Kalenderwurm und Perlenpost. Biologen entschlüsseln ungeschriebene Botschaften.
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1998. 220 Seiten, DM 68,–.
Methodenstrenge heißt nicht Methodenenge, Fachdisziplin nicht Fachblindheit. Die vorliegende Neuerscheinung kann diese These stützen. Vielleicht fühlten sich die beiden Autoren bereits durch ihre breit angelegte Ausbildung zur Grenzüberschreitung ermuntert. Wolfgang Wickler kombinierte im Studium Biologie und Musik, Uta Seibt Biologie und Physik. Beide sind am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen tätig. Sie haben es gewagt, offene Fragen aus Archäologie, Ethnologie, Kunst- und Kulturgeschichte als Fachfremde aus biologischer Sicht anzugehen. Gelingen konnte das nur durch die Wahl geeigneter Objekte. Sie reichen aus prähistorischen Epochen bis zur Zeit Wolframs von Eschenbach und stammen im wesentlichen aus europäischen, afrikanischen und amerikanischen Kulturen.
Zu deren Deutung bringen die Autoren Artenkenntnis und ethologisches Verständnis ein. Die Ergebnisse sind verblüffend und neu auch für Experten. Die doppelköpfige „Zackenschlange“, eine Schmuckform auf Grabbeigaben altperuanischer Küstenvölker, erweist sich als mariner Borstenwurm. Ihre periodisch auftretenden Fortpflanzungsschwärme prädestinierten sie einst zum „Kalenderwurm“, der trotz mannigfacher künstlerischer Abwandlungen in den Grundzügen seiner natürlichen Gestalt massenhaft und unverkennbar in Stickereien und auf Tongefäßen erscheint.
Die von den Autoren angewandte Methode leistet mehr als die korrekte biologische Identifizierung naturalistischer Ornamente. So liefert die bizarre Welt der gotischen Architekturplastik – besonders eindrucksvoll in den Wasserspeiern der Kathedralen – den Autoren Stoff zur Diskussion des Dämonenglaubens. Zwar gelingt hierbei kein befriedigender Abschluß wie in den übrigen Kapiteln des Buches; das ist jedoch bei der außerordentlichen Komplexität des Themas entschuldbar. Die Interpretation von Kunstwerken gerade unter diesem Aspekt ist nicht bloß von akademischem Interesse.
Vielmehr vermag sie immerhin einige der Mechanismen zu enthüllen, die zur Verteufelung von Mitmenschen führen können. Vor allem sozio-sexuelle Signale, Phallus-Symbole und weibliche Attribute, durchziehen selbst weit auseinanderliegende Felder kulturellen Schaffens von der afrikanischen Stammeskunst bis zur mittelalterlichen Kathedrale. Ihre Wurzeln liegen im Tierreich, ihre Wirkung ist ungebrochen.
Bei der Analyse ornamentaler Schnitzereien auf altamerikanischen Spinnwirteln gehen Wickler und Seibt noch einen Schritt weiter. Über die Identifizierung der natürlichen Vorbilder hinaus gelingt es ihnen, hinter den Fabelwesen einen Symbolgehalt aufzuspüren. Die dem Tierreich entlehnten Schmuckformen erweisen sich demnach durchweg als Ideogramme. Mit dem Zitieren dieser wenigen Kapitel aus dem materialreichen und glänzend illustrierten Werk muß es sein Bewenden haben. Mindestens ebenso wichtig wie die von den Autoren vorgetragenen Fallbeispiele sind ihre Reflexionen über die Tragfähigkeit der angewandten Methode. Die scheinbare Beliebigkeit der Symbolsprache schreckt ja allzuoft zumindest Naturwissenschaftler davor ab, sich unvoreingenommen mit ihr zu beschäftigen. Nun „mischen sich“ aber im Verhalten des Menschen „genetisches und kulturelles Erbe“ so sehr,
daß „sich nicht alle Bedeutungen und Differenzierungen völlig willkürlich wählen“ lassen. Im Zuge der „Semantisierung menschlicher Signale und Symbole“ sind „manche Verknüpfungen bereits biologisch vorgebahnt“. Sie bestimmen die „Grenzen der Beliebigkeit“ (Kapitelüberschrift).
Der Ablauf „naturkonformer Semantisierung“ wird anhand von drei Beispielen vorgeführt: weibliche Brust, Farbbevorzugung und Augensymbol. Sobald die Zuordnung von Bedeutung und Zeichen einmal getroffen ist, kann sie nicht mehr geändert werden ohne das Risiko, nicht mehr verständlich zu sein. Das Pelikanmotiv der christlichen Kunst dient als Beleg.
Die Entwicklung der Schrift aber löste viele der alten Bedeutungsträger ab. Verliebte Zulumädchen versendeten einst ihre Botschaften mittels natürlicher Farben von Pflanzen und Tieren in Form einer „Perlenpost“. Das Medium ist geblieben. Nur sind mittlerweile die Farben durch Buchstaben ersetzt. Die Autoren haben diese Signale unter bereitwilliger Mithilfe von Zulufrauen entschlüsselt und zugleich an diesem Beispiel den Übergang von der schriftlosen Kultur
zur modernen Zivilisation dokumentiert (siehe „Liebesbriefe in Farben“, Spektrum der Wissenschaft, September 1990, S. 124).
Scheinbar einander widersprechende und dem Naturwissenschaftler eher fernliegende Themen sind in diesem Werk vereint. Dank klar festgelegter Blickrichtung und sicherer Beherrschung fachfremder Methoden mißrät der Text nicht zu unverbindlichem Geplauder, sondern präsentiert nachprüfbare „Thesen zur natürlichen und kulturellen Evolution tierischer und menschlicher Signale“. Die unkonventionelle Art, wie hier Wissenschaft betrieben wird, findet im reichen Ertrag ihre Rechtfertigung. Die Studie bildet keinen Abschluß, sondern regt an, über Fakultätsgrenzen hinaus neue Fragen zu formulieren.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1999, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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