Gesellschaft: Interview: "Im strengen Sinne haben Sklaven nicht einmal Verwandte"
Wie verändert sich eine Gesellschaft, wenn die traditionelle Sklavenhaltung verboten wird? Im Rahmen seiner Promotion an der Universität Bielefeld ging der Soziologe Urs Peter Ruf dieser Frage in Mauretanien (Westafrika) nach. Dort war erst 1980 die Sklaverei aufgehoben worden.
Spektrum der Wissenschaft: Manche Sklaven kommen nach ihrer Befreiung nur schwer mit dem neuen Leben zurecht, einige ziehen sogar die Abhängigkeit vor. Haben Sie Ähnliches in Mauretanien beobachtet?
Dr. Urs Peter Ruf: Durchaus, aber das ist nur eine Spielart individueller Strategien. Andere kämpfen an ihrem Heimatort um Anerkennung als freie Bürger, wieder andere weichen in die Städte aus.
Spektrum: Welchen Vorteil bringt die Stadt?
Ruf: Anonymität. Sklaven bildeten in Mauretanien eine eigene Bevölkerungsschicht. Ursprünglich stammen die Herren von den Mauren und die Sklaven von Schwarzafrikanern ab. Weil dieses System aber schon viele Jahrhunderte lang existiert, haben sich die Ethnien zwar längst gemischt, doch wer als Sklave geboren wurde, dessen Platz in der Gesellschaft war definiert. Noch heute gelten ehemalige Sklaven und deren Nachkommen als Menschen zweiter Klasse. Besonders in kleinen dörflichen und nomadischen Gemeinschaften auf dem Land, wo jeder jeden kennt, ist es schwer, diesem sozialen Stigma zu entkommen.
Spektrum: Was hat sich für die ehemaligen Sklaven überhaupt verbessert?
Ruf: Unter anderem gibt es jetzt eine andere Rechtsgrundlage bei Streitigkeiten zwischen ehemaligen Herren und Sklaven. Ein wichtiges Thema ist dabei der Landbesitz. Machte ein Sklave ein Stück Land urbar, hätte es ihm nach unserem Rechtsverständnis eigentlich gehören müssen. Doch nur Herren besaßen Land, und da ihnen auch die Sklaven gehörten, konnten sie auch deren Anbauflächen beanspruchen. Wenn der Nachkomme eines Sklaven ein solches Stück Land heute als Eigentum fordert, hat er vor Gericht wenigstens eine Chance. Sicher ist ihm der Erfolg allerdings noch immer nicht.
Spektrum: Dass Sklaven ein Stück Land für den Eigenbedarf bearbeiten durften, bedeutet wohl, dass es schon früher Freiräume gab?
Ruf: Es gab sogar eigenständige religiöse Praktiken innerhalb des islamischen Glaubens. Aber der Besitz von Boden hatte mehr als nur symbolische Bedeutung. Bei der großen Dürre in der Sahel-Zone zu Beginn der 1970er Jahre verloren vor allem kleinere maurische Haushalte mit nur wenigen Sklaven ihren Viehbestand. Wir reden da von siebzig bis achtzig Prozent der Landbevölkerung. Diese Herren vermochten ihre Leibeigenen nicht mehr so zu versorgen wie bis dahin üblich. Gleichzeitig gewann der Ackerbau, den vor allem die Sklaven betrieben, an Bedeutung. Das gab ihnen Auftrieb. Einige widersetzten sich sogar, als man ihnen dieses Land absprach. Letztlich waren es gesellschaftliche Entwicklungen wie diese, denen eine reformwillige Regierung 1980 mit der Aufhebung der Sklaverei endlich Rechnung trug.
Spektrum: Ihr Kollege Kevin Bales glaubt aber an einige hunderttausend Sklaven auch im heutigen Mauretanien. Wie passt das zur aktuellen Rechtslage?
Ruf: Es ist ein bisschen Definitionssache. Im strengen Sinne haben Sklaven nicht einmal Verwandte – sie sind Besitz, und Söhne, Töchter und so weiter sind einfach wieder Besitz des Sklavenhalters. Bales und internationale Organisationen fassen den Begriff etwas weiter im Sinne vollständiger Ausbeutung des Menschen. Während es heute nur vereinzelt Sklaven im "klassischen" Sinne gibt, wächst aber diese exzessive Ausbeutung. Und in diesem erweiterten Sinne bedeuten seine Zahlen eher eine untere Grenze.
Spektrum: Wer profitiert von dieser neuen Sklaverei?
Ruf: Es sind heute vor allem die wenigen Reichen in diesem so armen Staat, die sich Menschenbesitz leisten können und damit Gewinne erwirtschaften. Da gibt es beispielsweise Bewässerungsprojekte, gefördert mit Entwicklungsgeldern – auch europäischen. Diese Projekte sollten eigentlich jedem kleinen Bauern eine Parzelle in einem fruchtbaren Gebiet sichern. Realität ist jedoch, dass eine kleine gesellschaftliche Elite es verstanden hat, diese Landrechte weitgehend zu kontrollieren, und über Schuldknechtschaft und andere Methoden auch die Menschen dazu de facto in ihren Besitz zu bringen. Von einer egalitären Gesellschaft ist Mauretanien noch weit entfernt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 30
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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