Interview: 'Das Ende des freien Willens?'
Neue Erkenntnisse der Hirnforschung verändern unser Bild vom Menschen. Prof. Dr. Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, äußert sich über Bewusstsein, die Grenzen des freien Willens und die Folgen für unser Rechtssystem und Erziehungswesen.
Spektrum der Wissenschaft: Herr Professor Singer, war es Ihr freier Wille, uns hier und jetzt ein Interview zu geben?
Prof. Dr. Wolf Singer: Ich fürchte nein, und die Bedingtheiten kennen Sie: Dem Gespräch gingen Telefonate voraus und dann gewisse kognitive Prozesse in meinem Gehirn, die letztlich dazu führten, dass ich zugesagt habe, das Interview zu führen.
Spektrum: Ihr Kollege, der Hirnforscher Gerhard Roth, hat unlängst in einem Spektrum-Interview die Behauptung gewagt, unser freier Wille existiere eigentlich gar nicht und sei nur eine nützliche Illusion. Wie denken Sie darüber?
Singer: Die Frage des freien Willens ist eine der wichtigsten, die gegenwärtig an der Berührungsfläche zwischen Natur- und Kulturwissenschaften diskutiert werden. Das Problem ist, dass wir als Naturwissenschaftler bei der Beschreibung unserer Forschungsobjekte stets aus der Dritte-Person-Perspektive urteilen: Untersuchungsgegenstand und Untersuchender sind nicht identisch. Bei der Suche nach den neuronalen Grundlagen psychischer Phänomene wie Bewusstsein oder freier Wille untersucht der Forscher sich jedoch selbst – betrachtet Phänomene aus der Dritte-Person-Perspektive, die er zugleich aus der Ich-Perspektive der ersten Person wahrnimmt.
Spektrum: Wo liegt das Problem?
Singer: Wir finden weder sinnhafte Zuschreibungen noch kulturelle Konstrukte in unserem Forschungsobjekt, dem Gehirn.
Spektrum: Bitte konkretisieren Sie das!
Singer: Ich meine Phänomene wie Intentionalität, also das absichtsvolle Handeln oder eben den so genannten freien Willen. Denken Sie aber auch an soziale Realitäten wie zum Beispiel Wertesysteme! Diese Phänomene erschließen sich nur der subjektiven Erfahrung, gehören aber dennoch zu den erforschbaren Wirklichkeiten. Wir empfinden uns als "frei", wir handeln auch danach, ja ziehen Menschen sogar zur Verantwortung, weil wir annehmen, sie seien "frei". Diese Konzepte haben auch insofern den Status von Realitäten, als sie sehr wirksam sind. Sie bestimmen unser Handeln, bestimmen unser Rechtssystem, unsere Erziehungsweisen.
Spektrum: Leidet die Hirnforschung also an einer Art Messproblem?
Singer: An einem Problem der Unvereinbarkeit verschiedener Beschreibungssysteme, würde ich sagen. Das ist mehr als ein Messproblem. Wir beschreiben die Phänomene, die ich gerade angesprochen habe, in der subjektiven Erste-Person-Perspektive. Anders sind sie gar nicht fassbar. In der Dritte-Person-Perspektive der naturwissenschaftlichen Beschreibungsweise existieren diese Phänomene nicht.
Spektrum: Nur ich erlebe, dass ich etwas Bestimmtes tun will, aber niemand anders ...
Singer: Niemand anders außer Ihnen. Zugriff auf die Empfindungen und Bewertungen des Gegenübers erhalte ich nur indirekt mit Hilfe einer Theorie des Geistes.
Spektrum: Das bedeutet?
Singer: Lassen Sie mich etwas ausholen! Tiere können sich im Allgemeinen nicht vorstellen, was im Kopf des anderen Tieres vor sich geht, wenn dieses sich in einer bestimmten Situation befindet. Selbst hoch entwickelte Tiere können dies nur dann, wenn das beobachtete Tier seine Stimmung eindeutig zu erkennen gibt. Wenn Schimpansen einen Artgenossen in Wut sehen, dann wissen sie: Jetzt ist er wütend. Aber wenn sie einen anderen Schimpansen still sitzen sehen, der eine Spinne sieht und offenbar gar nicht darauf reagiert, dann können die sich nicht vorstellen, dass er Angst hat und nur deshalb ruhig sitzen bleibt, weil er vortäuschen will, keine Angst zu haben. Allein wir Menschen können solche Interpretationsleistungen erbringen. Nur wir können uns vorstellen, was im anderen vorgehen könnte, wenn er sich in einer bestimmten Situation befindet. Hier sprechen wir von der Fähigkeit, eine Theorie des Geistes aufzustellen.
Spektrum: Können Sie mit einer Theorie des Geistes Zugriff auf die individuelle Eigenempfindung eines anderen Menschen erlangen?
Singer: In gewisser Weise ja. Ich nehme an, dass Sie so empfinden wie ich. Ich schreibe Ihnen Freiheit zu, weil ich selbst sie in der ersten Person empfinde, und ich beurteile Sie entsprechend. Aber keinen der entsprechenden Inhalte bekomme ich aus der Dritte-Person-Perspektive zu fassen.
Spektrum: Was ist bei der Frage nach dem freien Willen das Kernproblem?
Singer: Das wesentliche Problem ist, dass wir annehmen, das Verhalten von ganz einfachen Organismen – Plattwürmern oder Schnecken etwa – lückenlos im Rahmen unserer naturwissenschaftlichen Beschreibungssysteme erklären zu können. Das bedeutet, wir können Verhalten auf neuronale Prozesse zurückführen. Niemand wird gegenwärtig bezweifeln, dass es möglich ist vorauszusagen, was ein Wurm als nächstes tun wird, wenn die Gesamtheit aller Erregungszustände seiner Nervenzellen messbar wäre.
Spektrum: Ist das denn schon Stand der Forschung?
Singer: Bei ganz einfachen Tieren – oder sagen wir besser: Nervensystemen – ist es schon fast möglich.
Spektrum: Sie meinen, Sie haben es vielleicht noch nicht ganz erreicht, aber bald?
Singer: Wir glauben zumindest, dass es prinzipiell möglich ist. Wir müssen dazu nur technische Probleme überwinden, die mit der Komplexität und den Messinstrumenten zu tun haben.
Spektrum: Und wo liegt nun die Schwierigkeit?
Singer: Die Schwierigkeit liegt darin, dass wir unsere Evolutionstheorien für zutreffend halten und viele Hinweise dafür haben, dass sich die Herausbildung komplexer Organismen tatsächlich so vollzogen hat, wie es in Darwins Theorie dargestellt wird. Wir gehen also davon aus, dass bei der Evolution der Arten alles "mit rechten Dingen" zugegangen ist und dass sich die Ausbildung neuer, höherer Verhaltensleistungen ausschließlich der Entwicklung immer komplexerer Nervensysteme verdankt. Diese Entwicklung beruht wiederum durchweg auf Prozessen, die vollständig in der Dritte-Person-Perspektive beschreibbar sind. Mit anderen Worten: In der Kette von Ereignissen, die zur Ausbildung komplexer Organismen – letztlich zum Menschen – geführt hat, gibt es nirgends Sprünge. Ich muss keine Agenten ...
Spektrum: ... keinen Gott ...
Singer: ... keine Agenten postulieren, die in der wissenschaftlichen Dritte-Person-Perspektive nicht darstellbar wären. Und dennoch entstehen offenbar aus der Wechselwirkung der auf diese Weise entstandenen komplexen Organismen Phänomene, die nicht mehr in dem Beschreibungssystem vorkommen, das erklärt, wie sich diese Organismen entwickelt haben. Der so genannte freie Wille ist dafür eines der faszinierendsten Beispiele.
Spektrum: Andererseits verfügen wir Menschen aber doch über unser eigenes Erleben als Beschreibungssystem. Das eigene Erleben ist für uns selbstverständlich: Kein Mensch hält es für problematisch, dass er sich selbst erlebt, dass er ein Bewusstsein hat und dass er etwas Bestimmtes tun oder lassen will.
Singer: Genau in diesem individuellen Erleben erfahren wir uns als "frei". Und daraus ergibt sich der Konflikt. Aus einem Entwicklungsprozess, der sich lückenlos aus der Dritte-Person-Perspektive mit naturwissenschaftlichen Termen beschreiben lässt, gehen Phänomene hervor, die in diesem Beschreibungssystem nicht mehr vorkommen. Letztere werden durch subjektives Erleben erfasst und im zwischenmenschlichen Diskurs thematisiert. Und wie gesagt, es handelt sich auch hierbei um etwas Reales: um erlebbare soziale Realitäten.
Spektrum: Stößt hier die Naturwissenschaft an ihre Grenze?
Singer: Just an diesem Punkt entzündet sich die heftige Debatte: Kann Naturwissenschaftlern überhaupt zugetraut werden, sich auch zu diesen, eigentlich nur in der Erste-Person-Perspektive fassbaren Realitäten zu äußern? Die einen meinen ja. Dies sind meist Naturforscher, die für die Einheit der Wissenschaft plädieren. Die anderen – meist Kulturforscher – behaupten, hier würden Kategorien-Fehler gemacht, und das Vorhaben einer Einheitswissenschaft sei prinzipiell nicht realisierbar.
Spektrum: Und wo stehen Sie?
Singer: Ich denke, dass hier nichts anderes vorliegt als in allen anderen Situationen, in denen man zwischen verschiedenen Beschreibungssystemen hin- und herwechselt. Das ist uns doch geläufig, gerade innerhalb der Naturwissenschaften. Sehr oft sind Phänomene, die es zu erklären gilt, in anderen Beschreibungssystemen erfasst als die elementaren Prozesse, die den jeweiligen Phänomenen zu Grunde liegen.
Spektrum: Könnten Sie bitte ein Beispiel nennen?
Singer: Die Verhaltensleistung eines höher organisierten Tieres wird in Begriffen beschrieben, die zunächst in der Neurobiologie nicht vorkommen. Wir sprechen beispielsweise von "Aufmerksamkeit": Wir sagen, ein Tier sei jetzt "aufmerksam", oder es lenke seine "Aufmerksamkeit" auf einen bestimmten Reiz. Wir benutzen zur Definition einer kognitiven Leistung, deren neuronales Substrat wir erklären wollen, Begriffe, die wir Beschreibungssystemen entlehnen, die wir aus der Erste-Person-Perspektive heraus entwickelt haben. In diesen Beschreibungssystemen kommen Neuronen naturgemäß nicht vor.
Spektrum: Sie legen hier also eine Theorie des Geistes zu Grunde.
Singer: Richtig. Ich identifiziere Phänomene, die ich nur erkennen kann, weil ich über subjektive Erfahrungen verfüge und über die Fähigkeit, deren Inhalte sprachlich zu fassen. Damit bin ich in der Lage, kognitive Leistung zu definieren, für die ich dann aus der Dritte-Person-Perspektive neuronale Korrelate suchen kann, also Korrelate, die in naturwissenschaftlichen Beschreibungssystemen darstellbar sind.
Spektrum: Das wird aber sehr schwierig sein.
Singer: Erstaunlicherweise nicht. Im Gehirn von Affen und anderen Säugetieren finden sich Strukturen, die selektiv aktiv werden, wenn das Tier seine Aufmerksamkeit steigert oder auf bestimmte Inhalte lenkt. Es lässt sich sogar bestimmen, auf welchen Sinneskanal oder auf welchen Inhalt das Tier seine Aufmerksamkeit jeweils gerichtet hat. Wenn das Tier seine Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Objekt lenkt, werden Nervenzellen, die auf dieses Objekt reagieren, stärker aktiv oder synchronisieren ihre Antworten. Ganze Gruppen von Nervenzellen schließen sich zu synchron oszillierenden Ensembles zusammen, wenn die Inhalte, die sie codieren oder vermitteln, mit Aufmerksamkeit belegt werden. Auch gibt es im Gehirn Nervenzellen, die nur dann aktiv werden, wenn das Tier wach und aufmerksam ist.
Spektrum: Sie haben eben nur von einem "Korrelat" gesprochen. Gibt es keine kausalen Zusammenhänge zwischen den Gehirnprozessen, die Sie als Wissenschaftler aus der Dritte-Person-Perspektive beschreiben, und dem Phänomen "Aufmerksamkeit", das der Erste-Person-Perspektive entstammt?
Singer: Doch, das sind ja kausale Beziehungen. Es ist nur schwierig, das zu beweisen.
Spektrum: Ah, jetzt wird es spannend!
Singer: Man kann durchaus neuronale Strukturen angeben, die für Aufmerksamkeitsprozesse verantwortlich sind. Die besten Beispiele dafür kommen aus der Klinik: Wenn bestimmte Strukturen des Gehirns zerstört werden, sind die Patienten nicht mehr in der Lage, ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Bereiche ihrer Wahrnehmungswelt zu richten. Häufig betrifft das dann Körperregionen oder einen Teil des Gesichtsfeldes. Das Gleiche kennen wir aus Tierversuchen. Wenn bestimmte Hirnstrukturen vorübergehend inaktiviert werden – durch Kühlung zum Beispiel – kommt es zu Aufmerksamkeitsdefiziten, die zu den gleichen Verhaltensänderungen führen wie beim Menschen. Auf diese Weise lässt sich eine direkte Ursache-Wirkung-Beziehung herstellen.
Spektrum: Sie kennen also die materielle Ursache des Erlebens?
Singer: In diesem Fall kennen wir die materielle Ursache für das Vermögen, Aufmerksamkeit auf bestimmte Inhalte zu richten – und daraus folgend für das Vermögen, diese Inhalte "bewusst" wahrzunehmen, im Gedächtnis abzuspeichern, sich daran zu erinnern.
Spektrum: Damit haben Sie eine von vielen Ursachen für ein bestimmtes Erleben identifiziert.
Singer: Richtig. Im Fall der Aufmerksamkeit gelingt das schon recht gut. Im Hinblick auf das Bewusstsein kann man zumindest angeben, welche Strukturen intakt sein müssen, damit Bewusstsein überhaupt möglich ist. Was uns noch schwer fällt, ist, das neuronale Korrelat für Bewusstsein an sich zu identifizieren. Wir wissen noch nicht, wie die Repräsentation der Inhalte des Bewusstseins im Gehirn organisiert ist. Das muss irgendein verteilter Zustand sein, der sich jedoch unseren analytischen Möglichkeiten noch entzieht. Ein singuläres Zentrum, in dem das Bewusstsein zu lokalisieren wäre, gibt es jedoch mit Sicherheit nicht.
Spektrum: In welcher Beziehung stehen denn nun Aufmerksamkeit und freier Wille? Meine Aufmerksamkeit kann ich doch frei lenken, oder?
Singer: Jetzt fragen Sie, ob ich meine Aufmerksamkeit über meinen so genannten freien Willen von A nach B lenken kann, oder ob sich meine Aufmerksamkeit nicht vielmehr – einem sich selbst organisierenden Prozess folgend – auf auffällige Strukturen richtet. Ganz sicher tut sie das ja, wenn äußere Reize meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wenn ich beispielsweise einen lauten Knall hinter mir höre, werfe ich "unwillkürlich" den Kopf herum, um zu sehen, was passiert ist.
Spektrum: Ich kann mich doch auch freiwillig – ohne vorhergehenden äußeren Reiz – nach hinten umdrehen.
Singer: Die Frage ist, wie "frei" Ihr Handeln dabei tatsächlich ist.
Spektrum: Ich kann meinen Blick beliebig durch Ihr Büro schweifen lassen und empfinde mich dabei durch nichts Äußeres veranlasst ...
Singer: Halt, nicht so schnell! Sie beschreiben die Dinge jetzt wieder aus der Erste-Person-Perspektive. Aber auch bei Ihrer scheinbar "freien" Änderung der Blickrichtung – ohne vorherigen Knall im Hintergrund –, bei der Entscheidung "von innen heraus", folgen Sie ja wieder Zuständen, die vom Gehirn zuvor erzeugt wurden – nur diesmal nicht infolge eines äußeren Reizes. In diesem Fall werden die Attraktoren, die Ihre Aufmerksamkeit lenken, von innen heraus erzeugt, als Folge der sich ständig wandelnden Zustände Ihres Gehirns.
Spektrum: Bin ich dann sozusagen immer nur das Opfer meiner Gehirnzustände? Und ist das Gehirn oder sein momentaner Zustand denn nicht irgendwie auch Teil meines Selbst?
Singer: Auch wenn das Gehirn scheinbar nichts tut, ist es stets damit beschäftigt, Inhalte zu ordnen, Bezüge herzustellen, Lösungen zu finden, Modelle zu entwerfen, sogar wenn Sie schlafen. Sie werden jedoch nur eines kleinen Teils dieser Arbeit gewahr. Ins Bewusstsein gelangt nur das Wenige, auf das Sie Ihre Aufmerksamkeit lenken können. Manche Vorgänge können wir sogar nie ins Bewusstsein heben. Denken Sie zum Beispiel an vegetative Kontrollfunktionen der Nierentätigkeit!
Spektrum: Können wir denn zwischen dem Gehirn und der erkennenden Person überhaupt so penibel trennen?
Singer: Das genau ist der Sprung zwischen den zwei Beschreibungssystemen.
Spektrum: Aber das Ich-Erlebnis wird ja vom Gehirn "gemacht", ist insofern Bestandteil der Aktivität des Gehirns. Trotzdem erlebe ich mich als getrennt von der Aktion meines Gehirns, die ich nur sehr marginal verstehe.
Singer: Und deshalb denke ich, dass das Problem des "freien Willens" daher rührt, dass wir Kulturwesen sind, Wesen mit Gehirnen, die uns in die Lage versetzt haben, eine Theorie des Geistes zu erstellen und damit kulturelle Konstrukte und soziale Realitäten aufzubauen, die für uns dann wiederum als Realitäten erfahrbar werden.
Spektrum: Ist denn das Erlebnis, sich frei für dieses oder jenes entscheiden zu können, nur ein soziales Konstrukt? Ist es nur tradiert? Haben es die frühen Menschen einmal irgendwie entwickelt, und ab dann ist es immer nur noch von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben worden?
Singer: So würde ich das sehen.
Spektrum: Dann wäre es denkbar, dass es irgendwo eine isolierte Menschengruppe gibt, die Vorstellungen ganz anderer Art entwickelt und tradiert hat und dass diese auch stabil sind.
Singer: Vermutlich ja. Denken Sie daran, wie in bestimmten Religionsgemeinschaften Handlungsmotive erklärt wurden oder werden: Menschen empfinden sich als "gelenkt" und schreiben die Initiative für ihr Handeln nicht sich selbst zu, sondern einer Gottheit.
Spektrum: Es könnte auch ein Teufel sein. Wir kennen ja den Begriff der Besessenheit.
Singer: Es könnte auch ein Teufel sein. Solche Zuschreibungen finden wir in unserer eigenen Kulturgeschichte. Und wir wissen aus der Psychopathologie, was passiert, wenn ein Konstrukt wie der freie Wille zusammenbricht. Bei bestimmten Schizophrenie-Formen ist es gerade ein Leitsymptom, dass sich Patienten nicht mehr "frei" fühlen können. Sie empfinden sich als "gelenkt". "Es" spricht zu ihnen und befiehlt, obwohl dieses "Es" Teil ihres Selbst ist. Mit Hilfe der funktionellen Kernspintomografie lässt sich zeigen, dass es bei diesen Patienten zu abnormen Aktivitätsverteilungen in der Hirnrinde kommt. Das halluzinierende Gehirn erzeugt selbst Aktivitätsmuster, die es als von außen kommend und es lenkend wahrnimmt.
Spektrum: Kommen wir noch einmal auf unsere Ausgangsfrage zurück! Sie würden also ebenfalls behaupten, dass der "freie Wille" lediglich eine Illusion ist, oder?
Singer: Ich würde mich auf die Position zurückziehen, dass es zwei voneinander getrennte Erfahrungsbereiche gibt, in denen Wirklichkeiten dieser Welt zur Abbildung kommen. Wir kennen den naturwissenschaftlichen Bereich, der aus der Dritte-Person-Perspektive erschlossen wird, und den soziokulturellen, in dem sinnhafte Zuschreibungen diskutiert werden: Wertesysteme, soziale Realitäten, die nur in der Erste-Person-Perspektive erfahrbar und darstellbar sind. Dass die Inhalte des einen Bereichs aus den Prozessen des anderen hervorgehen, muss ein Neurobiologe als gegeben annehmen. Insofern muss, aus der Dritte-Person-Perspektive betrachtet, das, was die Erste-Person-Perspektive als freien Willen beschreibt, als Illusion definiert werden. Aber "Illusion" ist, glaube ich, nicht das richtige Wort, denn wir erfahren uns ja tatsächlich als frei.
Spektrum: Wie real ist unsere Freiheit denn nun?
Singer: Sie ist als Erfahrung real. Ich habe beispielsweise gerade jetzt das Gefühl, dass ich auch aufstehen könnte. Ich tue es aber aus bestimmten Gründen nicht. Beim freien Willen ist es doch so, dass wohl fast alle Menschen unseres Kulturkreises die Erfahrung teilen, wir hätten ihn. Solcher Konsens gilt im Allgemeinen als hinreichend, einen Sachverhalt als zutreffend zu beurteilen. Genauso zutreffend ist aber die konsensfähige Feststellung der Neurobiologen, dass alle Prozesse im Gehirn deterministisch sind und Ursache für eine jegliche Handlung der unmittelbar vorangehende Gesamtzustand des Gehirns ist. Falls es darüber hinaus noch Einflüsse des Zufalls gibt, etwa durch thermisches Rauschen, dann wird die je folgende Handlung etwas unbestimmter, aber dadurch noch nicht dem "freien Willen" unterworfen.
Spektrum: Was sind die Konsequenzen dieser Vorstellungen? Wenn sich einmal Ihre Erkenntnis durchsetzt, der freie Wille sei nur in der Erste-Person-Perspektive real, aus Sicht der Naturwissenschaft jedoch nicht existent: Was wird sich in unserem Leben, in unserer Gesellschaft ändern, wenn der Uraltgedanke, die Menschen könnten ihre Entscheidungen "frei" treffen, sich als hinfällig erweist? Können wir dann niemanden mehr zur Verantwortung ziehen?
Singer: Ich glaube, dass sich an der Art, wie wir miteinander umgehen, nicht sehr viel ändern würde, wenn wir der naturwissenschaftlichen Sichtweise mehr Bedeutung zumäßen. Wir würden allerdings – und das wäre erfreulich – vermutlich ein wenig toleranter werden, nachsichtiger, verständnisvoller. Wir würden nicht so schnell aburteilen.
Spektrum: Was sollte uns da nachsichtiger machen?
Singer: Die gleiche Überlegung, die uns gegenüber Epileptikern und Schizophrenen nachsichtig gemacht hat. Als wir jene noch als vom Teufel besessen angesehen haben, haben wir sie ausgegrenzt, verurteilt und sind nicht sehr zimperlich mit ihnen umgegangen. Als wir dann begriffen haben, dass sie krank sind, haben wir zwar immer noch versucht, sie vor sich selbst zu schützen – oder uns vor ihnen, wenn sie für uns gefährlich wurden. Aber wir gehen wegen der Einsicht in die Bedingtheit ihres Verhaltens nun wesentlich humaner mit ihnen um. Wir haben sie als Opfer verstanden, die für ihre Handlungen nichts können. Ähnlich könnte ich mir vorstellen, dass unser Umgang mit Menschen, die wir heute als "Kriminelle" bezeichnen, verständnisvoller werden könnte – ohne dass sich allerdings unser Strafvollzug grundlegend änderte.
Spektrum: Wie meinen Sie das denn?
Singer: Nehmen wir einmal an, es gebe jemanden, der eine sehr niedrige Tötungsschwelle hat, aus welchen Gründen auch immer – genetisch bedingt, durch die Umwelt bedingt – spielt in diesem Fall gar keine Rolle. Aus einem nichtigen Anlass mordet dieser Jemand. Dann folgt für uns aus dem neuen Modell: Die fragliche Person ist für die Gesellschaft extrem gefährlich, weil sie ihre Tat bei jedem vergleichbaren Anlass immer wieder begehen könnte. Also muss man sich vor ihr schützen. Ich muss den Betreffenden also zunächst einmal daran hindern, dass er seine Tat wiederholen kann und zweitens versuchen, ihn durch erzieherische Maßnahmen, durch Verhaltensbeeinflussung, zum Besseren hin zu bewegen. Ich muss daran arbeiten, diejenigen Attraktoren in seinem Gehirn zu stärken, die die fragliche Tötungsschwelle höher setzten. Wir würden Straftäter also wegsperren und bestimmten Erziehungsprogrammen unterwerfen, die durchaus auch Sanktionen einschließen. Wir wissen doch, dass Erziehung sowohl der Belohnung als auch der Sanktionen bedarf. Mit anderen Worten: Wir würden hübsch das Gleiche tun wie jetzt auch schon. Allein die Betrachtungsweise hätte sich geändert.
Spektrum: Aus ihren Erfahrungen als Verhaltensforscher schöpfen Sie also ein optimistischeres Bild, was die Formbarkeit von Menschen anbelangt.
Singer: Ich räume dieser Formbarkeit einen sehr großen Raum ein. Ich bin der festen Überzeugung, dass die wichtigsten Berufe in unserer Gesellschaft die von Eltern und Erziehern sind, jenen, die die Aufgabe haben, Verhaltensweisen und kulturelle Weisheiten in die nächste Generation zu übertragen. Und die dafür sorgen, dass Erfahrungen, die zu Friedfertigkeit ermuntern und für humanes Zusammenleben notwendig sind, auch so installiert werden, dass sie handlungsrelevant werden. Ich messe dieser Tradierung kultureller Inhalte einen enormen Einfluss bei. Nichts ist wichtiger als der erzieherische Prägungsprozess unserer Kinder.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2001, Seite 72
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