Sterben: »Nach drei Minuten setzt sich eine riesige Welle in Gang«
Herr Dreier, Sie erforschen das Gehirn zwischen Leben und Tod. Wie, glauben Sie, fühlt es sich an zu sterben?
Das hängt natürlich stark davon ab, warum man stirbt. Haben wir keine Schmerzen, merken wir den Übergang vielleicht gar nicht. Möglicherweise ist es dann so wie beim Einschlafen. Oder wir besitzen noch eine Art Bewusstsein und befinden uns vorübergehend in einem traumähnlichen Zustand, den wir aber für die Wirklichkeit halten. Das wäre so etwas wie eine Nahtoderfahrung.
Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es zum Todeserleben?
Unser Wissen dazu basiert ausschließlich auf Interviews: Menschen, die dem Tod nur knapp entgangen sind, etwa weil sie reanimiert wurden, berichten von ihren Erlebnissen. Allerdings haben nur die wenigsten solche Erinnerungen, weshalb die Datenlage relativ dünn ist. In der Forschung gibt es Skalen, anhand derer man bestimmt, ob etwas eine Nahtoderfahrung war oder nicht. Ich finde das jedoch nicht ganz unproblematisch, weil die Erlebnisse nur bedingt standardisierbar sind. Wenn jemand von seinen Erfahrungen berichtet, sollte man das meiner Meinung nach erst einmal so zur Kenntnis nehmen.
ist Professor am Zentrum für Schlaganfallforschung Berlin (CSB) und Oberarzt der Neurologischen Klinik der Charité. Seine Arbeitsgruppe erforscht unter anderem Schlaganfälle, die nach einer bestimmten Form von Hirnblutung, der Subarachnoidalblutung, auftreten. Die Untersuchungen sind Teil der internationalen Co-Operative Studies on Brain Injury Depolarizations (COSBID) und beschäftigen sich mit so genannten Spreading Depolarizations – großen Aktivitätswellen, die bei verschiedenen Hirnerkrankungen, aber auch beim Sterben entstehen.
Was sind typische Nahtoderfahrungen?
Es gibt einige wiederkehrende Muster, etwa das Gefühl, sich gleichzeitig in verschiedenen Epochen und an verschiedenen Orten zu befinden. Häufig entstehen auch abstrakte Sinneseindrücke, zum Beispiel ein helles Licht oder eine Verengung des Sichtfelds – als würde man durch einen Tunnel laufen. Manche erzählen zudem von außerkörperlichen Erfahrungen.
Vergleichbare Empfindungen treten manchmal in völlig anderen Situationen auf.
Ja, ganz selten passiert das beispielsweise während chirurgischer Operationen. Ein Patient befindet sich in Narkose, und es tritt eine kritische Situation ein, etwa ein Kreislaufzusammenbruch. Einige berichten anschließend von Nahtoderfahrungen. Aber auch in nicht lebensbedrohlichen Situationen kann das vorkommen.
Zum Beispiel?
Sie sitzen im Opernhaus und hören einer Arie zu. Plötzlich driften Sie in Träume ab, die Sie jedoch als real erleben. Experten nennen dieses Phänomen REM-Intrusion. Dabei handelt es sich um eine in eine Wachphase eingebettete Schlafphase, die man selbst nicht als solche wahrnimmt. Besonders häufig passiert das beim Krankheitsbild der Narkolepsie.
Dennoch spricht man hier von Nahtoderlebnis?
Es gibt ein Set von sich ähnelnden Erfahrungen, die über Skalen definiert sind, jedoch in unterschiedlichen Kontexten auftreten können. Nur bei Reanimationen kommen sie wirklich gehäuft vor. Deshalb spricht man meist von Nahtoderlebnissen, wenn man diese Bewusstseinszustände meint. Das ganze Feld hat einen anekdotischen Charakter, was den wissenschaftlichen Zugang dazu erschwert. Aber die Fülle an Berichten deutet darauf hin, dass es solche Erfahrungen wirklich gibt. Sie kommen übrigens auch in verschiedenen Kulturen vor und hängen nicht von bestimmten Religionen ab. All das lässt auf ihre Existenz schließen.
Besser untersucht sind die physiologischen Vorgänge während des Sterbens. Was passiert dabei im Gehirn?
Nehmen wir mal den einfachsten Fall: Jemand erleidet einen Herz-Kreislauf-Stillstand ...
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