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Jules Verne - ein verkannter Visionär

Die Entdeckung eines lange verschollenen Romans des Science-fiction-Begründers erinnert an einen von ihm wenig bekannten Wesenszug: Besorgnis über die Gefahren der Technisierung in einer fortschrittseuphorischen Epoche.

Frappierend, wie vertraut diese hi- storische Phantasiewelt nun ist – glänzende Wolkenkratzer aus Glas und Stahl, Hochgeschwindigkeitszüge, gasgetriebene Automobile, Rechenmaschinen, Fax-Geräte und ein globales Kommunikationsnetz. Fast ein Jahrhundert nach seinem Tode vermag der Begründer der Science-fiction-Literatur, der französische Schriftsteller Jules Verne (1828 bis 1905), noch einmal mit einem neuen Roman zu fesseln.

Das Manuskript von "Paris im 20. Jahrhundert" war bereits 1863 entstanden; es lag jedoch lange Zeit in einem verschlossenen Safe, den man für leer hielt. Erst 1989 hat Vernes Urenkel es entdeckt und kürzlich veröffentlicht (das französische Original erschien 1994 im Pariser Verlag Hachette, die deutsche Übersetzung im September letzten Jahres im Paul Zsolnay-Verlag, Wien).

Dieses Werk ist ein neuerlicher Beleg für die technologische Weitsicht des Autors, der zahllose Zeitgenossen mit imaginären innovativen Konstruktionen wie U-Booten, Helikoptern und sogar Raumschiffen verblüffte; doch zeichnet es ein recht ungewohntes Bild von ihm selbst, der gemeinhin als begeisterter Verfechter des wissenschaftlichen Fortschritts gilt. "Paris im 20. Jahrhundert" beschreibt das tragische Ringen eines idealistischen jungen Mannes um Glück in einem unbarmherzig materialistischen Dystopia, zu dem die französische Hauptstadt sich bis 1960 entwickelt hat. Vernes Roman ist – ähnlich wie der freilich erst 1949 verfaßte "1984" des Engländers George Orwell (1903 bis 1950) – die düstere Beschreibung einer Zukunft, in der Verlust an Menschlichkeit der Preis für den bedenkenlosen Einsatz perfektionierter Technik ist.

Dies mag manchen überraschen, der Verne als optimistischen Schilderer ingeniöser Errungenschaften einschätzt, wie seine von Dampfern und Eisenbahnen, Telegraph und Rohrpost, Nitroglycerin und Kathodenstrahlen faszinierte Epoche sie erträumte. Viele andere halten ihn lediglich für einen Jugendbuchautor, der zwar durchweg spannende, aber eher intellektuell seichte Geschichten schrieb. Derartige Fehleinschätzungen, durch teilweise extrem gekürzte Übersetzungen und insbesondere durch versimpelnde Adaptionen für Hollywoods Filmindustrie begünstigt, verschleiern nach wie vor sein wahres Leben und Werk.

Es wäre wiederum verfehlt, in Verne einen verkappten Wissenschaftler oder Ingenieur zu sehen. Er war einfach ein Schriftsteller – allerdings mit mehr als 60 zu Lebzeiten veröffentlichten Büchern ein äußerst produktiver. Er hatte zunächst Opernlibretti und Theaterstücke verfaßt, bevor er ab 1863 mit seinen utopischen Abenteuer- und Entdeckerromanen bekannt wurde. Wohl hatten bereits andere Autoren Erzählungen mit wissenschaftlichen Inhalten angereichert; doch keiner hatte es verstanden, das der Forschung vielleicht Mögliche und technische Details so kunstvoll wie Verne in eine spannende Handlung einzuarbeiten. Dieser Stil dominiert bis heute das Genre der Science-fiction und inspirierte seinerzeit Erfinder und Entdecker wie den amerikanischen Zoologen William Beebe (1877 bis 1962), der dann 1934 mit seiner selbstkonstruierten Bathysphäre Tauchgänge bis in 923 Meter Tiefe unternahm, und dessen Landsmann Richard Byrd (1888 bis 1957), der angeblich 1926 den Nordpol und nachweislich 1929 den Südpol überflog, später Pioniere wie Jurij Gagarin (1934 bis 1968), den ersten Menschen im Weltraum, und Neil Armstrong, den ersten Astronauten, der seinen Fuß auf einen anderen Himmelskörper setzte.

Doch dies ist eben nur eine Facette. Verne stand den Verheißungen der Wissenschaft durchaus nicht unkritisch gegenüber, wie sich in seinen ersten Werken, außer Theaterstücken auch Essays und Kurzgeschichten, erkennen läßt. Sein allgemein bekanntes literarisches Konzept – rasante Abenteuergeschichten, die von einer optimistischen Ideologie geprägt sind und zudem noch anschaulich wissenschaftliche Erkenntnisse oder Erwartungen vermitteln – geht wohl hauptsächlich auf strikte Vorgaben seines Verlegers Pierre-Jules Hetzel zurück, der darin die größten Chancen für einen Markterfolg sah. Obwohl dies Vernes persönlichen Überzeugungen im Grunde widersprach, wehrte er sich allerdings nicht ernsthaft dagegen.

Im Jahre 1863 erschien "Fünf Wochen im Ballon", der Eröffnungsband einer Buchreihe unter dem Titel "Außergewöhnliche Reisen: Reisen in bekannte und unbekannte Welten". Verne hatte damals eine Teilzeitstelle an der Pariser Börse inne. Von den Kollegen dort soll er sich mit den Worten verabschiedet haben: "Meine Freunde, ich sage euch allen adieu, ... ich habe gerade eine neue Art von Roman veröffentlicht. ... Wenn er erfolgreich sein sollte, wird dies eine Goldgrube sein."

Tatsächlich machte ihn das Buch mit einem Schlage weltberühmt; und unter Hetzels beständiger Anleitung veröffentlichte er einen lukrativen Roman nach dem anderen, allesamt Variationen des einmal bewährten Grundmusters. Doch nach dem Tode Hetzels im Jahre 1886 wandte sich Verne wieder Themen zu, die ihn eigentlich beschäftigten: Umweltbewußtsein, Antikapitalismus und soziale Verantwortung. Deutlich wurde dabei seine Skepsis, ob Forschung und Erfindergeist die unvollkommene Welt wirklich voranbringen würden.

Um zu verstehen, warum auch Vernes spätere Werke gar nicht zu seinem Image eines unerschütterlichen Verfechters des Fortschritts passen, muß man sich denn doch intensiver mit diesem Mann und seiner Zeit auseinandersetzen.


Literarische Ambitionen

Jules Gabriel Verne wurde am 8. Februar 1828 in der aufstrebenden französischen Handelsstadt Nantes geboren. Mit 20 Jahren schickte ihn seine Familie nach Paris auf die Universität; er sollte wie der Vater Jurist werden. Aber obwohl Jules pflichtbewußt das Studium absolvierte, verfolgte er gänzlich andere Ziele: Von Anfang an fühlte er sich zu den Pariser Literatenkreisen hingezogen; er träumte gar davon, wie sein Freund und Mentor Alexandre Dumas père (1802 bis 1870), der eine Juristenlaufbahn aufgegeben hatte undmit romantischen Schauspielen und historischen Abenteuerromanen wie "Die drei Musketiere" brillierte, ein gefeierter Schriftsteller zu werden. Eine Karriere als Rechtsanwalt schlug er schließlich aus und begann, Gedichte und Schauspiele zu schreiben.

Sein Stück "Les pailles rompues" ("Die geknickten Strohhalme") wurde 1850 an dem von Dumas geleiteten Théâtre Historique erfolgreich aufgeführt, und 1852 erhielt Verne eine Sekretärstelle am Théâtre Lyrique. Der ehrgeizige junge Dramatiker verdiente sich noch zusätzlich etwas Geld mit Kurzgeschichten über wissenschaftliche und historische Themen, die in einem populären Magazin erschienen. Um sich die erforderlichen Hintergrundinformationen zu beschaffen, vertiefte sich Verne in der Bibliothek in Lehrbücher, Fachzeitschriften und Zeitungen. Schon früh faszinierte ihn der Gedanke, Literatur und solche Fakten in einer Epik neuen Stils – Wissenschaftsroman, wie er sie nannte – zu verknüpfen. In der Erzähltechnik orientierte er sich an spannungsreichen Romanen wie "Ivanhoe" von dem Schotten Sir Walter Scott (1771 bis 1832), "Lederstrumpf" von dem Amerikaner James Fenimore Cooper (1789 bis 1851) und "Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym" von dessen Landsmann Edgar Allan Poe (1809 bis 1849), in der Entwicklung von Inhalten an den neuesten Experimenten, Entdeckungen und Erkenntnissen seiner Zeit.

In der damaligen Phase eines rapiden technologischen und industriellen Aufschwungs trafen derartige Geschichten genau den Geschmack vieler Menschen. Die Öffentlichkeit in Frankreich nahm regen Anteil an den Leistungen der Wissenschaftler und Ingenieure sowie an den Expeditionen wagemutiger Forschungsreisender; als Pioniere der Erkenntnissuche galten sie geradezu als Volkshelden. Zudem war an den französischen öffentlichen Schulen, stark beeinflußt von der katholischen Kirche, der naturkundliche Unterricht seit langem vernachlässigt worden; um so mehr schätzte man lehrhafte Themen, zumal wenn sie in Schilderungen phantastischer Abenteuer in einer durchaus zu erwartenden nahen Zukunft eingebettet waren.

Anhand von "Fünf Wochen im Ballon" läßt sich auch die Entstehungsgeschichte vieler folgender Romane nachvollziehen. Verne trug nicht nur umfangreiches Quellenmaterial zusammen, sondern diskutierte seine Ideen mit Freunden und Verwandten – besonders häufig mit seinem Cousin Henri Garcet, einem Mathematiker, und mit Jacques Arago (1790 bis 1855), der an einer dreijährigen Forschungsreise in die Südsee teilgenommen und darüber die Bücher "Promenaden um die Welt" und "Reise um die Welt" geschrieben hatte. Vernes großes Interesse an der Luftfahrt ging auf intensive Kontakte zu dem Schriftsteller und Karikaturisten Gaspard Félix Tournachon (1820 bis 1910) zurück, seinerzeit in Paris und auch der Nachwelt besser bekannt unter dem Pseudonym Nadar. Dieser Pionier der Photographie und draufgängerische Ballonfahrer, Mitglied der "Gesellschaft zur Förderung von Luftreisen mit Schwerer-als-Luft-Fahrzeugen", vermittelte Verne viel Fachwissen. In Nadars Freundeskreis wiederum traf er unter anderen den Physiker Jacques Babinet (1794 bis 1872), der das erste Gerät zur Messung der Luftfeuchtigkeit entwickelte und schon früh die Wellentheorie des Lichtes vertrat, und Gabriel La Landelle, einen Ingenieur, dessen Hubschrauber-Entwurf Verne in einem späteren Werk für die Beschreibung einer Flugmaschine verwendete.

Des weiteren ließ er sich von aktuellen Ereignissen inspirieren. In den Jahren um 1860 waren in Frankreich Geschichten über tatsächliche oder fiktive Ballonreisen sehr beliebt. Ebenso begierig verfolgte man die nahezu täglichen Zeitungsberichte über exotische Regionen insbesondere in dem noch geheimnisumwitterten Inneren Schwarzafrikas, das Europäer damals erkundeten. Dies alles war zweifellos idealer Stoff für Vernes Konzept seines ersten Romans, in dem er die Protagonisten Dr. Samuel Fergusson, Richard Kennedy und Joe Wilson bei einem Ballonflug über den afrikanischen Kontinent immer neue Abenteuer bestehen ließ.

Kurz nach Fertigstellung des Manuskripts im Jahre 1862 traf Verne durch Zufall Hetzel. Spontan bot er es dem Verleger unter dem etwas verschämten Titel "Eine Luftreise" an, obwohl er, zutiefst enttäuscht von der Absage eines anderen Verlags, das Werk eigentlich vernichten wollte. Hetzel jedoch nahm es an, so daß einige Wochen nach diesem Treffen die fruchtbare Zusammenarbeit begann, die fast ein Vierteljahrhundert andauerte.

Vernes Erzählungen erschienen zunächst in Hetzels neuem "Magazine d'Éducation et de Récréation" ("Zeitschrift für Erziehung und Erholung"). Den Erfolg dieser in Paris rasch weitverbreiteten Publikation suchte bald darauf in Großbritannien "The Boy's Own Paper" zu wiederholen, und so wurde Verne hauptsächlich durch diese ersten, eilig für Jugendliche verfertigten und schlampigen Übersetzungen im englischsprachigen Ausland bekannt. Die meisten dieser grob vereinfachten Versionen, die vor allem die sensationell wirkenden Passagen zusammenfaßten und die wissenschaftlichen Aspekte fast gänzlich ausließen, sind bis heute nicht durch werkgetreue ersetzt worden.


Der erfolgreiche Schriftsteller

Angeregt durch das zunehmende Interesse der Öffentlichkeit an Geologie, Paläontologie und den widerstreitenden Evolutionstheorien (Charles Darwins Werk über die Ursprünge der Arten war 1859 erschienen), schrieb Verne 1864 "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde". Erzähler ist der Protagonist Axel, und der Roman hält die epische Balance zwischen dessen fast poetischen Schilderungen eines Abstiegs in eine untergründige prähistorische Welt und den akribisch genau referierten wissenschaftlichen Beobachtungen seines Onkels, Professor Lidenbrock. Die innige Vermischung von vorgeblichen und wirklichen Fakten mit einer erfundenen Handlung war fortan Vernes Erzählstrategie; so brach er auch mit der literarischen Tradition, Fiktion als solche kenntlich zu machen.

Ein Jahr später erschien "Von der Erde zum Mond". Indem Verne damals bereits bekannte physikalische Gesetzmäßigkeiten korrekt auf ein solches Unterfangen übertrug, gelangen ihm erstaunlich treffsichere Vorwegnahmen künftiger Realität. Beispielsweise wählte er als Startplatz eine Stelle, die nahe dem heutigen Raketenzentrum Cape Canaveral in Florida liegt, und er nannte den richtigen Wert für die Fluchtgeschwindigkeit zur Überwindung der Erdanziehung. Im nächsten Roman, "Reise um den Mond", beschrieb er die Effekte der Schwerelosigkeit ebenso realistisch wie den feurigen Wiedereintritt des Raumflugkörpers in die Erdatmosphäre und die Wasserung im Pazifik. Zufall oder nicht – Apollo 11 ging 1969 mit dem Piloten Michael Collins und den ersten beiden Mondbesuchern Neil A. Armstrong und Edwin E. Aldrin nur fünf Kilometer von dem Punkt entfernt nieder, den Verne ein Jahrhundert zuvor für seine Lunauten ausgesucht hatte (Bild 2).

Manche dieser Übereinstimmungen mögen sich selbst erfüllende Prophezeiungen sein; schließlich gehörten zahlreiche Pioniere der Raumfahrt zu Vernes Lesern, darunter Konstantin Ziolkowskij (1857 bis 1935), der grundlegende Beiträge zu Triebwerken und Treibstoffen von Raketen erarbeitete, und Hermann Oberth (1894 bis 1989), der bereits 1923 die wesentlichen Elemente heutiger Großraketen beschrieb. Möglicherweise hätte sich die moderne Raumfahrt ohne Vernes Visionen weniger rasch entwickelt. Und weil der sich an Naturgesetzen orientierende Autor über die gleichen techni-schen Probleme gründlich nachdachte, welche die Ingenieure des 20. Jahrhunderts zu bewältigen hatten, sollte auch nicht überraschen, daß seine Lösungsvorschläge den späteren realen Konstruktionen ähneln.

Doch wie erklären sich die offenkundigen sachlichen Irrtümer in Vernes Werken? Der größte Unsinn in "Von der Erde zum Mond" ist die Verwendung einer Kanone als Startvorrichtung für das Raumschiff anstelle einer Rakete. Aber eine Vielzahl kritischer Anmerkungen läßt erkennen, daß Verne sich sehr wohl bewußt war, daß eine solche Abschußtechnik gar nicht hätte funktionieren können. Unter Berücksichtigung der äußerst primitiven Raketentechnik seiner Zeit vermutete er wahrscheinlich, daß seine Leser eher ein riesiges Geschütz plausibel finden würden; denn im Weltall ließ er das Raumschiff dann doch mittels Hilfsraketen steuern. Vielleicht konnte er auch nicht der Verlockung widerstehen, den durch den amerikanischen Bürgerkrieg (1861 bis 1865) angeheizten Konkurrenzkampf der dortigen Rüstungsfirmen ein wenig lächerlich zu machen – zumindest ziehen sich entsprechende ironische Andeutungen durch beide Mondreise-Romane.

Ohnehin waren Vernes Utopien immer auch von seinen aktuellen Lebensumständen beeinflußt. Das zeigt sich insbesondere in "20000 Meilen unter dem Meer". Er begann daran zu arbeiten, als er auf seiner 1868 gekauften Yacht gemächlich die Somme hinab- und an der französischen Atlantikküste entlangschipperte – und er verfaßte damit den weltweit ersten Roman, der Erkenntnisse der Ozeanographie zum Thema hat.

Das Vehikel dieser Unterwasser-Saga, die "Nautilus", benannte Verne nach dem U-Boot, das der amerikanische Ingenieur Robert Fulton (1765 bis 1815) im Jahre 1800 in Paris tatsächlich konstruiert hatte. Über die Persönlichkeitsmerkmale des Kapitäns Nemo freilich konnten sich der Autor und sein Verleger lange Zeit nicht einigen: Verne wollte ihn als Polen mit unversöhnlichem Haß auf den russischen Zaren darstellen – eine deutliche Anspielung auf die blutige Niederschlagung der polnischen Freiheitsbewegung fünf Jahre zuvor. Hetzel mochte dem nicht zustimmen; er befürchtete diplomatische Verwicklungen und ein Verbot des Buches in Rußland, einem lukrativen Markt für Vernes Werke, und schlug vor, Nemo solle ein erbitterter Feind des Sklavenhandels sein, was eine ideologische Rechtfertigung seiner gnadenlosen Angriffe auf bestimmte Schiffe ergäbe.

Ihr Kompromiß war, daß der Kapitän zu einem nicht näher definierten Verfechter der Freiheit und Rächer der Unterdrückten wurde. Deshalb blieben seine wahren Motive für den Leser rätselhaft. In einem Versuch, Nemos Charakter etwas klarer zu definieren, machten die Produzenten der Verfilmung von 1954 Waffenfabrikanten zum Ziel seiner Rache (ein Stummfilm nach diesem Stoff war bereits 1916 gedreht worden).

Vernes größter finanzieller Erfolg wurde "In 80 Tagen um die Welt". Anders als seine utopischen Erzählungen baute er diesen Roman von 1872 ausschließlich auf tatsächlich existierender Verkehrstechnik auf. Ideen für die Transportmittel seiner Helden entnahm er den unterschiedlichsten Quellen – ein Reisebericht, der nach der Eröffnung des Suezkanals (1869) erschienen war, gehörte ebenso dazu wie Werbebroschüren der ersten, 1845 von dem Englän-der Thomas Cook (1808 bis 1892) in Leicester gegründeten Reiseagentur. Zudem griff Verne den Gedanken aus der Kurzgeschichte "Drei Sonntage in einer Woche" von Poe auf, daß jemand, der die Erde in östlicher Richtung umrundet, beim Überschreiten der internationalen Datumsgrenze einen Kalendertag gewinnt.

Die Beschreibung einer bis dahin als unvorstellbar schnell angesehenen Reise des unerschütterlichen Briten Phileas Fogg und seines cleveren Butlers Passepartout erschien zunächst als Fortsetzungsroman in einer Pariser Zeitung, was ihre Auflage zeitweilig verdreifachte. Das Buch, das einige Wochen später herauskam, wurde in Frankreich und im Ausland Bestseller. Vernes Ruhm steigerte noch, daß alsbald bekannte Persönlichkeiten unter großem Medienrummel versuchten, die Erde in weniger als 80 Tagen zu umrunden – Elizabeth Cochrane (1867 bis 1922), unter dem Pseudonym Nellie Bly Reporterin der New Yorker Zeitung "World", schaffte es 1889 tatsächlich in 72 Tagen, 6 Stunden, 11 Minuten und 14 Sekunden. Später unternahmen auch der französische Avantgarde-Künstler Jean Cocteau (1889 bis 1963) und der amerikanische Humorist Sidney J. Perlman (1904 bis 1979), der am Drehbuch des 1956 gedrehten Spielfilms mitschrieb, solche Eiltrips um den Globus.

Aus einer Reihe weiterer Werke, ebenfalls nach dem Erfolgsrezept verfaßt, sticht eines von 1879 als eher untypisch hervor: "Die fünfhundert Millionen der Begum" erinnert an Vernes frühe kritische Einstellung gegenüber dem technischen Fortschritt, die dann nach Hetzels Tod wieder durchgängig prägend wurde. Die beiden stark typisierten Hauptfiguren sind der Franzose Dr. Sarrasin und der Deutsche Herr Schultze; jedem fällt aus einer Erbschaft eine enorme Geldsumme zu mit der Auflage, in der Wildnis Nordamerikas eine ideale Stadt zu erbauen. Während Verne den Franzosen ein friedvolles Utopia konzipieren ließ, entwickelte er den Deutschen zu seiner ersten dämonischen Figur: Herr Schultze widmet sich in einem festungsgleichen Fabrikkomplex der Produktion hochentwickelter Waffensysteme (Bild 4), um die schwächeren Elemente der Gesellschaft auszumerzen und den Aufstieg einer neuen herrschenden Rasse – gleichsam des bald darauf von Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) propagierten Übermenschen – voranzutreiben. Diese Charakterisierung war sicherlich durch den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 mitbestimmt; doch Verne nahm damit auch etwas vorweg, was sich ein halbes Jahrhundert später mit der nationalsozialistischen Diktatur Bahn brach.

"Die fünfhundert Millionen der Begum" zeigen im Vergleich zu seinen vorherigen Romanen einen deutlichen Sinneswandel Vernes. Zum erstenmal sprach er unmißverständlich aus, daß technologisch gestützte Macht korrumpieren und Wissen von skrupellosen Menschen mißbraucht werden kann.

Das Interesse des französischen Publikums blieb allerdings bemerkenswert gering. Bis dahin waren von den meisten Werken Vernes gleich nach Erscheinen zwischen 35000 und 50000 Exemplare (von "In 80 Tagen um die Welt" sogar 108000) verkauft worden, hingegen stockte der Absatz von "Die fünfhundert Millionen der Begum" bei etwa der Hälfte davon. Eine fortschrittskritische Einstellung scheint der Stammleserschaft unerwünscht gewesen zu sein. Doch trotz des finanziellen Risikos griff Verne nun vielfach Themen wie Moral und soziale Verantwortung auf. Die wenigen noch wissenschaftlich orientierten Akteure seiner Romane stellte er zumeist als größenwahnsinnig dar.

Verne suchte zudem auf Umweltsünden und soziale Mißstände seiner Zeit aufmerksam zu machen, so in "Die Propeller-Insel" (auch unter dem Titel "Insel der Millionäre" erschienen), wo er die Dezimierung polynesischer Populationen und damit den Untergang ihrer Kulturen durch Seuchen anprangerte, die Missionare und Verwalter eingeschleppt hatten (Bild 3). In "Die Eissphinx" warnte er vor der bevorstehenden Ausrottung der Wale (Bild 1); und schon damals wandte er sich in "Das Testament eines Exzentrikers" gegen die von der Ölindustrie verursachten Verschmutzungen sowie 1901 in "Das Dorf in den Lüften" gegen das Abschlachten von Elefanten des Elfenbeins wegen.

Dieser Wandel kommt wohl am deutlichsten in den Fortsetzungen früherer Romane zum Ausdruck. In "Kein Durcheinander" (auch erschienen als "Der Schuß am Kilimandscharo"), dem Abschlußband der Triologie, zu der auch "Von der Erde zum Mond" und "Reise zum Mond" gehören, begnügen sich die Protagonisten nicht mehr mit Raumfahrt-Abenteuern, sondern fassen den aberwitzigen Plan, den Neigungswinkel der Erdachse durch das Abfeuern einer Riesenkanone zu verändern: So wollen sie die polaren Eiskappen zum Schmelzen bringen, um an die Rohstoffe darunter zu gelangen. Ihre Hybris und Verantwortungslosigkeit macht sie zu schreckenerregenden Karikaturen ihrer Zuversicht erweckenden Vorgänger.


Vom Mensch zum Mythos

Trotz verschiedenen Belastungen wie dem Tod seines geliebten Bruders, gelegentlichen familiären Streitigkeiten und schwindender Gesundheit schrieb Verne bis zum Ende seines Lebens zwei bis drei Romane jährlich. Doch diese Spätwerke waren wenig erfolgreich – von "Die Propeller-Insel" und "Die Eissphinx" beispielsweise wurden in Frankreich jeweils weniger als 10000 Exemplare verkauft, von einigen seiner letzten Bücher wie "Der stolze Orinoco", "Die Brüder Kip", "Reisestipendien" und "Der Einbruch des Meeres" noch nicht einmal die Erstauflagen von 4000 bis 5000 Exemplaren. Die Ernennung zum Offizier der Ehrenlegion 1892 hatte keinen sonderlichen Popularitätsschub mehr bewirkt.

Wenige Wochen nach seinem 77. Geburtstag erkrankte Verne schwer; mehrere fast fertige Manuskripte blieben unvollendet. Bis zuletzt bei klarem Bewußtsein, starb er am 24. März 1905 im Beisein seiner Frau Honorine und der übrigen Angehörigen. Auf seinem Grab in der Nähe seines Hauses in Amiens, wohin die Familie 1872 gezogen war, errichtete man zwei Jahre später ein Denkmal; es zeigt einen auferstehenden Verne, den rechten Arm nach den Sternen ausgestreckt.

Die amerikanische Zeitschrift "Amazing Stories" (Bild 5) – die erste, die ausschließlich wissenschaftlich geprägte Abenteuergeschichten veröffentlichte – wählte das Motiv einundzwanzig Jahre später als Logo. Um diese Art von Erzählungen treffender zu charakterisieren, prägte der Verleger Hugo Gernsback den Begriff scientifiction, aus dem schließlich science fiction wurde. Doch ohnedies hatte sich schon längst das stark simplifizierte Bild Jules Vernes als eines optimistischen Technologie-Utopisten in vielen Ländern verfestigt.

Literaturhinweise

- Jules Verne. Von Volker Dehs. Rowohlt, Reinbek 1986.

– Jules Verne Rediscovered. Von Arthur B. Evans. Greenwood Press, 1988.

– Jules Verne's Journey to the Centre of the Self. Von William Butcher. St. Martin's Press, 1991.

– Science Fiction before 1900. Von Paul K. Alkon. Twayne, 1994.

– The Jules Verne Encyclopedia. Von Brian Taves und Stephen Michaluk. Scarecrow Press, 1996.

– Jules Verne: An Exploratory Biography. Von Herbert Lottmann. St. Martin's Press, 1997


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1997, Seite 88
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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