Internationaler Mathematiker-Kongreß in Berlin
Die im Vierjahresrhythmus stattfindende Welttagung stach diesmal durch ungewöhnliche Hinwendung zum allgemeinen Publikum hervor. Für die Fachwelt war die Vergabe der höchsten Mathematik-Auszeichnungen einer der Glanzpunkte der Veranstaltung.
Nobelpreise gibt es jedes Jahr, die mathematische Auszeichnung mit demselben Prestigewert – aber mit deutlich geringerer Dotierung- hingegen nur alle vier Jahre, dafür gleich im Viererpack: die Fields-Medaille. Sie ist benannt nach dem kanadischen Mathematiker John C. Fields (1863 bis 1932), dem es gelang, für den mathematischen Weltkongreß in Toronto 1924 so viel Sponsorengeld einzuwerben, daß ein Überschuß blieb; dieser wurde zur Stiftung der Medaillen verwendet. Hinzu kommt seit 1983 der von der Universität Helsinki gestiftete Nevanlinna-Preis für Informatik. Die Verleihung dieser Auszeichnungen ist feierlicher Höhepunkt des Internationalen Mathematiker-Kongresses, der in diesem Jahr vom 18. bis zum 27. August in Berlin stattfand.
Die Leistungen der Preisträger sollen in den nächsten Monaten in dieser Zeitschrift ausführlicher gewürdigt werden; deswegen beschränkt sich die Aufzählung an dieser Stelle auf Stichworte (Kasten auf der rechten Seite).
Wenn 3500 Mathematiker ihre Elfenbeintürme verlassen, nur um sich in einem gemeinsamen Elfenbeinturm zu versammeln – was interessiert das den Rest der Welt? Nun, zumindest manche Mathematiker drängen mit Macht aus diesem Turm heraus, und die Öffentlichkeit hatte ungewöhnlich viel Gelegenheit, sich das anzusehen. Die traditionsreiche Bildungsstätte Urania hatte ihr Programm auf die Mathematik eingestellt; sie zeigte die Ausstellung "Mathematik zum Anfassen" von Albrecht Beutelspacher (Spektrum der Wissenschaft, August 1998, Seite 104) und bot ein reichhaltiges Programm an Vorträgen für die Allgemeinheit, vor allem eine sehr kenntnisreiche "Außenansicht" der Mathematik durch den Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger.
Ein weiterer Höhepunkt war – ebenfalls in der Urania – die Vorführung von 24 mathematischen Kurzvideos, die aus einem eigens ausgeschriebenen Wettbewerb als Sieger hervorgegangen waren (Bilder unten). Dem nicht vorinformierten Zuschauer bringt die sehr heterogene, durchweg englischsprachige Zusammenstellung wenig mehr als ein Feuerwerk schöner bunter Bilder. Aber sie zeigt auf eindrucksvolle Weise das große Potential der Visualisierung, Mathematik auch an das allgemeine Publikum zu vermitteln – vorausgesetzt, das Video darf länger sein als die für den Wettbewerb vorgeschriebenen drei bis acht Minuten. Einige der bestplazierten Beiträge sind denn auch Ausschnitte aus längeren Produktionen.
Der Schritt in die Öffentlichkeit trägt erkennbar die Handschrift von Martin Grötschel, dem Vorsitzenden des Organisationskomitees, der sich im Elfenbeinturm nicht besonders wohl fühlt, sondern in seinem Hauptberuf als Professor an der gastgebenden Technischen Universität Berlin vorzugsweise praxisrelevante Optimierungsprobleme bearbeitet. Er verfolgt auch seit Jahren das Projekt, daß die Mathematiker die Veröffentlichung ihrer Werke gänzlich selbst in die Hand nehmen (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, März 1995, Seite 39), und das mit einem ungewöhnlichen Erfolg: Die Teilnehmer konnten bereits am ersten Tag zwei von drei Bänden des Kongreßberichts in Empfang nehmen. Die Übermittlung der Beiträge und die zugehörige Kommunikation hatten fast ausschließlich über E-Mail stattgefunden.
Es hat sehr lange gedauert, bis der um die Welt vagabundierende Kongreß wieder in deutsche Lande kam. Beim letzten Mal, 1904 in Heidelberg mit 336 Teilnehmern, hatte noch der Kaiser die Schirmherrschaft übernommen. Die lange Pause ist – nicht ausschließlich, aber auch – darauf zurückzuführen, daß Deutschland nach den beiden Weltkriegen und vor allem nach der Naziherrschaft sich seine wissenschaftliche Salonfähigkeit erst mühsam wieder erwerben mußte.
Eine den Kongreß begleitende Ausstellung zeigte exemplarisch die Schicksale der mehr als 50 von den Nationalsozialisten aus Amt und Würden getriebenen Berliner Mathematiker. Es ist nicht so, daß die zugehörige Recherchearbeit wesentlich neue Erkenntnisse gebracht hätte; aber offensichtlich war auch 60 Jahre danach noch nicht alles zu dem Thema gesagt. Einige wenige unter den Beschriebenen leben noch und nahmen auf Einladung des Berliner Senats am Kongreß teil. Bei der Eröffnung der Veranstaltung bedankten sie sich sichtlich bewegt – allem Anschein nach war es seit Kriegsende das erste Mal, daß eine offizielle deutsche Stelle Wert darauf legte, sie in der Bundeshauptstadt wiederzusehen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1998, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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