ISS: Wissenschaftsforschung für das 21. Jahrhundert
In diesem Herbst werden die ersten Teile der Internationalen Raumstation ISS (International Space Station) in eine Erdumlaufbahm gebracht und dort montiert. Das Bauwerk mit den Ausmaßen eines Sportstadions, an dem 15 Staaten beteiligt sind, ist das größte internationale technische Gemeinschaftsprojekt in der Geschichte der Menschheit – und für Gesellschaft, Wissenschaft, Technologie und Weltpolitik von epochaler Bedeutung. In diesem Projekt befassen wir uns mit vorrangigen Dingen: Es geht um Leben und Lebensqualität auf der Erde, um die Befreiung von althergebrachten Methoden des Business as usual in Forschung und Entwicklung und um technologische Wettbewerbsfähigkeit. Das Projekt beflügelt den Unterricht an Schulen und Universitäten, regt das Wirtschaftswachstum an und schafft Arbeitsplätze. Es betrifft politische Bindungen, Weltfrieden und Welteinheit. Das Wichtigste, wie ich es sehe, ist die Erfüllung eines alten Science-fiction-Traums: Im Kleinen repräsentiert ISS eine Prototyp-Weltgemeinschaft, eine Orbitversion von Floridas Epcot-Zentrum, eine Art Vereinte Nationen des Weltraums.
Die Internationale Raumstation als neuer Standort im All ermöglicht es, innovative Technologien zwei- bis fünfmal schneller als bisher zu entwickeln und zu prüfen; und unter den speziellen Umgebungsbedingungen der Mikrogravitation wird sich Neues für neue Märkte demonstrieren lassen. Für die Biotechnologie, die Metallverarbeitung, die Polymer-Werkstofftechnik, die Erforschung thermophysikalischer Prozesse sowie die Entwicklung von Faser-Optiken ergeben sich dadurch neuartige Möglichkeiten, die zu zahlreichen High-Tech-Produkten führen werden. Als vielseitiges Forschungsinstitut wird die Station zudem den Lebenswissenschaften dienen. So sind vor allem zell- und molekularbiologische Experimente sowie Untersuchungen zur Physiologie, zum Verhalten und zur Leistungsfähigkeit, zur Strahlungswirkung und zu verschiedenen Umweltfaktoren vorgesehen. Ferner wird es eine Vielzahl chemischer und physikalischer Experimente geben, mit denen zum Beispiel das Kristallwachstum, die Verbrennung, das Verhalten von Flüssigkeiten, Materiezustände bei tiefen Temperaturen und die Herstellung elektronischer Werkstoffe erforscht werden.
Auch außerhalb der Forschung bietet die Station vielfältigen Nutzen. Für die Wissenschaften aber ist sie deshalb so bedeutsam, weil wir mit ihr auf völlig unkonventionelle Weise in Wissen investieren, das wir heute noch nicht haben. Zwar können wir die Ergebnisse der Forschungen an Bord nicht vorhersagen; doch zweifellos würde man ohne sie weniger wissen und sich mögliche Lösungen für die komplexen Probleme, die uns zunehmend beschäftigen werden, vorenthalten. Die Internationale Raumstation ist für die Wissenschaft ein strategisches Instrument, das die Grenzen der Forschung auf der Erde überschreiten kann.
Wir haben zwei grundlegende Lektionen aus der Geschichte der Raumfahrt gelernt. Erstens können wir die Mikrogravitation zu unserem Vorteil nutzen, und zweitens ist die Schwerkraft eine weitere Forschungsvariable, die sich untersuchen und manipulieren läßt. Was freilich in der Vergangenheit der Weltraumforschung gefehlt hat, ist vor allem Zeit, also eine längere, ununterbrochene Verweildauer unter Bedingungen der Mikrogravitation. Ebenfalls mangelte es an essentiellen Ressourcen wie Raum, Energie, Kühlung oder Heizung sowie an vielseitigen und flexiblen Instrumenten. Des weiteren war die Aufenthaltsdauer von Astronauten im Erdorbit beschränkt.
Mit sechs umfassend ausgerüsteten Laboratoriumsmodulen wird die ISS der Forschung fast viermal mehr umschlossenen Wohn- und Werkraum bieten als die russische Station Mir. Sie wird über modernste Instrumente für wissenschaftliche, technische und kommerzielle Experimente verfügen und den permanenten Aufenthalt von sieben hochtrainierten Besatzungsmitgliedern erlauben. Der Forschung werden exzellente Rahmenbedingungen zur Verfügung stehen: 110 Kilowatt elektrische Energie (im Jahresdurchschnitt: 30 Kilowatt), normaler Luftdruck von einer Atmosphäre, 33 Geräteschränke für die Benutzer, 14 Experimentplätze im Freien, ein hochwertiges Außenfenster für optische Messungen von innen, eine Bordzentrifuge, jährlich sechs bis acht Perioden Mikroschwerkraft von jeweils 30 Tagen Dauer sowie eine Datenübertragungsrate zur Erde von 1,5 bis 2,46 Terabits pro Tag.
Besondere Berücksichtigung findet die klinische und medizinische Forschung. Ihr kann die Mikrogravitation zu wesentlichen Durchbrüchen verhelfen. Zum Beispiel sind immunologische Untersuchungen zur Entwicklung von Behandlungs-, Bekämpfungs- und Verhütungsmethoden von Krebs geplant. Langzeitmissionen gestatten wichtige Experimente zur Entwicklungsbiologie, Zellentechnik und Physiologie, in denen die Auswirkungen der Mikrogravitation auf Immunität gegenüber Infektionen und Krebserkrankungen, auf Organtransplant-Abstoßung und auf die Entwicklung von AIDS untersucht wird, und die neue Verfahren und Therapien hervorbringen könnten.
"Bessere Gesundheitsfürsorge für unsere Bürger steht nicht im Gegensatz zu einer Raumstation", erklärte der bekannte Herzchirurg Michael DeBakey vom Baylor College of Medicine in Houston (Texas) den Abgeordneten des US-Kongresses, und er merkte an: "Als Arzt, Lehrer und Forscher muß ich hervorheben, daß unser Raumfahrtprogramm und die Raumstation keine frivole Verschwendung darstellen, denn sie können dazu beitragen, einige der verzwicktesten Probleme unserer Bürger zu lösen." Die Raumstation sei ebensowenig ein Luxus wie ein medizinisches Forschungszentrum an seiner Hochschule in Houston. Der bisher bei den Shuttle-Flügen auf maximal zwei Wochen begrenzte Laborbetrieb reiche einfach nicht aus; von einem irdischen Labor würde schließlich auch niemand erwarten, daß die Forschung dort innerhalb weniger Stunden ein Mittel gegen Krebs finden könne. Nach DeBakeys Ansicht wären auch im Weltraum monate- oder jahrelange Einsätze erforderlich, um hierzu neue Resultate und Erkenntnisschübe zu gewinnen.
Diese Möglichkeit bietet die Raumstation. Denton Cooley vom Texas Heart Institute präzisierte: "Die Versorgung von Patienten mit Herzleiden in den USA hat 1992 rund 109 Milliarden Dollar gekostet – im Durchschnitt 450 Dollar je Mann, Frau und Kind. Herzleiden sind die hauptsächliche Todesursache in Amerika, und das Raumfahrtprogramm hat bereits Wesentliches geleistet, um sie besser behandeln zu können. Herzschrittmacher, Defibrillatoren, einpflanzbare Medikationspumpen und tragbare Elektrokardiographen entstammen alle der Raumfahrtforschung der NASA auf dem Gebiet der Elektronik und Miniaturisierung. Ich kann mit Zuversicht voraussagen, daß eine direkte Technologiebeteiligung der medizinischen Gemeinschaft sowohl dieser als auch der NASA helfen wird. Die wirklichen Nutznießer sind jedoch die Patienten und der Steuerzahler."
Für den Nutzen medizinischer Forschung im Weltraum gibt es bereits vielfältige Beispiele. So hat man in Vorversuchen an Bord des Space Shuttle bereits Proteinkristalle gezüchtet, um AIDS, Diabetes, Krebs, rheumatische Arthritis und Emphysema zu erforschen. Dabei zeigte sich, daß die Experimentierzeiten allesamt länger sein müssen, als bei den Shuttle-Missionen möglich.
Unter dem Einfluß der Schwerkraft auf der Erde neigen Kristalle von Proteinen wegen Konvektionserscheinungen zu Fehlstellen in ihrer Struktur. Hingegen sind unter Mikrogravitation gezüchtete Kristalle gewöhnlich größer, besser ausgeformt und homogener; somit lassen sich ihre räumlichen molekularen Strukturen umfassender und genauer analysieren. Die Pharma-Industrie vermag mit den im Weltraum erzielten Resultaten dann Wirkstoffe sozusagen maßgeschneidert zu entwickeln: Mit der richtigen Paßform und Atomverteilung können sie Schlüsselstellen an Proteinen im Organismus besetzen und dadurch beispielsweise verhindern, daß natürliche Signalstoffe dort ihre Wirkung entfalten.
Der ehemalige Astronaut Lawrence DeLucas, heute Direktor des Mikro-G-Entwicklungszentrums an der Universität von Alabama in Birmingham, hat sich auf die Züchtung von Proteinkristallen im All spezialisiert. Bereits unter den Einschränkungen der Shuttle-Missionen konnte er Kristalle gewinnen, mit deren Hilfe sich die Schlüsselstellen von Proteinen identifizieren ließen, die eine Ausbreitung von Grippe-Viren im Körper begünstigen. Inzwischen vermochte man einen Wirkstoff zu konstruieren, dessen Moleküle an diesen Stellen andocken und die Ausbreitung blockieren.
Andere bereits im All kristallisierte Proteine sind Gamma-Interferon (für die Antiviralforschung und zur Behandlung bestimmter Krebsarten), Elastase (die bei Emphysema-Patienten eine Schlüsselrolle in der Zerstörung von Lungengewebe spielt), malisches Enzym (wichtig zur Entwicklung antiparasitärer Medikamente), Insulin (zur Behandlung der Zuckerkrankheit), Faktor D (wichtig bei Entzündungen und anderen Immunsystemreaktionen) und das Satelliten-Tabakmosaik-Virus. Es hat sich gezeigt, daß man längere Zeiträume – zwei bis fünf Jahre – benötigt, um solche Proteinkristalle in hochwertiger Form herzustellen; an Bord der ISS kann man sie kontinuierlich fabrizieren und vermessen. Mit den dabei gewonnenen Informationen lassen sich auf der Erde die Kristallstrukturen untersuchen und letztlich die Erkenntnisse aus jedem einzelnen Protein-Projekt für die gezielte Herstellung von Medikamenten nutzen. In der Raumstation können mehrere tausend Kristallisationsexperimente gleichzeitig stattfinden, mit deren Auswertung dann etwa hundert wissenschaftliche Laboratorien in aller Welt beschäftigt sein werden.
Um inter- und intrazellulare Vorgänge bei Erkrankungen besser verstehen und effektiver bekämpfen zu können, ist für die biotechnologische Forschung an Bord ein rotierender Zylinder, ein sogenannter 3-D-Bioreaktor, installiert. Damit können räumliche Zellkulturen hergestellt werden, die natürlich gewachsenen Zellstrukturen ähnlicher sind als solche, die man auf der Erde züchten kann – die Schwerkraft drückt sie nämlich weitgehend platt. Ein Prototyp dieses Geräts wurde von seinem Erfinder, dem NASA-Astronauten David Wolf, bereits an Bord der russischen Raumstation Mir erfolgreich erprobt.
Die Werkstofforschung interessiert sich insbesondere für die grundlegenden Mechanismen der graduellen Erstarrung geschmolzener Metalle und Legierungen. Auf mikroskopischer Ebene zeigen sich dabei sogenannte Dendriten, tannenbaumartige Auswüchse bereits verfestigten Materials in der Schmelze. Erfolgt die Erstarrung zu schnell, wachsen die Dendriten zumeist unordentlich-chaotisch; das Metall ist dann recht spröde und somit als Werkstoff von minderem Wert. Unter dem Einfluß der Schwerkraft schichtet sich nun heißes und kühles Metall aufgrund von Dichteunterschieden konvektiv aus, wobei die turbulenten Auftriebsbewegungen das Beobachten der Erstarrung verhindern, zumindest jedoch stören können. Unter Mikrogravitation bleibt das Grenzgebiet zwischen flüssiger und fester Phase dagegen völlig ruhig und ist deshalb besser zu erforschen.
Die Beteiligung Europas am Wissenschaftsbetrieb an Bord der Internationalen Raumstation fällt leider bescheiden aus: Das im Auftrag der europäischen Weltraumbehörde ESA zur Zeit in Italien entstehende Modul Columbus ist mit 6,70 Meter Länge und 4,50 Meter Weite nur etwa halb so groß wie der japanische Beitrag JEM. Zudem wird der europäischen Wissenschaft nur etwa die Hälfte der Columbus-Nutzkapazität – nämlich 51 Prozent – zur Verfügung stehen; den anderen Teil hat man als Einsatz bei geldlosen Handelsgeschäften, sogenannten Bartergeschäften, weggetauscht. Insgesamt beläuft sich Europas Nutzanteil an den ISS-Forschungsressourcen auf 8,3 Prozent; das entspricht seinem Finanzanteil an den jährlichen Betriebskosten der Station. Da auf Deutschland rund 40 Prozent des ESA-Beitrags entfallen, bleibt für die deutsche Forschung an Bord letztlich ein Anteil von etwa 3 Prozent übrig – das liegt nur knapp über dem Anteil Kanadas, entspricht weniger als einem Viertel des japanischen Beitrags und ist für ein auf die Entwicklung von Hochtechnologien angewiesenes Land – zumal unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs – eindeutig zu wenig.
Aber selbst dieser geringe Anteil an der ISS scheint für die Finanzkraft der Bundesrepublik eine große Herausforderung zu sein. Es stellt sich zudem die ungewohnte Anforderung an die Politik, die Forschungsaktivitäten im Weltraum – die realistisch betrachtet zu einem Großteil von der öffentlichen Hand finanziert werden müssen – den internationalen Vereinbarungen gemäß auch über den gesamten ISS-Planungszeitraum von vermutlich zehn bis 15 Betriebsjahren hinweg beständig aufrechtzuerhalten. Das sollte nachdenklich stimmen. Ohne Zweifel ist dafür eine innovationsfreudigere Forschungspolitik vonnöten, als wir sie in den letzten Jahren in Deutschland kennengelernt haben; sie wird sich unter entschlossener Führung auf eine längerfristige Forschungsplanung – und der dafür nötigen Finanzierung – um- und einstellen müssen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1998, Seite 46
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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