Psychologie: Interview: 'Ich möchte gern ein Tiger sein, weil ...'
Zur Problematik projektiver Tests befragte "Spektrum der Wissenschaft" Prof. Dr. Manfred Amelang vom Lehrstuhl für Differenzielle Psychologie und Psychologische Diagnostik der Universität Heidelberg.
Spektrum der Wissenschaft: Herr Professor Amelang, wer sich heutzutage um eine Führungsposition bewirbt, findet sich oft vor einer Reihe von Tintenklecksen wieder. Warum setzen viele Betriebspsychologen auf den Rorschach-Test oder vergleichbare Verfahren?
Amelang: Vor allem, weil die Grundidee so unmittelbar einleuchtet. Bei so wenigen Vorgaben der Aufgabenstellung muss – so die Theorie – das Unbewusste doch einfach aktiv werden, die Antworten und Reaktionen spiegeln nach Ansicht der Protagonisten deshalb die seelischen Abgründe des Bewerbers. Zudem kann der sich auch kaum auf den Test einstellen, sofern er ihn nicht schon kennt. Fragt man ihn hingegen direkt – sehr vereinfacht etwa "Sind Sie aggressiv? Sind Sie motiviert?" – kann sich der Bewerber natürlich viel besser ins rechte Licht setzen.
Spektrum: In den Vereinigten Staaten sind diese Tests nun in Verruf geraten. Eine Metastudie legt den Schluss nahe, sie seien wenig verlässlich und nicht valide. Gibt es in Deutschland ähnliche Vorbehalte?
Amelang: Nun, ich würde sagen, die gibt es weltweit. Und sie sind keineswegs neu. Schon Anfang der sechziger Jahre publizierte der Psychologe Hans Hörmann von der Ruhr-Universität Bochum eine exzellente Analyse zu diesem Thema, der aus meiner Sicht auch heute nichts hinzuzufügen ist. Seine Metastudie verwertete übrigens Untersuchungen, die teilweise noch zwanzig oder vierzig Jahre älter waren.
Spektrum: Dann ist es allerdings kaum zu verstehen, warum diese Verfahren noch in Gebrauch sind, zumindest wohl in den Vereinigten Staaten?
Amelang: Die Idee ist halt so vielversprechend. Sie stammt letztlich aus der Psychoanalyse. Rorschach hat seinen Test entwickelt, um ihn in der Therapie einzusetzen. Analytiker machen ja im Grunde auch nichts anderes, als aus den Äußerungen ihrer Patienten ein Bild der Persönlichkeit zusammenzusetzen. Projektive Tests sollen das Verfahren sozusagen abkürzen.
Spektrum: Und was stimmt an dieser Idee nicht?
Amelang: In der Therapie genügt es, dass sich der Patient in dem entworfenen Bild wiedererkennt, sich verstehen lernt und der Prozess so heilsam wirkt. Am Ende eines Persönlichkeitstests sollen aber objektive Informationen für Dritte stehen. Und das gelingt nicht, und dies ist in den Verfahren angelegt.
Spektrum: Projektive Tests sind per se nicht zuverlässig?
Amelang: Richtig, denn Zuverlässigkeit erfordert, dass bei einer Testwiederholung die gleichen Ergebnisse herauskommen. Projektive Verfahren funktionieren aber nur dann, wenn der Proband sie noch nicht kennt. Ein weiteres Kriterium für Zuverlässigkeit wäre, die Konsistenz innerhalb einer Untersuchung durch vergleichbare Items zu erheben. Das kennen Sie sicher von Fragebögen: Einmal heißt es "Fühlen Sie sich zu dick?" und etwas später "Fühlen Sie sich zu dünn?". Wenn Sie beide Male "Ja" ankreuzen, sind Ihre Antworten vermutlich insgesamt nicht viel wert. Aber so ein Konsistenz-Check klappt auch nicht, denn die Items der projektiven Tests – also beispielsweise die verschiedenen Tintenklecksbilder – sind viel zu heterogen.
Spektrum: Sie erwähnten ein zweites Kriterium?
Amelang: Die Validität, also die Gewähr, dass die Verfahren wirklich das messen, was sie vorgeben zu tun. Leider genügen die Verfahren auch hier nicht den strengen Kriterien der wissenschaftlichen Diagnostik. Dazu müsste man die Ergebnisse mit denen an-derer Tests, die das Gleiche messen und nachweislich valide sind, anhand von Indikatoren vergleichen können. Weil die projektiven Verfahren aber die einzigen sind, die für sich reklamieren, das Unbewusste zu messen, ist ein solcher Vergleich nicht möglich. So bleiben die Protagonisten unter sich.
Spektrum: Gibt es nicht wenigstens Vergleiche der projektiven Verfahren untereinander?
Amelang: Selbst dazu sind die einzelnen Tests zu unterschiedlich. Nein, es hilft nichts, projektive Verfahren stehen außerhalb der wissenschaftlichen Kriterien psychologischer Diagnostik.
Spektrum: Ketzerisch gefragt – könnte das nicht ein Problem der Wissenschaft sein? Könnten diese Verfahren nicht trotzdem funktionieren, auch wenn es keinerlei Möglichkeit gibt, das zu beweisen?
Amelang: Das wäre schön, aber dazu fehlt noch viel. Beispielsweise gibt es einfach zu viel Subjektivität. Legen Sie zwei unabhängigen Auswertern die gleichen Antworten und Reaktionen vor, und Sie erhalten mit einer Chance von fünfzig Prozent verschiedene Interpretationen. Und das ist kein Wunder, denn diese Antworten sind ja auch nicht eindeutig und sofort interpretierbar. Wenn ich etwa ein Kind bitte, den Satz "Ich möchte gern ein Tiger sein, weil ..." zu vervollständigen, und es antwortet: "Weil ein Tiger so gut beißen kann!", dann ist das natürlich ein Hinweis auf Aggression. Aber ist das ein für das Kind gesundes Potenzial? Hat es ein Problem damit, aggressiv zu sein? Oder wünschte es sich nur, es wäre aggressiver, um sich in der Klasse besser durchzusetzen? Oder, oder, oder.
Spektrum: Was bleibt denn dann für einen Psychologen übrig, um zum Beispiel das soziale Vermögen von Jugendlichen einzuschätzen?
Amelang: Es gibt für solche Fragestellungen leider keine validen und reliablen Tests. Gespräche, Rollenspiele und Befragungen von Angehörigen lassen sich nicht durch Rorschach oder TAT ersetzen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2002, Seite 76
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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