Karrieremuster. Wissenschaftlerporträts
Der Philosoph Guntolf Herzberg und der Wissenschaftstheoretiker Klaus Meier haben Wissenschaftler aus der ehemaligen DDR interviewt und das Material zu 13 Kurzbiographien in Ich-Form zusammengestellt. Es ergeben sich lebendige Einblicke in die Situation und das Verhalten von Wissenschaftlern unter den Bedingungen der SED-Diktatur. Unter den Porträtierten (Bild Seite 128) sind sechs Mitglieder der SED, eines der CDU, mindestens ein Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), aber auch zwei prominente Vertreter der Bürgerrechtsbewegung.
Die in den Interviews angesprochenen Fragen und vor allem die Antworten sind so vielfältig, daß mir eine auch nur annähernd ausgewogene Kommentierung unmöglich scheint. Statt dessen möchte ich ein Stichwort herausgreifen, das ich für besonders diskussionswürdig halte: "Reisekader".
Es bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung, wie wichtig internationale Kontakte für Wissenschaftler sind. Weil normale DDR-Bürger unterhalb des Rentenalters – von "dringenden Familienangelegenheiten" abgesehen – nicht in den Westen reisen durften, war die Erlaubnis, dienstlich in das "nichtsozialistische Ausland" zu reisen, bereits ein Privileg, das den sogenannten Reisekadern unter den DDR-Wissenschaftlern vorbehalten war. Unter den 13 Interviewten sind acht ehemalige Reisekader, und man findet in dem Buch viele aufschlußreiche Äußerungen zu diesem Thema.
Die Kriterien, die man erfüllen mußte, um Reisekader zu werden, konnte man zu DDR-Zeiten nur erahnen. Heute lesen wir im ehemals streng geheimen "Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit" des MfS (herausgegeben vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Reihe A, Nummer 1/93): "Verantwortlich für die Auswahl und Überprüfung von R. sind die jeweils zuständigen staatlichen Leiter. Sie entscheiden auch nach Konsultation mit der zuständigen Dienststelle des MfS über den vorgesehenen Einsatz. Sie sind verantwortlich, daß nur solche Personen als R. bestätigt werden..., die in ihrer bisherigen Tätigkeit bewiesen haben, daß sie treu zur DDR stehen und sich durch einen festen Klassenstandpunkt, durch Charakterfestigkeit, Bescheidenheit, Verschwiegenheit und sozialistische Moral auszeichnen." Somit bestätigt sich einerseits, daß das MfS seine Hände im Spiel hatte, andererseits aber auch, daß der jeweilige Leiter Spielraum hatte, sich für seine Mitarbeiter einzusetzen. Heute wissen wir außerdem, daß viele, aber bei weitem nicht alle Reisekader für das MfS gearbeitet haben.
Traurig finde ich, daß ein solches Privilegiensystem überhaupt durchsetzbar war. Das lag unter anderem sicherlich daran, daß viele Reisekader ihren Status und die damit verbundenen Vorteile nicht wieder verlieren wollten. Zu bedenken ist auch der DDR-spezifische Ausleseprozeß, der mit der Zulassung zur Oberschule und zum Studium sowie der Vergabe von Arbeitsstellen an Universitäten oder der Akademie der Wissenschaften zusammenhing. Der Physiker Hans-Jürgen Fischbeck, der kein Reisekader war, beschreibt, wie er als Mitglied einer kirchlichen Delegation zu einer Auslandsreise kam: "Bischof Forck hatte klargemacht, entweder ,wir reisen alle oder keiner'. Da wäre eine Ablehnung zum Politikum geworden" (Seite 344). Wenn diese Haltung Forcks typisch für prominente DDR-Wissenschaftler gewesen wäre, hätte das Reisekadersystem keine Chance gehabt. Das häufig zu hörende und nicht völlig von der Hand zu weisende Argument, durch die eigenen Auslandsreisen habe man auch den daheimgebliebenen Kollegen – wenngleich indirekt – Zugang zur wissenschaftlichen Welt verschafft, möchte ich im Vergleich zu Forcks Position nicht gelten lassen.
Das Beispiel Reisekader zeigt sehr deutlich, daß das "Menschenrecht auf Anpassung" (so Günter Gaus, von 1974 bis 1980 Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR) weit mehr in Anspruch genommen wird als die Handlungsmöglichkeit nach der Devise "Nehmt euch die Freiheit, sonst kommt sie nie!" (so der 1976 ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann). Das kann man bedauern, es scheint aber in der menschlichen Natur zu liegen. Immerhin sollte man überlegen, welches Verhalten man sich zum Vorbild nimmt. Wenig angepaßt verhalten hat sich zum Beispiel Jens Reich, und er hat damit bewußt seine Karriere aufs Spiel gesetzt.
Das Buch "Karrieremuster" ist jedem zu empfehlen, der sich ein Bild über Wissenschaft und Wissenschaftler in der ehemaligen DDR machen will und bereit ist, Vorurteile zu überdenken.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1994, Seite 127
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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