Kaonen spüren den Zeitpfeil
Unabhängig voneinander haben Experimentalphysiker am Cern und am Fermilab erstmals direkt nachgewiesen, daß die schwache Wechselwirkung eine Zeitrichtung bevorzugt.
Daß sich die Zeit in der makroskopischen Welt nicht umkehren läßt, ist nicht nur eine – manchmal betrübliche – Alltagserfahrung, sondern auch in den Naturgesetzen begründet. Wäre es anders, könnte die sogenannte Entropie (ein Maß für die Unordnung) abnehmen – und das widerspräche dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Prozesse, die rückwärts in der Zeit ablaufen, gibt es deshalb nur im Film, nicht aber im wirklichen Leben.
Ganz anders im Reich der kleinsten Teilchen. Die Quantenfeldtheorien der theoretischen Physik, die das Verhalten elementarer Materie präzise beschreiben, gelten im allgemeinen gleichermaßen für "normale" wie zeitgespiegelte Vorgänge. Drei der vier fundamentalen Naturkräfte – elektromagnetische und starke Wechselwirkung sowie die Gravitation – respektieren außerdem zwei weitere grundlegende Symmetrien: Nicht nur bei Zeitumkehr (T-Operation), sondern auch bei Raumspiegelung (Paritätstransformation, P) und Vertauschen von Teilchen mit Antiteilchen (Ladungskonjugation, C-Operation) bleiben die experimentellen Ergebnisse unverändert.
Die vierte Naturkraft, die schwache Wechselwirkung, aber tanzt aus der Reihe. Daß sie einen Unterschied zwischen Teilchen und ihrem Spiegelbild machen sollte, hatten schon 1956 Tsung D. Lee und Chen Yang in einer aufsehenerregenden Publikation postuliert. Die beiden Theoretiker erklärten damit unterschiedliche Zerfallsarten geladener K-Mesonen oder Kaonen. Diese Teilchen haben annähernd die tausendfache Masse des Elektrons und existieren nur für weniger als 10-7 Sekunden.
Den eindeutigen Nachweis, daß die schwache Wechselwirkung vom Drehsinn (Spin) der Partikel abhängt und damit die Parität verletzt, erbrachte schon ein Jahr später eine Gruppe um die chinesisch-amerikanische Wissenschaftlerin Chien Shi-ung Wu. Sie zeigte, daß beim Beta-Zerfall radioaktiver Kobalt-Isotope mit orientiertem Spin die entstehenden Elektronen nicht gleichmäßig nach allen Seiten, sondern bevorzugt in einer Richtung ausgesandt werden.
Doch damit nicht genug: Im Jahre 1964 entdeckten James Cronin und Val Fitch anhand von Zerfällen neutraler Kaonen, daß die schwache Wechselwirkung außer der Parität auch die CP-Symmetrie verletzt, bei der zusätzlich zur Raumspiegelung Teilchen und Antiteilchen vertauscht werden. Nun gilt aber in sämtlichen gängigen Quantenfeldtheorien, daß Prozes-se grundsätzlich unverändert bleiben, wenn alle drei Symmetrieoperationen (CPT) gleichzeitig ausgeführt werden. Aus einer CP-Verletzung folgt damit bereits indirekt auch eine Abhängigkeit von der Zeitrichtung.
Die Beobachtung weiterer Zerfälle, die gegen die CP-Invarianz verstoßen, erhärtete diese Schlußfolgerung. Dennoch fehlte bislang der direkte Nachweis, daß die schwache Wechselwirkung gegenüber der Zeitrichtung empfindlich ist. Experimentelle Gruppen am amerikanischen Fermilab und am europäischen Teilchenphysik-Forschungszentrum Cern konnten diese Lücke nun schließen. Für ihre Untersuchungen nutzten sie die besonderen Eigenschaften neutraler Kaonen: Obwohl diese sich von ihren Antiteilchen unterscheiden lassen, können beide Partikelarten durch Oszillationen, die von der schwachen Wechselwirkung hervorgerufen werden, ineinander übergehen, so daß aus einem reinen Kaon-Zustand im Laufe der Zeit eine Mischung (Überlagerung) aus Kaon- und Antikaon-Zuständen wird und umgekehrt. Diese bereits 1961 entdeckten Oszillationen sind inzwischen sehr präzise untersucht und in allen Details verstanden.
Im Moment des Zerfalls muß sich das Teilchen dann quasi für einen der beiden Zustände entscheiden. Wie oft es als Kaon oder Antikaon zerfällt, hängt vom Anteil der beiden Teilchensorten in der Überlagerung ab.
Aus diesen Zusammenhängen hat die Gruppe am Cern eine elegante Methode zur Messung des Zeitpfeils entwickelt. Sie erzeugte neutrale Kaonen und Antikaonen und untersuchte, wieviele davon bis zu ihrem Zerfall durch Oszillationen in das zugehörige Antiteilchen übergegangen waren. Falls die Zeitumkehrinvarianz gilt, müßten genauso viele Kaonen zu Antikaonen geworden sein wie umgekehrt; denn die Verwandlung eines Teilchens in sein Antiteilchen und die Verwandlung des Antiteilchens in das Teilchen sind zeitgespiegelte Prozesse: der eine ist jeweils die Umkehrung des anderen.
Für ihre Untersuchung ließ die CERN-Gruppe im Zentrum des CPLEAR-Detektors Protonen (Wasserstoffkerne) mit Antiprotonen aus dem Low Energy Antiproton Ring (LEAR) kollidieren. Bei dem Zusammenstoß entsteht mit gleicher Wahrscheinlichkeit entweder ein neutrales Kaon oder das entsprechende Antikaon. Beide Teilchen lassen sich, da sie keine Ladung tragen, nicht direkt nachweisen. Welches davon erzeugt wurde, ist aber an den anderen Kollisionsprodukten zu erkennen: Ein neutrales Kaon wird von einem negativen Kaon und einem positiven Pion begleitet, ein Antikaon dagegen von einem positiven Kaon und einem negativen Pion.
Wie gesagt, haben die zunächst erzeugten Teilchen bis zu ihrem Zerfall genug Zeit, in das jeweilige Antiteilchen überzugehen. Ob dieser Übergang stattgefunden hat, läßt sich wiederum anhand der Partikel ablesen, die beim Zerfall entstehen: Im Fall eines Antikaons wird ein Elektron ausgesandt, bei einem Kaon dagegen ein Positron (Bild).
Am CPLEAR-Detektor wurden mehr als 1,3 Millionen Ereignisse registriert, bei denen neutrale Kaonen entstanden und zerfielen. Die Auswertung ergab, daß die Umwandlung eines Antikaons in ein Kaon um 0,66 Prozent wahrscheinlicher ist als der umgekehrte Prozeß. So geringfügig diese Asymmetrie ist, beweist sie doch eindeutig, daß die Zeitumkehrinvarianz im System neutraler Kaonen nicht gilt.
Zum entsprechenden Ergebnis gelangte die Gruppe am Fermilab bei Chicago mit einer anderen, unabhängigen Methode, die allerdings nicht so unmittelbar einsichtig ist. Die US-Wissenschaftler fischten mit dem sogenannten KTeV-Detektor aus insgesamt 130 Millionen Kaonen-Zerfällen 1800 seltene Ereignisse heraus, bei denen jeweils ein positives und ein negatives Pion im Verein mit einem Elektron-Positron-Paar entstand. Falls es auf die Zeitrichtung nicht ankäme, sollte die Verteilung der Winkel zwischen den beiden Ebenen, die jeweils das Pionen- und das Elektron-Positron-Paar einschließen, symmetrisch sein. Wie die Gruppe herausfand, ist das jedoch nicht der Fall.
Damit ist der Bruch der T-Invarianz nun zweifelsfrei erwiesen. Allerdings bleibt es von großem Interesse, die Verletzung der T- und CP-Symmetrie durch die schwache Wechselwirkung außer bei Kaonen auch in anderen physikalischen Systemen zu testen. Experimente dazu sind an der Hadron-Elektron-Ring-Anlage Hera-B beim DESY in Hamburg sowie in Japan und in den USA in Vorbereitung (siehe "Asymmetrie von Materie und Antimaterie", Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1998, Seite 90). Dabei werden B-Mesonen untersucht, die zehnmal massereicher und deutlich kurzlebiger als Kaonen sind. Das macht diese neue Generation von Experimenten sehr aufwendig und schwierig. Dafür aber erhofft man sich Antworten auf die Frage nach den tieferen Ursachen der Symmetrieverletzungen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1999, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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