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Wissenschaft allgemein: It Must be Beautiful

Great Equations of Modern Science
Granta Books, London / New York 2002. 283 Seiten, $ 25,–


Für viele ist Mathematik ein notwendiges Übel, ein anspruchsvolles Werkzeug für bestimmte Zwecke. Einige der bedeutendsten Wissenschaftler hatten jedoch ein geradezu erotisches Verhältnis zu mathematischen Gleichungen: Die Formeln verliehen ihren Ideen Flügel, ließen sie abheben vom Boden der zeitgenössischen Wahrnehmung und neue Horizonte erobern. "Physikalische Gesetze sollten mathematische Schönheit besitzen", schrieb Paul Dirac einmal in einem Seminar an die Tafel. Albert Einstein und Erwin Schrödinger sahen in der Eleganz einer mathematischen Formulierung durchaus einen weiteren Beleg für ihren Wert.

Dass sich die Phänomene der Natur durch mathematische Gleichungen beschreiben lassen, ist eine moderne Ansicht, die auf Galileo Galilei zurückgeht, schreibt Graham Farmelo. Dem Physiker am Science Museum in London ist es gelungen, einige wirkliche Koryphäen als Autoren zu gewinnen.

Farmelo vergleicht eine gelungene mathematische Formulierung mit einem Gedicht, an dessen Worten sich nichts verändern lässt, ohne alles zu entwerten. Es muss E=mc2 heißen und nicht etwa E=2mc oder E=mc3. Und wenn die berühmte Formel als Logo auf T-Shirts und Plakaten prangt, steht sie nicht in erster Linie für die Äquivalenz von Masse und Energie, die bei der Entwicklung der Atombombe so entscheidend war, sondern mehr für die unkonventionelle Art Einsteins, die inzwischen zur Legende geworden ist.

Natürlich dreht sich mehr als die Hälfte des Buches um Ideen aus der Physik, der mathematischsten der Naturwissenschaften. Die Einstein-Gleichung der Allgemeinen Relativitätstheorie wird von Sir Roger Penrose persönlich vorgestellt und in Grundzügen immerhin erklärt – damit wirklich umzugehen, erfordert ein paar Semester höhere Mathematik. Penrose beginnt mit einer scheinbar einfachen Beobachtung von Galileo Galilei: Im freien Fall herrscht Schwerelosigkeit – doch die wirkliche Konsequenz daraus hat erst Einstein gezogen, indem er feststellte, dass Beschleunigung und Gravitation zwei Seiten derselben Medaille sind. Der Aufsatz von Penrose verlangt dem Leser einiges ab, keine Anekdoten mildern die Beschwerlichkeiten, in die durch Massen gekrümmten Geometrien der Raum-Zeit einzudringen. An der bizarrsten Lösung dieser Gleichung hat der Autor selbst maßgeblich mitgewirkt: den Schwarzen Löchern.

Andere erzählen richtige Geschichten und legen die menschlichen, historischen und physikalischen Verstrickungen dar, aus denen schließlich die neuen Ideen hervorgingen. Beispielhaft gelingt dies Christine Sutton mit einem besonders schwierigen Thema, den Yang-Mills-Gleichungen. Während der kurzen Zeit in den 1950er Jahren, als die Physiker Robert Mills und Chen Ning Yang sich ein Büro teilten, konnte Yang Mills mit seiner fixen Idee anstecken: Was hält die Atomkerne trotz ihrer gleichnamigen Ladungen zusammen? Auch für diese unbekannte Kraft, die starke Wechselwirkung, müssen Erhaltungssätze und Symmetriebedingungen gemäß dem Theorem von Emmy Noether verknüpft sein, mutmaßten sie. Die beiden formulierten mit diesen Überlegungen Gleichungen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Maxwell’- schen Feldgleichungen der Elektrodynamik haben. Die Quantenchromodynamik und zahllose Hochenergie-Experimente sind Früchte dieser Arbeit. Während Yang eine große Karriere machte, geriet Robert Mills bald in Vergessenheit. Ihre Gleichung ist rätselhaft und widerspenstig geblieben und nur scheinbar schlicht. Ihre saubere mathematische Behandlung ist eine der sieben Aufgaben, auf deren Lösung die Clay-Stiftung ein Preisgeld von einer Million Dollar ausgesetzt hat.

Als der Physiker Richard Feynman vor einigen Jahrzehnten über die Frage spekulierte, ob denn in jedem Fall Gleichungen das Mittel der Wahl sein müssen, um die Natur zu beschreiben, war er auf einer richtigen Spur: Spielregeln sind häufig viel besser geeignet, zum Beispiel für viele Fragen der Populationsdynamik und der Evolution.

Über die "Gleichungen des Lebens" schreibt in diesem Buch kein Geringerer als John Maynard Smith. Für ein Lebewesen gibt es oft nicht eine per se perfekte Strategie, erklärt der Doyen der evolutionären Spieltheorie, sondern das optimale Verhalten hängt vom Verhalten der anderen Lebewesen in derselben ökologischen Nische ab. Das Leben ist ein Spiel, in dem es um Gewinne in Form von Nachkommen geht, und dieses Spiel lässt sich mit einfachen Auszahlungstabellen mathematisch grob modellieren. Angreifen oder fliehen, männliche oder weibliche Eier legen, einen Harem kontrollieren oder lieber heimlich die Weibchen von Haremshaltern begatten? Solche Fragen des Lebens lassen sich manchmal einfach ausrechnen – von den theoretischen Biologen. Über die Generationen setzen sich Individuen durch, deren Strategie die meisten Nachkommen produzierte.

Doch mathematische Gleichungen müssen nicht zu einfachen Antworten führen oder gar geschlossen lösbar sein. Der bedeutende Zoologe und Ökologe Lord Robert May zeigt, wie eine schlichte Formel die oft beobachteten unvorhersehbaren und chaotischen Schwankungen in Populationen erklären kann. Die logistische Gleichung, die aus der Chaostheorie bekannt ist, verknüpft die Zahl der Nachkommen in einer Generation mit der Zahl der "Produzenten" der Generation zuvor, allerdings nicht linear, sondern mit einem Korrekturfaktor, der die Erschöpfung der Ressourcen durch zu zahlreiche Elterntiere wiedergibt. Die Lösungen dieser Gleichung zeigen bizarres Verhalten. Bei kleinen Wachstums-raten stabilisiert sich die Bevölkerung allmählich, bei größeren oszilliert sie zwischen zwei Werten, und bei noch größeren Werten springt die Zahl der Individuen von Generation zu Generation erratisch hin und her. Robert May war einer der ersten Biologen, welche die Bedeutung dieser Gleichung für ihr Fach erkannten. Seine Modelle wurden an Beobachtungen der Populationen des kanadischen Luchses und des Schneehasen eindrucksvoll bestätigt (Spektrum der Wissenschaft 02/1984, S. 46).

Doch für wen ist das Buch eigentlich geschrieben? Es ist kein Lehnstuhlbuch, das einem den Zauber der Wissenschaft mühelos und auf ästhetische Weise näher brächte. Es verlangt Konzentration, manche Essays sind von Vorlesungsmitschriften kaum zu unterscheiden, und Bilder gibt es keine. Vielleicht hat Graham Farmelo an Studierende gedacht, an Lehrende und an solche Leute wie mich, die vor Jahren mit Begeisterung Physik studiert haben. Sehr viel davon ist inzwischen vergessen, nicht aber die Faszination an sich, dass es tatsächlich möglich ist, mit einzeiligen Gleichungen ganze Gedankengebäude zu errichten. Und hier werden auf dem Silbertablett ein paar der schönsten serviert.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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