Steinzeitliche Felskunst: Jäger, Schamanen, Künstler
Über den Ursprung der menschlichen Kunst in der Steinzeit informiert eine Wanderausstellung. Sie zeigt unter anderem die ältesten "Bilder" der Menschheitsgeschichte.
Die sind in Höhlen, auf Felswänden, auf Findlingen und auf flachen Felsoberflächen zu finden: Darstellungen von Menschen und Tieren, ausgeführt von unbekannten steinzeitlichen Künstlern. Die angewandten Herstellungstechniken sind so vielfältig wie die gezeigten Motive und die Kulturkreise, in denen sie entstanden. Mal wurden die Bilder mit den Fingern oder mit Pinseln aus den Schwanzhaaren kleiner Tiere gemalt, mal wurde die Farbe durch ein Röhrchen geblasen oder einfach aufgespuckt. Andere prähistorische Künstler nutzten Steinhämmer oder -messer, um die Symbole in glatte Felsoberflächen zu meißeln oder zu ritzen.
Was dem modernen Betrachter wie eine primitive Kritzelei erscheinen mag, wurde vor Jahrtausenden mit hoher Präzision gefertigt. Vor allem der einzigartige Symbolgehalt der Bilder ist für die Forschung von großer Bedeutung. Anders als Steinwerkzeuge oder Reste von Wohnstätten, die den Archäologen Rückschlüsse auf die handwerklichen Fertigkeiten und das Umfeld früherer Kulturen erlauben, liefern die Felsmalereien nämlich auch Einblicke in die Vorstellungswelt unserer Vorfahren. Während manche Bilder Szenen aus dem Alltag oder von der Jagd darstellen, zeigen viele offenbar religiöse Riten und Zeremonien.
Zahlreiche Malereien und Ritzungen sind gewiss auch während der Durchführung von Ritualen entstanden – dies ergibt sich allein schon aus der Besonderheit mancher Fundorte und aus der großen Anzahl der Bilder. Die Felsritzungen in Alta (Nordnorwegen) zum Beispiel bedecken ein Areal von mehreren tausend Quadratmetern. Die ältesten Gravuren dort entstanden vor mehr als 6000 Jahren; die jüngsten sind etwa 2500 Jahre alt. Etwa 200 Generationen haben also an dieser Stelle Figuren und Szenen in den Fels geritzt. Aus den Veränderungen, die im Laufe der Zeit an den Motiven und deren Komposition auftraten, können Wissenschaftler darauf schließen, wie sich die Weltanschauung der dort lebenden Völker gewandelt hat.
Die ältesten bekannten Felsmalereien entstanden vor ungefähr 30000 Jahren, in einer Zeit, als der moderne Mensch den Neandertaler in Europa verdrängte. Die künstlerische Tätigkeit kam also relativ spät in der Entwicklung des Menschen auf. Der Neandertaler und andere Frühmenschen haben sicherlich ebenfalls über hoch entwickelte geistige, soziale und handwerkliche Fähigkeiten verfügt. Das symbolische und kreative Denken, wie es für die darstellende und abstrakte Kunst erforderlich ist, scheint aber ein Merkmal des modernen Menschen, des Homo sapiens sapiens,zu sein.
Irgendwann vor einigen zehntausend Jahren muss das menschliche Gehirn einen gewaltigen Evolutionssprung vollzogen haben, der eine neue Fähigkeit mit sich brachte, die man als gedankliche Beweglichkeit bezeichnen kann. Der moderne Mensch vermochte damit die Denkweisen und Wissensbereiche, die bei seinen Vorläufern noch klar getrennt waren, frei zu integrieren und zu kombinieren. Dies gab ihm die Möglichkeit, sich in Metaphern und Analogien auszudrücken, was die Grundlage für Religion, Kunst und schließlich auch Wissenschaft bildete. Diese bemerkenswerte kulturelle Weiterentwicklung ist eng mit der Ausbreitung des modernen Menschen über alle Teile der Welt und mit dem Aussterben anderer Menschentypen verbunden.
Über die geistigen Entwicklungsschritte des Menschen, wie sie sich in den jahrtausendealten Felsmalereien widerspiegeln, informiert die Ausstellung "Mensch: Jäger, Schamane, Künstler", die zur Zeit in St. Pölten (Niederösterreich) und anschließend auch in anderen Städten Europas zu sehen ist. Einige der weltweit zu findenden prähistorischen Felsbilder sind in großen Dioramen nachgebildet: Chauvet und Lascaux (Frankreich), Alta (Norwegen), Huashan (China), Kakadu (Australien), Great Gallery (USA) und Drakensberg (Südafrika). Interaktive Spiele und Medienstationen ermöglichen es den Besuchern, die Entwicklungslinie vom Steinzeit- zum heutigen Menschen nachzuzeichnen. Ergänzt wird die kulturhistorische Ausstellung durch Originalexponate wie Kultfiguren, Trommeln, Jagdwerkzeuge und Kleidungsstücke von Schamanen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2001, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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