösung kommen sich die einzelnen Polymerknäuel nur selten in die Quere, aber mit steigender Konzentration wird der Platz knapp (Bild 2). Da die Reibung zwischen den Molekülen den raschen Fluß behindert, verhält sich die Lösung dann dick- bis zähflüssig. Bei noch höheren Konzentrationen umwickeln und verstricken sich die einzelnen Polymerketten wie Spaghetti. Ein derartiges System ist viskoelastisch: Bei allmählicher Krafteinwirkung verhält es sich zähplastisch wie ei-ne hochviskose Flüssigkeit, bei plötzlichen Störungen dagegen elastisch wie ein Festkörper. Würde man, bildlich gesprochen, ein Kettenmolekül am Ende fassen und langsam daran ziehen, könnte man es aus dem verworrenen Knäuel herausfischen; zerrte man hingegen ruckartig daran, würde sich die gesamte Masse in Bewegung setzen.
Was in diesem Falle langsam und schnell ist, hängt von der Relaxationszeit der gelösten Molekülketten ab. Sie ist praktisch ein Maß dafür, wie lange das Molekül braucht, um nach einer Streckung wieder in den verknäuelten Zustand zurückzukehren, und wird hauptsächlich von der Masse des Moleküls bestimmt. Da eine Lösung Moleküle unterschiedlicher Länge enthält, sind die Relaxationszeiten statistisch verteilt.
Wann viskoelastisches Verhalten einsetzt, hängt von der Länge und Steifigkeit der Polymerketten ab. Beide Faktoren vergrößern das effektiv von einer Kette beanspruchte Volumen und damit auch die Wahrscheinlichkeit, daß benachbarte Ketten sich ineinander verstricken.
Unter geeigneten Bedingungen verknäueln sich Polymerketten in Lösung nicht nur, sondern bilden auch permanente Bindungen untereinander aus, so daß vielfach verzweigte Superketten entstehen. Irgendwann wird dann eines dieser gelösten Megamoleküle den Behälter vollkommen überspannen. Dies kennzeichnet den Übergang von der viskoelastischen Lösung zum Gel. Die gelierte Probe fließt nicht mehr wie eine Polymerlösung, sondern hat gänzlich die Eigenschaften eines Festkörpers. Beispielsweise wird eine mechanische Störung von einer Seite der Probe an den Polymerketten entlang zur anderen weitergeleitet.
In einigen Gelen halten klassische kovalente Bindungen, in denen sich die beteiligten Atome ein Elektronenpaar teilen, das molekulare Netzwerk zusammen. In anderen Fällen sind subtilere Kräfte am Werk. Dazu gehören elektrostatische Wechselwirkungen zwischen permanenten Dipolen; bekanntestes Beispiel ist die Wasserstoffbrückenbindung, bei der ein partiell positiv geladenes Wasserstoffatom zwei partiell negativ geladene Atome (meist Sauerstoff oder Stickstoff) zusammenhält. Hinzu kommen Wechselwirkungen zwischen induzierten Dipolen, quantenmechanisch bedingte Dispersionskräfte und hydrophobe Wechselwirkungen, das heißt anziehende Kräfte zwischen wasserscheuen Molekülgruppen, die sich gegen die wäßrige Umgebung abschotten.
Diese subtileren Wechselwirkungen erzeugen manchmal keine lokalisierten Verknüpfungen, sondern ausgedehnte Verbindungsbereiche. Auf einer noch komplexeren Ebene können biologische Polymere schließlich auch über Wechselwirkungen zwischen großräumigen Molekülstrukturen zusammengehalten werden. So verdanken buntsüße Götterspeisen auf der Basis von Knochengelatine ihre wabbelige Festigkeit einer Struktur aus dreifach ineinander verschraubten Eiweißspiralen.
Quellen und Schrumpfen
Das verwobene Netz von Polymerketten bildet das eine Grundelement von Gelen. Prinzipiell ebenso wichtig und dem Volumen nach sogar weitaus dominierend ist aber das Lösungsmittel, welches das Netzwerk durchsetzt und dabei gleichsam aufbläht. Wieviel Lösung ein bestimmtes Gel enthält, hängt von einem komplexen Wechselspiel zwischen der Elastizität des Polymernetzes und der Affinität seiner Atome zu denen des Lösungsmittels ab.
Wenn man ein einzelnes Polymermolekül in Lösung bringt, kann es sich – je nach der Wechselwirkung mit dem Lösungsmittel – entweder auffalten oder zusammenknüllen. Ziehen die Polymersegmente und die Lösungsmittelmoleküle einander an, sollte das Knäuel sich vergrößern, damit sich möglichst viele Kontakte zwischen Lösungsmittelmolekülen und Polymer bilden. In einem solchen thermodynamisch günstigen Lösungsmittel quillt das Polymer auf. In einem ungünstigen Lösungsmittel dagegen weichen die Polymersegmente vor den Lösungsmittelmolekülen zurück, und das Polymer schrumpft.
Legt man ein Gel in ein günstiges Lösungsmittel, dehnt es sich so lange aus, bis die rücktreibenden elastischen Kräfte des Polymernetzes den Druck der einströmenden Lösungsmittelmoleküle gerade kompensieren. Die elastische Rückstellkraft hängt vom Ausmaß der Querverbindungen zwischen den Ketten ab, welche die maximale Ausdehnung des Netzes begrenzen. Ein stark quervernetztes Gel quillt demnach weniger stark als ein schwächer vernetztes.
Enthält das Polymergerüst elektrisch geladene Gruppen, kommen weitere Effekte ins Spiel. Einer ist der sogenannte Polyelektrolyteffekt. In reinem Wasser dehnt sich ein Polymer mit geladenen Gruppen so weit wie möglich aus, um die Abstoßung zwischen den Ladungszentren zu minimieren. Löst man in dem Wasser jedoch einen einfachen Elektrolyten wie etwa Kochsalz, der in Io-nen dissoziiert, so neutralisieren die zum Polymer entgegengesetzt geladenen Ionen die Ladungszentren der Kette. Mit zunehmender Ionenstärke der Lösung (dem Produkt aus der Konzentration der Ionen und dem Quadrat ihrer Ladung) knüllt sich das Polymer demnach wieder zusammen. Dieser Effekt läßt sich verstärken, indem man den Ionencocktail so mixt, daß die Ladungszentren optimal abgeschirmt werden.
Die meisten Gele quellen oder schrumpfen weitgehend proportional zur thermodynamischen Qualität des sie durchdringenden Lösungsmittels. Einige reagieren aber unter bestimmten Umständen auf eine relativ geringfügige Änderung der Lösungsmittelqualität mit einer sprunghaften Volumenänderung.
Löst man beispielsweise ein teilweise geladenes Polyacrylamidgel in einer Mischung aus Ethanol und Wasser, schrumpft es zunächst nur leicht, wenn man der Lösung weiteres Ethanol zufügt. Irgendwann aber ist ein Punkt erreicht, bei dem die Zugabe einer winzigen Alkoholmenge das Gel plötzlich auf wenige Prozent seiner ursprünglichen Größe zusammenschrumpfen läßt (siehe "Gele" von Toyoichi Tanaka, Spektrum der Wissenschaft, März 1981, Seite 78). Dieses Verhalten entspricht dem einer Flüssigkeit in der Nähe des kritischen Punktes, an dem der Unterschied zwischen flüssigem und gasförmigem Zustand verschwindet. Unter diesen Bedingungen kann eine kleine Temperatur- oder Druckschwankung die Flüssigkeit in ein Gas oder das Gas in eine Flüssigkeit verwandeln.
Das plötzliche Schrumpfen des Polyacrylamidgels beruht auf einem Schneeballeffekt im Wechselspiel zwischen der Affinität des Polymernetzes zum Lösungsmittel, seinen elastischen Bindungskräften und der Anziehung der Polymerketten untereinander. Zunächst schrumpft das Gel langsam, weil das zugesetzte ungünstigere Lösungsmittel den elastischen Bindungskräften weniger Widerstand zu leisten vermag; aber indem dabei immer mehr Lösungsmittelmoleküle ausgetrieben werden, verstärkt sich die anziehende Wechselwirkung der Ketten untereinander. Dadurch wird weiteres Lösungsmittel verdrängt, was die Anziehungskräfte zwischen den Ketten noch mehr steigen läßt; dieser Vorgang wiederholt sich mit rasch wachsender Geschwindigkeit, bis das Polymer sich schließlich zu einem dichten Knäuel zusammengeballt hat. Fügt man nun wieder Wasser hinzu, kehrt sich der Rückkopplungsprozeß um, und das Gel nimmt sein ursprüngliches Volumen an.
Je nach der spezifischen Struktur des Gels gestalten verschiedene Faktoren diesen einfachen Vorgang komplizierter. So wirkt das Gel in einigen Fällen als halbdurchlässige Membran, und der Übergang zwischen Schrumpfen und Quellen wird hauptsächlich durch die Wechselwirkung zwischen den Ionen der Lösung und den Ladungszentren des Polymernetzes bestimmt. Wie plötzlich er ist, hängt aber auch von der Steifheit der Polymerketten ab: Flexible Moleküle ergeben – ebenso wie sehr steife – einen allmählichen Übergang.
Gesteuerte Volumenänderung für Medikation und Filtration
In den vergangenen zehn Jahren sind weltweit neuartige Gele entwickelt worden, die je nach ihrer chemischen Zusammensetzung und dem verwendeten Lösungsmittel auf die unterschiedlichsten äußeren Reize hin – seien es Temperatur, Säuregrad oder elektrische Feldstärke – quellen oder zusammenfallen.
Ein auf Poly-N-isopropylacrylamid basierendes Gel schrumpft beispielsweise auf 30 Prozent seines Ausgangsvolumens, wenn es über eine bestimmte Temperatur hinaus erwärmt wird (Bild 3). Ein ähnliches wärmeempfindliches Gel, das bei der Vernetzung einer wäßrigen Lösung von Polymethylvinylether entsteht, ändert bei 37 Grad Celsius abrupt und reversibel sein Volumen: Die Gelfibrillen schrumpfen beim Erwärmen von 20 auf 40 Grad Celsius von 400 auf 200 Mikrometer Durchmesser.
Einen ähnlichen Effekt hat ein elektrisches Feld von nur einem halben Volt pro Zentimeter bei einem in Wasser und Aceton gelösten Polyacrylamidgel. Die Gelteilchen schwellen oder schrumpfen mit einer Geschwindigkeit, die von der Stromstärke und dem Quadrat ihrer Größe abhängt.
Theoretisch könnte man mit einem elektrischen Feld von fünf Volt pro Zentimeter ein Gel mit Teilchen von einem Mikrometer Größe innerhalb einer Millisekunde auf vier Prozent seines Volumens schrumpfen lassen. Diese schnelle Reaktion ließe sich für künstliche Muskeln in Robotern oder anderen mechanischen Geräten – vielleicht sogar in medizinischen Prothesen – nutzen.
Dennoch dürften intelligente Gele vorerst kaum als Muskelersatz, sondern vor allem wohl als Fortentwicklungen des Senfpflasters und anderer Salbenverbände verwendet werden. Die gesteuerte Verabreichung von Medikamenten an Organe, die kontinuierlich eine festgelegte Dosis benötigen, ist ein altes medizinisches Problem. Seit einiger Zeit ermöglichen halbdurchlässige Membranen, Arzneimittel in konstanter Dosierung freizusetzen. Mit intelligenten Gelen ließe sich diese Methode verfeinern: Das Gel könnte als Reaktion auf die Bedingungen im Körperinneren die Freisetzungsrate jeweils so variieren, daß immer eine angemessene Wirkstoffkonzentration im Blut gewährleistet wäre. Beispielsweise hat Ronald A. Siegel mit seinen Mitarbeitern an der Universität von Kalifornien in San Francisco ein einfaches Verfahren auf Gelbasis entwickelt, das säureempfindliche Medikamente vor dem aggressiven Magenmilieu schützt. Das Gel schrumpft bei dem niedrigen pH-Wert (hohen Säuregehalt) im Magen, wogegen es im schwach basischen Milieu der Gedärme aufquillt und teilweise durchlässig wird, so daß nun die eingeschlossenen Wirkstoffe hinausdiffundieren können.
In ähnlicher Weise setzen bestimm- te Gele Arzneimittel oder Biomoleküle frei, wenn ein elektrisches Feld angelegt wird. So diffundiert Insulin aus einem schwach vernetzten Polyelektrolytgel, wenn man dieses unter Strom setzt. Wird der Strom abgeschaltet, versiegt der Insulinfluß sofort wieder. Mit einem solchen Gel ließe sich vielleicht eine implantierbare Insulinpumpe ohne mechanisch bewegte Teile konstruieren. Tatsächlich haben Wissenschaftler an der Universität Trondheim in Norwegen sowie am Inselzell-Transplantationszentrum der amerikanischen Veteranen- Behörde in Los Angeles (Kalifornien) den Pumpmechanismus kurzgeschlossen, indem sie insulinerzeugende Zellen in ein Alginatgel einschlossen. Sie hoffen, noch dieses Jahr mit den klinischen Tests beginnen zu können.
Elektrisch steuerbar expandierende und kontrahierende Gele lassen sich auch als chemische Ventile oder Filter mit regulierbaren Poren einsetzen. Dazu stellt man das Gel in Form einer porösen Membran her, die an den Rändern befestigt wird. Beim Schrumpfen erweitern sich die Löcher in der Membran zwangsläufig, so daß Flüssigkeiten und gelöste Moleküle durchtreten können. Dehnt sich das Gel hingegen aus, verengen sich die Poren bis zur völligen Undurchlässigkeit. Bei mittlerer Stromstärke läßt sich der Porendurchmesser gezielt so einstellen, daß Moleküle einer bestimmten Größe gerade noch passieren können. Solche elektrisch steuerbaren Membranen dienen inzwischen bereits zur Trennung von Flüssigkeiten, die aus Molekülen unterschiedlicher Größe bestehen.
Mit der gleichen Methode kann man auch große Moleküle aus wäßrigen Lösungen zurückgewinnen, was sich möglicherweise verfahrenstechnisch nutzen läßt. Edward L. Cusler jr. und seine Kollegen an der Universität von Minnesota in Minneapolis haben herausgefunden, daß ein Gel beim Quellen vorzugsweise reines Wasser ohne die darin gelösten Substanzen aufnimmt. Sie tauchen das Gel also einfach in die Lösung und lassen es sich mit Flüssigkeit vollsaugen, wobei der gelöste Stoff zurückbleibt. Anschließend bringen sie es in einem anderen Gefäß zum Schrumpfen, so daß es den größten Teil der absorbierten Flüssigkeit wieder abgibt. Diesen Zyklus wiederholen sie so lange, bis die Trennung vollständig ist.
Chemomechanische Systeme
Seit mehr als vier Jahrzehnten haben sich immer wieder Forscher von der Vorstellung verlocken lassen, den Schwell-Schrumpf-Zyklus auch für Bewegungsvorgänge nutzbar zu machen. Bereits 1950 konstruierten Aharon Katchalsky vom Weizmann-Institut in Rehovot (Israel) und Werner Kuhn an der Universität Basel die ersten chemomechanischen Systeme, indem sie Gele durch Änderung des pH-Werts zur Expansion und Kontraktion brachten.
Kürzlich hat einer von uns (Osada) mit seinen Mitarbeitern ein chemomechanisches System entwickelt, das wir nach dem englischen Wort für Schlaufe Gel-Looper nennen. Eine erste Version haben wir im Dezember 1991 auf dem Zweiten Polymer-Gel-Symposium und beim Robo-Bug-Fest – einer Demonstration von Roboterkäfern – in Tsukuba (Japan) vorgestellt. Auch acht andere japanische Forscherteams präsentierten dort chemomechanisch bewegte Geräte.
Unser System besteht aus einem Gelstreifen, der unter dem Einfluß eines elektrischen Wechselfeldes wie eine Raupe an einer stützenden Stange entlangkriecht (Bild 1). Das Gel hängt an Metallhaken parallel zur Stange und taucht in eine wäßrige Tensidlösung ein (im Grunde eine verfeinerte Form von Seifenlauge). Parallele Elektroden ober- und unterhalb des Gelstreifens steuern die Bewegung.
Legt man eine Spannung an die Elektroden, so wandern die Tenside, die positiv geladen sind, zur negativen Elektrode. Dabei treffen sie auf die Seite des Gels, die der positiven Elektrode zugewandt ist, bleiben dort haften und neutralisieren die negativen Ladungszentren im Gel. Dadurch zieht sich der Streifen auf dieser Seite zusammen und krümmt sich. Polt man das elektrische Feld um, lösen sich die Tenside wieder von der Geloberfläche, und der Streifen streckt sich. Ein Sägezahnprofil auf der Oberseite der Stützstange sorgt dafür, daß sich der Gelstreifen mit jedem dieser Krümm-Streck-Zyklen vorwärtsbewegt.
So einfach er auch ist, besitzt der Gel-Looper doch die grundlegenden Charakteristika, durch die sich weiche chemomechanische Systeme von mechanischen aus härteren Materialien unterscheiden. Im Gegensatz zu herkömmlichen Antriebsaggregaten und Vorrichtungen mit beweglichen Teilen – Motoren und Pumpen zum Beispiel – sind Gele schmiegsam und nachgiebig, und ihre Bewegung erinnert mehr an die von Muskeln als von Maschinen. Derart geschmeidige Formänderungen findet man gewöhnlich nur in biologischen Systemen – etwa Vogelflügeln, die sich beim Schlagen fortwährend nachstellen, um den Auf- und Vortrieb zu maximieren.
Weil Gele weich sind, kann man damit empfindliche Materialien ohne Beschädigung handhaben. Noch wichtiger ist jedoch, daß sie auch geradezu einfühlsam auf ihre Umgebung reagieren. Maschinen aus Metall arbeiten als in sich geschlossene Systeme, die ein separates Sensorsystem oder einen Menschen am Bedienpult brauchen, um sich Änderungen der Umgebungsbedingungen anzupassen. Gele dagegen können als offene Systeme mit dem umgebenden Lösungsmittel Chemikalien austauschen und ihren molekularen Zustand während der Arbeitszyklen ändern. Fügt man dem Lösungsmittel freie Energie in Form frischer Chemikalien zu, kehrt das chemomechanische System von selbst in seinen Ausgangszustand zurück.
Wir glauben, daß man diese Eigenschaften künftig dazu nutzen kann, selbstregulierende Vorrichtungen mit sensorischen Fähigkeiten zu entwickeln, die gleichsam intelligent auf Änderungen der Umgebungsbedingungen reagieren. Obwohl weiche Maschinen die harten sicherlich nur teilweise ersetzen können, wird dereinst wahrscheinlich neben Hard- und Software auch die "Wetware" Eingang in die Handbücher der Konstrukteure finden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1993, Seite 84
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